Das Europa der Literatur - Schriftsteller blicken auf den Kontinent 1815-1945

von: Anne Kraume

Walter de Gruyter GmbH & Co.KG, 2010

ISBN: 9783110232080 , 404 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 189,95 EUR

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Das Europa der Literatur - Schriftsteller blicken auf den Kontinent 1815-1945


 

3 Schiffbruch: José Ortega y Gasset (S. 153-154)

Der Blick von der Insel aus auf Europa implizierte bei Victor Hugo und bei Miguel de Unamuno eine Perspektive, die der doppelten Prägung der Insel als introvertiertem Ort der Kreativität ebenso wie als extrovertiertem Ort der Kommunikation Rechnung trug; bei beiden konnte die Insel nicht zuletzt dadurch als ein Modell für Europa selbst verstanden werden. José Ortega y Gasset nähert sich Europa nun aus einer Perspektive, die den Kontinent vor allem aus einer anderen Relationalität als der der Insel heraus entwirft – einer Relationalität, die er nicht nur in den vielfältigen Beziehungen der europäischen Länder untereinander und in denjenigen der einzelnen Länder zum großen europäischen Ganzen verwirklicht sieht, sondern die auch er selbst in seinen diskursiven Annäherungen an diese europäische Problematik immer wieder bewusst ins Werk setzt.

Ortega ist eine knappe Generation jünger als Miguel de Unamuno, und er ist in den großen spanischen Debatten um die Dekadenz des Landes zu Anfang des 20. Jahrhunderts dessen prominentester Diskussionspartner. Wie Unamuno versteht auch er Europa zunächst vor allem als einen Raum, dessen Wesen sich am besten in seiner besonderen Befähigung zur Wissenschaft ausdrückt; und auch für ihn sind in diesem Zusammenhang die Beziehungen zwischen Spanien und dem Rest des Kontinents von besonderer Bedeutung. Allerdings stellen sich diese Beziehungen jetzt unproblematischer dar als noch bei Unamuno – für Ortega ist Spanien auf eine selbstverständliche Art und Weise integraler Teil von Europa, und insofern sind die spanischen Probleme in seinen Augen immer auch repräsentativ für den ganzen Kontinent. Der Pendelbewegung zwischen Spanien und Europa, die Ortegas Texte auf der inhaltlichen Ebene nachzeichnen, entspricht auf der performativen Ebene dieser Texte eine ähnliche Dynamik: Seine Essays zeichnen sich immer dadurch aus, dass sie zwischen einer rein begriffl ichen und einer eher fi gurativen Annäherung an ihr Thema zu schwanken scheinen. In diesem Kontext eignet sich nun die Metapher vom Schiffbruch, die in Ortegas gesamtem Werk präsent ist, in besonderer Weise dazu, die Bedeutung und die Produktivität dieses Pendelns zwischen Begriff und Figur im Zusammenhang mit der Frage nach Europa aufzuzeigen.

So kann der Schiffbruch, als produktive Krise verstanden, in ein Verhältnis zu Ortegas Verständnis von Europa als einer kulturellen Größe gesetzt werden, die sich gerade in solchen Krisenmomenten ihrer Kreativität und damit der Möglichkeiten ihres Überlebens versichert. Sowohl in der ersten Phase seiner Auseinandersetzung mit Europa (in der er eine engere Verbindung von Spanien und Europa als Lösung für die spanischen Probleme propagiert), als auch in der zweiten (in der er die europäische Einheit als Lösung für die gemeinsamen Probleme des Kontinents fordert) ist es diese Metapher, die seinen Vorschlägen zugrunde liegt und die sie schließlich plausibel macht. In der Folge sollen deshalb zunächst die Implikationen des metaphorischen Sprechens vom Schiffbruch in Ortegas philosophischem Diskurs analysiert werden, um dann vor diesem Hintergrund seine beiden einander ablösenden Interpretationsansätze in Bezug auf die europäische Problematik zu untersuchen. Abschließend gilt es, die Frage nach dem Essay als derjenigen Gattung aufzuwerfen, die mehr als alle anderen zur Erörterung der Frage nach Europa geeignet zu sein scheint – der gemeinsame Nenner zwischen der Form Essay und dem Inhalt Europa ist hier eine gewisse Beweglichkeit und Flexibilität, wie sie ebenfalls in der Metapher vom Schiffbruch zum Ausdruck kommt.