Blüte der Tage - Roman

von: Nora Roberts

Heyne, 2012

ISBN: 9783641091897 , 496 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Blüte der Tage - Roman


 

ERSTES KAPITEL


Southfield, Michigan, September 2001

 

Sie hatte die Sahnesoße anbrennen lassen. Stella würde sich immer an dieses kleine, ärgerliche Detail erinnern, wie sie sich auch an das Donnergrollen des nahenden Gewitters und an das Gezanke ihrer Kinder, das aus dem Wohnzimmer zu ihr drang, erinnern würde.

Ebenso an den beißenden Geruch, an das jähe Schrillen des Rauchmelders und an ihre mechanischen Handbewegungen, mit denen sie die Pfanne vom Herd genommen und ins Waschbecken gestellt hatte.

Sie war keine begnadete, aber dennoch gute Köchin. Für dieses Willkommensmenü hatte sie »Huhn Alfredo« geplant, eines von Kevins Lieblingsgerichten. Dazu gab es Feldsalat, selbst gemachtes Pesto und frisches, knuspriges Weißbrot.

In der ordentlichen Küche ihres hübschen Vorstadthauses hatte sie all ihre Zutaten bereitgestellt und das Kochbuch mit dem Plastikeinband auf einen Ständer gelegt.

Über der frisch gewaschenen Hose und dem T-Shirt trug sie eine marineblaue Schürze, und die wilden roten Locken waren zu einem Pferdeschwanz gebunden, um sie aus dem Gesicht zu haben.

Eigentlich hatte sie schon eher mit dem Kochen beginnen wollen, doch im Gartencenter, wo sie arbeitete, war die Hölle los gewesen. Sämtliche Herbstblumen waren reduziert worden, und bei dem warmen Wetter waren die Kunden in Scharen herbeigeströmt.

Normalerweise machte ihr das nichts aus. Sie liebte ihre Arbeit als Geschäftsführerin der Gärtnerei. Es tat ihr gut, wieder berufstätig zu sein, inzwischen Vollzeit, da Gavin zur Schule ging und Luke alt genug für eine Spielgruppe war. Kaum zu glauben, dass Gavin bereits ein Schulkind war.

Kevin und sie sollten sich etwas aktiver um ein drittes Kind bemühen. Vielleicht heute Abend, dachte sie lächelnd. Wenn die Willkommensfeier in die letzte und sehr private Phase eintreten würde.

Als sie die Zutaten abwog, hörte sie nebenan ein Krachen und gleich darauf lautes Geheul. Ich muss masochistisch veranlagt sein, dachte sie, während sie alles stehen und liegen ließ und hinausstürmte. Wie kann ich an ein weiteres Baby denken, wenn mich meine zwei Söhne schon fast um den Verstand bringen?

Sie betrat das Wohnzimmer, und da waren sie. Ihre kleinen Engel. Der blonde Gavin saß mit Unschuldsmiene, aber mutwillig funkelnden Augen da und ließ zwei Matchboxautos zusammenstoßen, während Luke, der von ihr den roten Lockenschopf geerbt hatte, brüllend vor seinen verstreut herumliegenden Holzklötzchen stand.

Auch ohne nachzufragen, wusste sie sofort, was geschehen war. Luke hatte gebaut; Gavin hatte zerstört.

Das war in diesem Haus eine Art Gesetzmäßigkeit.

»Gavin. Warum?« Sie hob Luke hoch und klopfte ihm beruhigend auf den Rücken. »Ist gut, Schatz. Du kannst etwas Neues bauen.«

»Will mein Haus! Mein Haus!«

»Es war ein Unfall«, behauptete Gavin, doch das verräterische Funkeln blieb in seinen Augen und hätte Stella fast ein Lachen entlockt. »Das Auto hat es umgefahren.«

»Das glaube ich dir gern – nachdem du mit dem Auto auf das Haus gezielt hast. Warum kannst du nicht brav spielen? Er hat dich doch nicht gestört.«

»Ich habe gespielt. Er ist nur ein Baby.«

»Das ist richtig.« Unter ihrem eindringlichen Blick schlug Gavin die Augen nieder. »Und wenn du dich ebenfalls wie ein Baby benehmen willst, so kannst du das in deinem Zimmer tun. Allein.«

»Es war ein dummes Haus.«

»Nei-hein! Mom.« Luke legte die kleinen Hände um ihr Gesicht und sah sie mit riesigen, von Tränen überfließenden Augen an. »Es war schön.«

»Ich bin mir sicher, du kannst sogar ein noch schöneres bauen. Gut? Gavin, lass ihn in Ruhe. Ich meine es ernst. Ich bin in der Küche beschäftigt, und Daddy kommt bald nach Hause. Oder willst du gleich an Daddys erstem Tag bestraft werden?«

»Nein. Aber ich weiß nicht, was ich spielen soll.«

»Du Armer. Wirklich ein Jammer, dass du keine Spielsachen hast.« Sie setzte Luke ab. »Bau dir ein neues Haus, Luke. Und du ärgerst ihn nicht, Gavin. Wenn ich noch einmal hereinkommen muss, werde ich nicht so freundlich sein.«

»Ich möchte rausgehen!«, maulte Gavin.

»Bei dem Regen geht das nicht. Wir müssen alle drinnen bleiben, also benimm dich.«

Gereizt kehrte sie zu ihrem Kochbuch zurück und versuchte, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Automatisch schaltete sie den Küchenfernseher an. Gott, sie vermisste Kevin. Die Jungen waren den ganzen Nachmittag über quengelig gewesen, und sie fühlte sich erschöpft und ausgelaugt. In den vier Tagen ohne Kevin hatte sie sich wie eine Irre abgestrampelt und sich um das Haus, die Jungen und ihren Job gekümmert.

Wenn Kevin zu Hause war, half er im Haushalt mit, beteiligte sich an der Erziehung ihrer Söhne und spielte mit ihnen. Wäre er jetzt hier, könnte er mit den Jungen spielen – und ihre Streitigkeiten schlichten –, während sie kochte.

Oder besser noch, er würde kochen und sie mit den Jungen spielen.

Sie vermisste seinen Geruch, wenn er hinter sie trat, sich zu ihr hinunterbeugte und seine Wange an ihrer Wange rieb. Sie vermisste es, sich nachts im Bett an ihn zu schmiegen und im Dunkeln über Zukunftspläne zu reden oder über irgendeinen Streich oder eine neue Wortschöpfung der Jungen zu lachen.

Herrgott, mahnte sie sich. Man könnte meinen, er sei vier Jahre und nicht nur vier Tage fort gewesen.

Während sie die Sahnesoße umrührte und aus dem Fenster in das stürmische Treiben hinausblickte, hörte sie mit halbem Ohr zu, wie Gavin seinen Bruder zu überreden versuchte, einen Wolkenkratzer zu bauen, den sie dann beide umwerfen könnten.

Nach seiner Beförderung würde Kevin nicht mehr so häufig unterwegs sein, überlegte sie. Bald, sehr bald. Er hatte hart gearbeitet und stand nun kurz davor. Das zusätzliche Geld könnten sie gut brauchen, vor allem, wenn sie noch ein Kind bekämen – diesmal vielleicht ein Mädchen.

Dank der bevorstehenden Beförderung und ihrem Wiedereinstieg ins Berufsleben könnten sie nächsten Sommer mit den Jungen irgendwohin fahren. Vielleicht nach Disney World. Oh, das würde ihnen gefallen. Selbst wenn sie schwanger wäre, könnten sie das bewerkstelligen. Sie hatte im Lauf der Zeit etwas Geld für die Urlaubskasse gehortet – und auch für die Autokasse, um irgendwann einen neuen Wagen zu kaufen.

Als sie die Jungen nebenan lachen hörte, entspannte sie sich wieder. In Wahrheit hatte sie keinen Grund zur Klage. Ihr Leben war vollkommen, genauso, wie sie es sich immer erträumt hatte. Sie war mit einem wunderbaren Mann verheiratet, in den sie sich gleich bei der ersten Begegnung Hals über Kopf verliebt hatte. Kevin Rothchild mit seinem zögernden, süßen Lächeln.

Sie hatten zwei hübsche Söhne, ein schönes Haus in einer guten Gegend, erfüllende Berufe, gemeinsame Zukunftspläne. Und wenn sie sich liebten, herrschte immer noch dieselbe Leidenschaft wie am Anfang ihrer Beziehung.

Lächelnd malte sie sich seine Reaktion aus, wenn sie heute Abend, sobald die Kinder im Bett wären, in die neue sexy Reizwäsche schlüpfen würde, die sie während seiner Abwesenheit erstanden hatte.

Ein wenig Wein, Kerzenlicht und dann ...

Als nebenan ein neuerliches Krachen ertönte, verdrehte sie die Augen. Diesmal folgte darauf jedoch kein Geheul, sondern begeisterter Jubel.

»Mom! Mom!« Freudestrahlend kam Luke in die Küche gerannt. »Wir haben das ganze Hochhaus umgeschmissen. Kriegen wir Kekse?«

»Nein, nicht so kurz vor dem Abendessen.«

»Bitte, bitte, bitte, bitte

Er zerrte an ihrer Hose, versuchte, an ihrem Bein hochzuklettern. Stella legte den Kochlöffel aus der Hand und schob Luke vom Herd weg. »Keine Kekse vor dem Abendessen, Luke.«

»Wir verhungern!« Gavin stürmte herein, in jeder Hand ein Matchboxauto. »Wieso können wir nicht essen, wenn wir Hunger haben? Warum müssen wir überhaupt das doofe Hühnchen essen?«

»Darum.« Als Kind hatte sie diese Antwort immer gehasst, doch inzwischen hatte sie deren praktischen Nutzen erkannt.

»Wenn dein Vater nach Hause kommt, werden wir alle zusammen essen.« Sie hoffte nur, seine Maschine würde keine Verspätung haben. »Ihr könnt euch einen Apfel teilen.«

Sie holte aus der Obstschüssel auf der Theke einen Apfel heraus und schnappte sich ein Messer.

»Ich mag meinen Apfel geschält«, verlangte Gavin.

»Dazu habe ich jetzt keine Zeit.« Mit energischen Bewegungen rührte sie die Soße um. »Außerdem ist die Schale gesund.«

»Krieg ich was zu trinken?« Luke zerrte erneut an ihrer Hose. »Ich hab Durst.«

»O Gott. Gebt mir fünf Minuten, gut? Fünf Minuten. Geht rüber und baut irgendetwas. Danach könnt ihr geschälte Apfelschnitze und Saft haben.«

Ein tiefes Donnergrollen ertönte, was Gavin zum Anlass nahm, wie wild herumzuhüpfen und zu kreischen: »Erdbeben! Erdbeben!«

»Das ist kein Erdbeben.«

Mit ausgestreckten Armen lief er einmal im Kreis herum und rannte dann unter weiteren »Erdbeben!«-Rufen hinaus.

Luke stürmte ihm nach und schrie gleichfalls: »Erdbeben! Erdbeben!«

Stella presste die Hand an die Schläfen. Der Lärm war kaum auszuhalten, aber zumindest waren die beiden nun beschäftigt, und sie konnte sich wieder um das Essen kümmern.

Sie ging an den Herd zurück und lauschte ohne großes Interesse den Kurznachrichten im Fernsehen.

Die Meldung sickerte durch ihre Kopfschmerzen hindurch. Langsam drehte sie sich zu dem Fernsehgerät um.

»Flugzeugabsturz auf dem Inlandflug von Lansing nach Detroit, Michigan. An Bord waren zehn Passagiere ...«

Der Rührlöffel fiel ihr...