Im Traum bin ich bei dir - Roman

Im Traum bin ich bei dir - Roman

von: Nicholas Sparks

Heyne, 2022

ISBN: 9783641293338 , 400 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 9,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Im Traum bin ich bei dir - Roman


 

1

Darf ich mich vorstellen: Mein Name ist Colby Mills, ich bin fünfundzwanzig Jahre alt und sitze an einem wunderschönen Samstag Mitte Mai auf einem Klappstrandstuhl am St. Pete Beach in Florida. In der Kühlbox neben mir liegen Bier und Wasser auf Eis, und die Temperatur ist nahezu perfekt durch die stetige Brise, die zudem noch stark genug ist, um die Moskitos fernzuhalten. Vom Pool des Don CeSar Hotels hinter mir, einem stattlichen Bau und einer Art rosa Version des Taj Mahal, weht Musik heran. Der Künstler, der gerade auftritt, ist nur okay; hin und wieder vermurkst er einen Akkord, aber ich bezweifle, dass sich jemand daran stört. Seit ich hier sitze, habe ich mehrmals einen Blick auf den Poolbereich geworfen und festgestellt, dass die meisten Gäste schon den gesamten Nachmittag Cocktails schlürfen, was bedeutet, dass ihnen wahrscheinlich so ungefähr alles gefallen würde.

Übrigens bin ich nicht von hier. Bis vor Kurzem hatte ich von diesem Ort noch nie gehört. Wenn die Leute zu Hause mich fragten, wo dieses St. Pete Beach denn liege, erklärte ich, es sei ein Städtchen an der Westküste Floridas, nicht weit von St. Petersburg und Clearwater, was allerdings auch nicht sonderlich weiterhalf. Für die meisten von ihnen steht Florida für Frauen in Bikinis an den Stränden von Miami und für die Freizeitparks in Orlando, und der Rest interessiert sie eigentlich nicht. Offen gestanden war für mich Florida früher einfach nur ein seltsam geformter Zipfel an der Ostküste der USA.

Das Beste an St. Pete Beach selbst ist ein fantastischer weißer Sandstrand, der schönste, den ich je gesehen habe. Direkt am Wasser befindet sich ein Mix aus schicken Hotels und weniger schicken Motels, aber der Großteil der Stadtteile scheint mir typisch Mittelschicht, bevölkert von Rentnern und Arbeitern, neben Familien, die hier günstig Urlaub machen. Es gibt die üblichen Fast-Food-Ketten und Einkaufsmeilen und Fitnessstudios und Krimskrams-Läden, aber trotz dieser sichtbaren Zeichen von Modernität wirkt die Stadt, als sei sie irgendwie in Vergessenheit geraten.

Dennoch muss ich zugeben, dass es mir hier gefällt. Streng genommen bin ich zum Arbeiten hier, aber in Wirklichkeit ist es mehr Urlaub. Drei Wochen lang trete ich viermal pro Woche in Bobby T’s Beach Bar auf, immer nur ein paar Stunden, was bedeutet, dass ich viel Zeit habe, um joggen zu gehen und in der Sonne zu sitzen und darüber hinaus einfach überhaupt nichts zu machen. An solch ein Leben könnte man sich gewöhnen. Die Gäste im Bobby T’s sind wohlwollend – und ja, trinkfreudig wie im Don CeSar –, und es gibt nichts Besseres, als vor einem dankbaren Publikum zu stehen. Vor allem, da ich im Grunde ein Nobody aus einem anderen Staat bin, der mehr oder weniger zwei Monate vor seinem Schulabschluss seinen letzten richtigen Auftritt hatte. In den letzten sieben Jahren habe ich zwar immer mal wieder bei Partys von Freunden oder Bekannten gespielt, aber das war es dann auch schon. Heutzutage betrachte ich die Musik als Hobby, wenn auch eines mit hohem Stellenwert. Nichts genieße ich mehr, als einen Tag lang Songs zu proben oder zu schreiben, auch wenn mir das richtige Leben kaum Zeit dafür lässt.

In den bisherigen zehn Tagen hier passierte allerdings etwas Seltsames. Die beiden ersten Konzerte waren so gut besucht, wie es offenbar im Bobby T’s zu erwarten ist. Es war ungefähr die Hälfte der Plätze besetzt, die Leute tranken Bier oder Cocktails, wollten den Sonnenuntergang genießen, sich dabei unterhalten und im Hintergrund Musik hören. Beim dritten Mal blieb jedoch schon kein Stuhl mehr frei, und ich erkannte Gesichter von den vorherigen Auftritten wieder. Als ich zum vierten Mal auf die Bühne stieg, waren nicht nur alle Sitzplätze belegt, sondern ein paar Leute nahmen in Kauf zu stehen, um mich zu hören. Kaum jemand beachtete den Sonnenuntergang, und es wurden sogar einige meiner eigenen Lieder gewünscht. Dass sich jemand Strandbar-Klassiker wie Summer of 69 oder American Pie oder Brown-eyed Girl wünscht, ist normal – aber von mir geschriebene Songs? Gestern Abend dann drängte sich das Publikum bis auf den Strand hinaus, Stühle wurden aus anderen Bars geschnorrt und die Lautsprecher so eingestellt, dass jeder mich hören konnte. Während des Aufbauens ging ich noch davon aus, es läge daran, dass Freitagabend war, aber der Agent, Ray, versicherte mir, das sei alles andere als die Norm. Im Gegenteil, sagte er, so viele Zuschauer habe er im Bobby T’s noch nie erlebt.

Darüber hätte ich mich freuen sollen, und das habe ich auch, zumindest ein bisschen. Trotzdem will ich es nicht überbewerten. In einer Strandbar angeheiterte Urlauber während der Happy Hour zu bespaßen, ist eine völlig andere Nummer, als im ganzen Land in ausverkauften Stadien zu spielen. Vor Jahren war es, wenn ich ganz offen bin, mein Traum, »entdeckt« zu werden; das geht vermutlich jedem so, der gern auf der Bühne steht. Dieser Traum verflüchtigte sich leider in der Realität nach und nach. Ich bin deshalb nicht verbittert. Die rationale Seite in mir weiß, dass das, was man will, mit dem, was man bekommt, in der Regel ziemlich wenig zu tun hat. Außerdem muss ich in zehn Tagen wieder nach Hause fahren und mein altes Leben weiterführen.

Das soll nicht negativ klingen. Mein echtes Leben ist nicht schlecht. In meinem Beruf bin ich sogar richtig gut, auch wenn die langen Arbeitstage einen isolieren können. Ich habe noch nie das Land verlassen, habe noch nie ein Flugzeug bestiegen und bekomme nur vage mit, was sonst passiert, hauptsächlich, weil Nachrichtensprecher mich zu Tode langweilen. Was in unserem Land oder auf der Welt so los ist – die Themen von großer politischer Bedeutung bekomme ich kaum mit. Auch wenn der ein oder andere daran Anstoß nehmen wird, gehe ich nicht einmal wählen, und den Nachnamen des Gouverneurs weiß ich nur, weil ich einmal in einer Bar namens Cooper’s in Carteret County aufgetreten bin, unweit der Küste North Carolinas, ungefähr eine Stunde von mir zu Hause entfernt.

Was das betrifft …

Ich wohne in Washington, einer Kleinstadt am Ufer des Pamlico River im östlichen North Carolina, die viele entweder Little Washington nennen oder Das originale Washington, damit es nicht mit unserer Hauptstadt ungefähr fünf Fahrstunden Richtung Nordosten verwechselt wird. Als wäre das überhaupt möglich. Washington und Washington, D. C., sind so unterschiedlich, wie es nur geht; die amerikanische Hauptstadt ist umgeben von Vororten und ein Machtzentrum, während mein Heimatort klein und ländlich ist, mit genau einem Supermarkt namens Piggly Wiggly. Er hat weniger als zehntausend Einwohner, und als Halbwüchsiger fragte ich mich oft, warum überhaupt jemand dort bleiben wollte. Mittlerweile bin ich allerdings zu dem Schluss gekommen, dass es schlimmere Orte gibt. Washington ist friedlich, und die Leute sind nett, von der Sorte, die vorbeifahrenden Autos von der Veranda aus zuwinken. Am Flussufer befinden sich mehrere ganz anständige Restaurants, und für diejenigen, die etwas für Kultur übrighaben, gibt es das Turnage Theater, in dem Einheimische sich von anderen Einheimischen aufgeführte Stücke ansehen können. Es gibt Schulen und einen Walmart und Fast-Food-Lokale, und wettermäßig ist es ideal. Es schneit vielleicht alle zwei oder drei Jahre mal, und im Sommer sind die Temperaturen deutlich gemäßigter als in Staaten wie South Carolina oder Georgia. Segeln auf dem Fluss ist eine beliebte Freizeitbeschäftigung, und ich kann, wenn ich Lust dazu habe, spontan das Surfboard auf den Pick-up laden und schon die erste Welle erwischen, bevor ich meinen großen To-go-Kaffee geleert habe. Bis nach Greenville – einer relativ kleinen, aber richtigen Stadt mit Sportveranstaltungen und Kinos und einer größeren Auswahl an Restaurants – ist es nicht weit, über den Highway ungefähr fünfundzwanzig Minuten in gemächlichem Tempo.

Mit anderen Worten: Mir gefällt es dort. Normalerweise denke ich nicht einmal darüber nach, ob ich etwas Besseres oder Tolleres verpasse. Im Allgemeinen nehme ich die Dinge, wie sie kommen, und versuche, nicht zu viel zu erwarten. Das klingt vielleicht nicht unbedingt spektakulär, aber ich komme damit klar.

Es könnte gut mit meiner Kindheit zu tun haben. Als ich klein war, lebte ich mit meiner Mutter und meiner Schwester in einem kleinen Haus nicht weit vom Fluss entfernt. Meinen Vater kenne ich nicht. Meine Schwester ist sechs Jahre älter, und die Erinnerungen an meine Mutter sind vage, nach der langen Zeit verschwommen. Sie starb, als ich fünf war, weshalb meine Schwester und ich zu meiner Tante und meinem Onkel auf ihren Bauernhof am Stadtrand zogen. Meine Tante ist die viel ältere Schwester meiner Mutter, und auch wenn die beiden nie ein enges Verhältnis hatten, war sie eben unsere einzige lebende Verwandte. In der Vorstellung meiner Tante und meines Onkels taten sie einfach das Erforderliche, weil es außerdem das Richtige war.

Die beiden sind gute Menschen, aber da sie selbst keine Kinder haben, wussten sie vermutlich nicht so recht, worauf sie sich einließen. Den Bauernhof zu bewirtschaften nahm fast ihre gesamte Zeit ein, und meine Schwester Paige und ich waren als Kinder nicht ganz einfach, besonders zu Anfang. Mir passierten ständig Unfälle – damals schoss ich gerade in die Höhe und stolperte bei gefühlt jedem dritten Schritt. Außerdem weinte ich viel, wohl hauptsächlich, weil ich meine Mutter verloren hatte, wobei ich mich daran nicht mehr erinnere. Paige hingegen war frühreif im Hinblick auf pubertäre Launenhaftigkeit. Sie konnte schreien oder schluchzen oder Wutanfälle bekommen wie kaum eine...