Pathologischer PC- und Internet-Gebrauch - Eine Therapieanleitung

von: Petra Schuhler, Monika Vogelgesang

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2012

ISBN: 9783840922879 , 338 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 42,99 EUR

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Pathologischer PC- und Internet-Gebrauch - Eine Therapieanleitung


 

1.3 Exzessives Surfen

Unter exzessivem Surfen bzw. Surfing (beide Begriffe werden im Folgenden synonym verwendet) wird die ausufernde internetgestützte Suche nach Informationen (über Reiseziele, technische Geräte, Filmund Musiktitel o.Ä.) verstanden, die nicht der unproblematischen Unterhaltung dient oder der Lösung eines Sachproblems und die nicht mehr in einen Lebensalltag zu integrieren ist. Auch das Surfen kann in diesem Fall eine reparative Funktion für Selbstwertund Beziehungsprobleme übernehmen, die im realen Leben nicht mehr adäquat gelöst werden können. In der Regel geht es um das Bedürfnis, einen überschaubaren, kontrollierbaren Erlebnisraum zu schaffen, der im beruhigenden Kontrast zu einer gewöhnlich sehr widersprüchlichen und schwer überschaubaren Realität steht. Klinisch kommt diese Form des pathologischen PC-/InternetGebrauchs relativ selten vor.

Funktionalität des pathologischen Chattens

Chatten als computergestützte Kommunikationsform bietet emotional hoch besetztes Erleben bei gleichzeitig relativ starkem Kontrollerleben. Kommunikation in der realen Welt erscheint dagegen, aversiver, beängstigender und ungleich schwerer zu gestalten. Subjektiv wird jedoch im Chat umso mehr die Attraktivität vermeintlich großer Offenheit, Nähe und Intimität erlebt. Das restriktive Zeichensystem der Kommunikation im Chat begünstigt eine stereotype, idealisierende Selbstdarstellung und Fremdwahrnehmung mit der Folge, dass die oft ohnehin defizitären Kompetenzen der sozialen Interaktionsund Selbstwertregulierungen noch weiter verarmen und eine eventuell vorliegende komorbide psychische Problematik verschärfen.

Kapitel 2 Krankheitsbild

Im Folgenden werden unterschiedliche klinisch relevante Erklärungsmodelle der PC-/InternetPathologie skizziert. Daran schließt sich die Erörterung des Krankheitsbilds an, das dem hier beschriebenen diagnostischen und therapeutischen Vorgehen, zugrunde liegt.

2.1 Störungsmodelle

Dazu zählen das Suchtkonzept, das die spezifische Pathologie als eine Form der „Verhaltenssucht“ (Grüsser & Thalemann, 2006; Mücken et al., 2010; Möller, 2012) versteht, sowie Ansätze, die die PC-/ Internet-Pathologie als sekundäres Begleitsymptom einer primär bestehenden psychischen Erkrankung wie der depressiven oder Angststörung erklärt (Kratzer, 2006) und das Konzept Petrys (2010), der entwicklungspsychologische und bindungstheoretische Perspektiven auf biopsychosozialer Grundlage eröffnet. In der angloamerikanischen Literatur (Caplan, 2003; Davis, 2001; Widyanto & Griffiths, 2006; Young, 1999; Young & Abren, 2010) finden sich sowohl Arbeiten, die das Problem als Suchterkrankung auffassen als auch solche, die eine Internetpathologie oder Internetproblematik annehmen, die nicht als Abhängigkeitserkrankung verstanden werden sollte.

Das Verhaltenssucht-Modell. In Deutschland wird das PC-/Internet-Problem im alltäglichen Sprachgebrauch oft als eine Art Sucht verstanden, denn plausiblerweise liegt es nahe, auch dieses Verhalten, das den Betroffenen eindeutig schädigt, aber dennoch nicht unterlassen wird, so wie andere Verhaltensexzesse zu benennen, die schaden, aber dennoch aufrechterhalten werden: Man denke nur an den geläufigen Begriff der Arbeitssucht, Harmonieoder Verschwendungssucht und nicht zuletzt der Eifersucht. Auch in der Selbsthilfebewegung (Farke, 2011) wird von „PC-Sucht“ oder „InternetAbhängigkeit“ gesprochen. Die ausführliche Berichterstattung in Presse, Funk und Fernsehen verwendet darüber hinaus stets Wörter wie „Internet-, Onlineoder Computersucht“. Nur zwei Zitate seien genannt: „Weit mehr als eine halbe Million Menschen können als internetabhängig bezeichnet werden“ (ARD, Tagesschau am 26. 09. 2011). „560.000 Deutsche sind internetsüchtig“ (Die Welt, 27.09.2011). In Fachkreisen war die Arbeit von Young (1998) zur „Internetsucht“ der Startschuss zur Untersuchung von „Mediensucht“ oder „PCAbhängigkeit“ (Block, 2008; Grüsser & Thalemann, 2006; Mücken et al., 2010; Möller, 2012).

Das Konzept der PC-/Internet-Pathologie als „Verhaltenssucht“ verbindet die deskriptiven Diagnosekriterien der stoffgebundenen Abhängigkeit des ICD-10 gemäß dem organischen Krankheitsmodell des Alkoholismus nach Jellinek (1960) mit Annahmen der modernen Hirnforschung (Spitzer, 2006), sowie mit dem einfachen Reiz-Reaktions-Modell konditionierter Prozesse in der klassischen Lerntheorie. Vor diesem Hintergrund wird das Medium PC/Internet als „Droge“ verstanden, die einen emotionalen Konditionierungsprozess auslöse, der über das dopaminerge Belohnungssystems des Gehirns erfolge und wie bei stoffgebunden Süchten zu einer „Dosissteigerung“, einem „Kontrollverlust“ und beim Einstellen des Verhaltensmusters zu „Entzugserscheinungen“ führen soll. Dabei stellt sich zunächst die Frage, warum nicht solche Suchtmodelle herangezogen werden, die den aktuell gültigen Forschungsstand zur Sucht im Rahmen eines biopsychosozialen Krankheitsverständnis widerspiegeln (Feuerlein, 1986; Vogelgesang & Schuhler, 2010), wenn die PC-/Internet-Pathologie als Suchterkrankung verstanden werden soll. Schon deshalb stellt die Übertragung des rein organischen Krankheitsmodells stofflicher Süchte auf die PC-/Internet-Pathologie einen überdehnten Analogieschluss dar, der aber darüber hinaus wichtige Fragen offen lässt, die Petry (2010) diskutiert. Die Probleme, die sich mit dem Verhaltenssuchtkonzept für die nosologische Einordnung des pathologischen PC-/Internet-Gebrauchs ergeben, werden im nächsten Kapitel erörtert.

Modell der sekundären Begleitsymptomatik. Dabei wird von der Annahme ausgegangen, dass es sich bei dem pathologischen PC-/Internet-Gebrauch um eine Begleitsymptomatik psychischer Störungen wie einer depressiven oder Angststörung handele im Sinn einer maladaptiven Bewältigungsstrategie, die sich in der Folge der Grunderkrankung entwickelt habe (Kratzer, 2006) und die diese teufelskreisartig weiter verfestige. Pies (2009) diskutiert ebenfalls, ob es sich bei der PC-/Internet-Pathologie um eine Begleitsymptomatik einer anderen psychischen Störung handele oder um eine eigenständige Störung. Neue empirische Ergebnisse geben jedoch Aufschluss darüber, dass der pathologische PC-/Internet-Gebrauch als eigenständige Erkrankung aufzufassen ist und nicht als dysfunktionale Copingstrategie im Rahmen einer primären anderen psychischen Störung (Schuhler et al., 2012). Psychosoziale, biologische und entwicklungspsychologische Einflussfaktoren. Der Ansatz von Petry (2010) berücksichtigt die komplexen psychosozialen und biologischen Zusammenhänge bei der Entstehung und Aufrechterhaltung der PCInternet-Pathologie. Darüber hinaus werden entwicklungspsychologische Theorien zur Bedeutung des Spielens und bindungstheoretische Erkenntnisse herangezogen. Petry kommt zu dem Schluss, dass es sich um eine eigenständige entwicklungspsychopathologische Störung des zwischenmenschlichen Beziehungsverhaltens handele, die im ICD-10 Glossar unter „Persönlichkeitsund Verhaltensstörungen“ (F 68.8) einzuordnen sei (s. Kapitel 3.5).

Konpensationsansatz. Young und Abren (2010) diskutieren verschiedene ätiologische Modelle der „Internet Addiction“. Neben dem Verständnis des Problems als „Verhaltenssucht“ bzw. als dem Resultat neuropsychologischer Prozesse oder als Effekt situationaler Faktoren im Sinn kritischer Lebensereignisse wird der sog. Kompensationsansatz umrissen. Unter einem individuellen Kompensationsversuch als Wirkfaktor der Problematik wird der nicht bewusst gesuchte Ausgleich von Selbstwertdefiziten und sozial-interaktiven Problemen in der Internetaktivität verstanden. Dieses Verständnis ist unserem Ansatz verwandt, der jedoch darüber hinaus die spezifische dichotome Ausprägung intrapsychischer und sozial-interaktiver Funktionen in der realen vs. der virtuellen Welt in den Blick nimmt.

Diese Modellvorstellung entspricht dem im folgenden Abschnitt erläuterten Krankheitsbild, das dem hier dargestellten diagnostischen und therapeutischen Vorgehen zugrunde liegt.

2.2 Beschreibung des Krankheitsbildes

In den folgenden Abschnitten wird ein Krankheitsbild beschrieben, das den pathologischen PC-/ Internet-Gebrauch im Zusammenhang sieht mit weitgehenden psychischen und sozial-interaktiven Defiziten und belasteten Sozialisationsund Entwicklungsbedingungen in Verbindung mit gravierenden Problemen im Arbeitsbezug und oft auch im Alltagshandeln. Die pathogene Dynamik der PC-/Internet-Aktivitäten wird begründet mit überwertigem Immersionsund Flow-Erleben und vor allem mit der reparativen Funktion für Probleme, Kränkungen oder Zuweisungen im realen Kontext. Anschließend werden die diagnostischen Merkmale erörtert. Im Mittelpunkt steht die Dichotomie intrapsychischer und interpersoneller Funktionen im Erleben der PC-/Internet-Aktivität einerseits und realer Bezüge andererseits hinsichtlich des Selbsterlebens, der Affektregulation, der sozialen Interaktionsfähigkeit und der Handlungsmotivation. Im Anschluss werden differenzialdiagnostische Einordnungen diskutiert.

Nach unserer klinischen Erfahrung sind vor allem junge männliche Erwachsene betroffen, bei denen in aller Regel schwierige familiäre Sozialisationsund Entwicklungsbedingungen festzustellen sind. Alle pathologischen PC-/Internet-Gebrauchsformen können beträchtliche psychomentale und sozialinteraktive Funktionsdefizite bedingen, die in der Folge zu weitgehenden beruflichen Leistungseinschränkungen führen, wie etwa Einbußen im Initiativund Ausdauervermögen, in der Frustrationstoleranz, in der sozialen Kompetenz oder der Anstrengungsbereitschaft, was bei den Betroffenen gravierende Probleme im Alltag und am Arbeitplatz auslöst.

Herr F., ein World-of-Warcraft-Spieler trägt vorzugsweise einen rosa Pullover mit Pitbullemblem, er hat zwei Ausbildungen abgebrochen, sein 2-jähriger Sohn wird vorwiegend von seiner Frau betreut. Am Arbeitsplatz kommt es immer wieder zu großen Problemen mit dem Chef. Der Patient fühlt sich rasch herabgewürdigt und gekränkt. Ein Kritikpunkt ist seine Langsamkeit bei der Arbeit. Im World-of-Warcraft-Spiel aber, da „war ich sehr schnell, da habe ich Anerkennung gefunden. Da wurde ich bewundert für meine Schnelligkeit. Damit habe ich den Sieg errungen, oft und oft. Ich will immer sehr viel, sehr schnell erreichen. Im Spiel gelingt mir das auch. Und da kommt mir der Chef damit, dass ich zu langsam sei. Das ist doch lachhaft.“

Aus einer unproblematischen konstruktiven Versunkenheit im Spiel entwickelt sich im pathologischen Fall ein „Verlorensein in der virtuellen Welt“