Im Tal des Fuchses - Kriminalroman

von: Charlotte Link

Blanvalet, 2012

ISBN: 9783641079871 , 576 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 10,99 EUR

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Im Tal des Fuchses - Kriminalroman


 

1

Auf der ganzen Fahrt aus dem Norden von Wales hinunter in den Süden hatten sie wieder die lange, entnervende und fruchtlose Diskussion geführt, in die sie sich während der vergangenen Wochen ständig verstrickten. Als sie den Pembrokeshire Coast National Park verließen und Fishguard erreichten, stritten sie sogar richtig. Vielleicht wäre sonst alles ganz anders gekommen. Hätten sie bloß das Thema friedlich zu klären versucht, wäre nur einer von ihnen auf die Idee gekommen zu sagen: »Jetzt lass uns den schönen Tag nicht verderben. Reden wir über etwas anderes. Heute Abend setzen wir uns in Ruhe zusammen, trinken ein Glas Wein und besprechen das alles.«

Aber sie waren aus der Spirale, in der sie sich verfangen hatten, nicht herausgekommen, und alles mündete in eine Tragödie, aber das hatte niemand voraussehen können. Der Streit schwelte seit Langem und ging, wie Vanessa fand, im Grunde um … gar nichts. Matthew, ihr Mann, arbeitete in einer Firma in Swansea, die Computersoftware entwickelte und über viele Jahre extrem erfolgreich gewesen war. In der jüngsten Zeit hatte sich die Situation verschlechtert, die Konkurrenz war stärker geworden, der Markt härter und schneller, und in der Firma wurden Umstrukturierungsmaßnahmen diskutiert, die im Kern darauf hinausliefen, dass man erwog, jüngere Mitarbeiter an anderen Stellen abzuwerben und gegen die eigenen Leute, die sich als nicht mehr wirklich konkurrenzfähig erwiesen, einzutauschen. Matthew war überzeugt – Vanessa bezeichnete es als fixe Idee –, dass man ihn entlassen würde. Zumindest sah er die Möglichkeit. Und da er ein Angebot aus London bekommen hatte, dort in einer anderen Firma einzusteigen, sah er nicht ein, weshalb er der drohenden Gefahr nicht zuvorkommen, kündigen und nach London gehen sollte.

»Weil du dann zum Beispiel keine Abfindung bekommst«, hatte Vanessa entgegengehalten.

»Okay. Aber was nützt mir die Abfindung, wenn die Stelle in London dann besetzt ist und ich arbeitslos bin?«

»Dann findest du etwas anderes!«

»Und wenn nicht?«

Das Problem war natürlich ein anderes, das Problem war London. Vanessa arbeitete als Dozentin für Literatur an der Universität Swansea. Sie sah nicht ein, dass sie ihre Stelle, ihre Studenten, ihr gesamtes Umfeld aufgeben und ihrem Mann nach London folgen sollte, nur weil dieser einer Kündigung zuvorkommen wollte, die bislang ausschließlich in seiner Phantasie existierte.

»Du verhältst dich wie ein Pascha aus dem vorletzten Jahrhundert«, sagte sie wütend. »Du bestimmst, und ich gehe brav mit dir, wo immer du hinmöchtest. Aber so funktionieren Partnerschaften heutzutage nicht mehr. Ich gehe nicht nach London, Matthew. Und wenn du dich auf den Kopf stellst!«

Er seufzte.

»Nach fünfzehn Jahren Swansea«, sagte er, »wäre da eine Veränderung so schlecht?«

»Nein. Aber nicht ausgerechnet jetzt. Und nicht nur, weil es dir gerade in den Kram passt!«

Max, der große, langhaarige Schäferhund, der auf dem Rücksitz lag, hob den Kopf und winselte. Matthew warf einen Blick in den Rückspiegel. »Ich fürchte, Max muss raus. Bis wir daheim sind, hält er nicht durch.«

Vanessa erwiderte nichts. Sie presste die Lippen so fest aufeinander, dass sie zu einem weißen Strich wurden. Kurz entschlossen bog Matthew bei der nächsten Gelegenheit von der Hauptstraße ab und folgte der Landstraße, die sie wieder zum Coast Park hinführte. Der Abend brach herein, die Sonne stand schon tief. Ein warmer, klarer, wunderbarer Augustabend. Rotgoldenes Licht lag über den Feldern ringsum. Sie bemerkten einen einsamen Wanderer, der gerade über ein Weidengatter kletterte, aber ansonsten war keine Menschenseele zu sehen. Der Nationalpark, der sich über viele Meilen direkt am Meer entlangzog, sich aber auch tief ins Landesinnere erstreckte, war ein Touristenmagnet. Im Sommer waren hier ständig Menschen unterwegs, zu Fuß, zu Pferd oder auf dem Mountainbike, dies jedoch vor allem in der Gegend direkt an der Küste. Abseits vom Meer hingegen konnte man stundenlang wandern, manchmal ohne einem anderen Menschen zu begegnen.

Sie kamen an einem kleinen Parkplatz vorbei, der ein Stück unterhalb der Straße lag und einen schönen Ausblick über die Landschaft bot. Es gab einen Picknicktisch mit zwei Bänken und einen Abfallkorb aus Metall. Der Abfallkorb war völlig leer, offenbar kamen selten Menschen hierher.

Matthew hielt an. »Komm«, sagte er, »lass uns ein Stück mit Max laufen. Das wird uns guttun.«

Vanessa schüttelte den Kopf. »Geh du allein. Ich brauche ein bisschen Abstand. Ich möchte nachdenken. Ich warte hier.«

»Sicher?«

»Ja. Sicher.«

Sie stiegen aus. Warme Luft schlug ihnen entgegen. Die Klimaanlage im Wagen hatten sie auf zwanzig Grad gestellt, draußen mussten es noch an die vierundzwanzig Grad sein. Es gab keine einzige Wolke am lichtblauen Himmel. Es war einer jener Sommertage, von denen man den ganzen Winter über träumen konnte.

Weißt du noch, dieser herrliche Augustsonntag? Dieser einsame Rastplatz am Ende der Welt … Nichts als Ruhe und Wärme …

Nein, so würden sie nicht sprechen, dachte Vanessa. Jenen Sonntag würden sie wohl stets nur mit ihrem Streit in Verbindung bringen. Wie auch immer sich die Dinge am Ende entschieden, sie würden sich an eine lange Fahrt von Holyhead hinunter nach Swansea erinnern und daran, dass sie die meiste Zeit über debattiert hatten. Und dass Matthew schließlich allein eine Runde mit Max gedreht hatte, während sie, Vanessa, am Auto blieb, weil sie so zornig auf ihn war, dass sie nicht mitgehen mochte.

Es gab einen Trampelpfad, der zunächst ein kleines Stück in ein Tal hinunterführte, dann jedoch einen scharfen Bogen nach links um den Hügel herum schlug und von dort an vom Parkplatz aus nicht mehr zu sehen war. Vanessa blickte Matthew und Max nach, wie sie um die Ecke verschwanden; Max, der sich noch ein paar Mal unruhig nach seinem Frauchen umgesehen hatte, schließlich in großen Sprüngen vorneweg, Matthew langsamer hinterher. An Matthews sehr geraden Schultern konnte sie ablesen, wie verärgert auch er noch war. Klar, er fühlte sich unverstanden. Brachte aber selbst keinerlei Verständnis auf. Wahrscheinlich würde er nun ziemlich lange mit dem Hund unterwegs sein. Matthew brauchte immer Bewegung, wenn er Stress hatte, meistens kam er dann aber viel gelöster und ausgeglichener zurück.

Sie schlenderte langsam vom Auto zu dem Picknicktisch hinüber, setzte sich auf die Bank, deren Holz warm war von der Sonne. Das Abendlicht war so sanft, dass es nicht mehr blendete. Sie blickte über das flache Tal, das weit war, wellig und sehr grün. Eine Steinmauer zog sich an seiner Nordseite entlang, dann schloss sich eine kleine Baumgruppe an. Ansonsten gab es nur flache Ginsterbüsche, die jetzt von einem etwas verstaubten Grün waren. Im April, wenn sie blühten, musste die Gegend wie überschwemmt sein von gelben Farbklecksen.

Wie schön es hier war! Vanessa überlegte, dass sie viel öfter hierherkommen sollten. Die einzelnen Gebiete des Nationalparks lagen gar nicht so weit von Swansea entfernt, aber sie konnte es an einer Hand abzählen, wie oft sie und Matthew in den vergangenen fünfzehn Jahren den Weg dorthin gefunden hatten. Und dann hatte es sie immer an die Küste zum Schwimmen gezogen. Vielleicht sollten sie für den Herbst ein Wanderwochenende planen. Auch Max würde sich freuen, er ging so gerne spazieren. Na ja, vielleicht bereiteten sie da auch schon ihren Umzug nach London vor.

London.

Ich will nicht weg von allem, was ich kenne, dachte sie, und ich will auch keine Wochenendbeziehung, Matthew in London und ich in Swansea … Das ist nicht das, was ich mir vorgestellt habe …

Gleichzeitig fragte sie sich, ob dieses Festhalten am Vertrauten die richtige Einstellung war für eine siebenunddreißigjährige Frau. Musste man in ihrem Alter nicht noch beweglicher sein? Flexibler? Erlebnishungriger?

Neugieriger?

Sie war so sehr in ihre Gedanken vertieft, dass sie kaum merkte, wie die Zeit verstrich. Zwei- oder dreimal hörte sie ein Auto oben auf der Landstraße vorbeifahren, sonst blieb alles ruhig. Gerade als sie endlich auf die Uhr schaute und feststellte, dass Matthew und Max nun schon seit fast zwanzig Minuten fort waren, hörte sie erneut ein Auto kommen. Es wurde langsamer, als es die Höhe des Rastplatzes erreicht hatte, beschleunigte dann, bremste jedoch ein Stück weiter schon wieder ab. Vanessa wandte sich um, sah aber nichts. Eine mit Hecken bewachsene kleine Anhöhe trennte den Rastplatz von der Straße, erst wenn ein Auto um eine weitere Biegung gefahren war, konnte man es von hier aus sehen. In diesem Moment tauchte es auf. Ein weißer Kastenwagen mit irgendeiner Aufschrift an der Seite, die sie aber auf diese Entfernung nicht lesen konnte. Vanessa erkannte, dass der Wagen sehr langsam fuhr. Jetzt wendete der Fahrer mitten auf der Straße und kam wieder zurück. Er verließ Vanessas Sichtfeld, aber sie hörte ihn noch immer. Der Wagen schien am Rastplatz geradezu vorüberzuschleichen, beschleunigte dann. Bremste wieder. Vanessa runzelte die Stirn. Wendete er erneut? Wieso fuhr dieses Auto dort oben ständig auf und ab? Und handelte es sich um dasselbe Fahrzeug, das sie schon vorher einige Male gehört, aber nicht weiter beachtet hatte? Sie hörte es schon wieder näher kommen, langsamer werden. Diesmal jedoch bog es offenbar auf den Parkplatz ein. Vanessa drehte sich wieder um, konnte aber nichts sehen. Sie hörte, dass eine...