Final Cut - Thriller

von: Veit Etzold

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2012

ISBN: 9783838716015 , 448 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 9,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Final Cut - Thriller


 

7.


Die Abenddämmerung hatte den Himmel in ein ähnliches Farbenmeer verwandelt wie die Kerzen das Kirchengewölbe in der Sankt-Hedwigs-Kathedrale. Clara stieg in ihren Dienstwagen, einen schon ziemlich betagten Audi, fuhr die Allee unter den Linden hinunter und bog nach links in die Friedrichstraße ab, Richtung Tempelhof, zur Zentrale des LKA Berlin.

Clara arbeitete bei der Mordkommission, in der Abteilung für Forensik und Pathopsychologie, die vor Kurzem aufgestockt worden war. Je größer eine Stadt, desto mehr Geistesgestörte gab es dort, und Berlin machte da keine Ausnahme. Also wollte der Senat auf diesem Feld nicht untätig erscheinen.

Clara würde noch ungefähr zwei Stunden im Büro sein, einen Kollegen treffen, ein paar Akten zu ihrem alten Fall abarbeiten und dann nach Hause fahren. Bis auf den 23. Oktober, der ihr schon während der vergangenen Tage zu schaffen gemacht hatte, war die Woche ausgesprochen entspannt verlaufen, was auch nötig gewesen war. Der letzte Fall, den sie gemeinsam mit Kriminaldirektor Winterfeld gelöst hatte, ihrem Vorgesetzen und Chef der Mordkommission, war die Jagd auf den »Werwolf« gewesen, einen psychopathischen Killer, der eine blutige Schneise durch Berlin gezogen hatte. Er hatte in Berlin sieben Frauen auf bestialische Weise getötet, Vergewaltigung vor und nach dem Tod inklusive. Der Fall hatte bei allen Beteiligten die Nerven bis zum Zerreißen strapaziert, zumal der Polizeipräsident befohlen hatte, die Presse strikt aus dem Fall herauszuhalten, was die Sache nicht gerade leichter gemacht hatte.

Clara lenkte den Wagen in die Friedrichstraße und fuhr auf die großen kastenförmigen Bürogebäude zu, die sich zwischen den klassizistischen Fassaden der alten Stadthäuser erhoben.

Mit Winterfeld, 59 Jahre alt und in zweiter Ehe geschieden, hatte Clara schon oft zusammengearbeitet. Ganz durchschaut hatte sie ihn aber noch immer nicht. Einerseits ein knallharter Pragmatiker, der keinen Firlefanz duldete, behauptete er allen Ernstes, so etwas wie ein Zweites Gesicht zu haben. Sein Meisterstück hatte er abgeliefert, als er – damals noch in Hamburg – den »Tütenmörder« gefasst hatte, einen Päderasten, der Kindern Plastiktüten über den Kopf gezogen hatte, während er sie vergewaltigte. Es hatte diesen Mann erregt, wie die Gegenwehr der Kinder wegen des Sauerstoffmangels immer mehr erlahmte, bis sie bewusstlos wurden und starben, während er sich an ihnen verging. Der Mann war Berufsschullehrer gewesen, einer von den Typen, die das Weihnachtskonzert an der Schule organisieren und jeden Morgen als Erste den Schnee vor ihrem Haus fegen. Ein richtiger Biedermann.

Hannah Arendt hatte den Begriff der »Banalität des Bösen« geprägt. John Wayne Gacy war so ein unscheinbarer Vertreter gewesen. Heinrich Himmler ebenfalls. Und Klaus Beckmann, der Tütenmörder, gehörte auch dazu.

Winterfeld hatte Clara damals unter seine Fittiche genommen, gemeinsam mit Sarah Jakobs, einer ebenfalls begabten jungen Kommissarin, die ein paar Jahre später als Clara beim LKA angefangen hatte, dann allerdings zum Dezernat für Wirtschaftskriminalität abgewandert war. Clara hatte sie lange Zeit nicht gesehen. Es ging das Gerücht, Sarah habe irgendeine Riesengeschichte aufgedeckt und lebe jetzt mit neuer Identität an einem unbekannten Ort, bis Gras über die Sache gewachsen war.

Sarah war so etwas wie Claras kleine Schwester, allerdings die »große kleine Schwester«. Die dunkelblonde, braunäugige Frau wirkte wie das Gegenstück zur schwarzhaarigen, blauäugigen Clara, der man den südeuropäischen Einfluss ansah. Tatsächlich strömte italienisches, spanisches und deutsches Blut in ihren Adern.

Sie vermisste Sarah in der von Männern dominierten Welt, in der sie arbeitete. Die meisten Kommissare und leitenden Beamten waren Männer, genau wie der Großteil der Täter. Oft hatte Clara an lauen Sommerabenden mit Sarah auf ihrem Balkon in der Schönhauser Allee gesessen, ein Glas Weißwein getrunken und sich unterhalten, während unten das Leben brodelte. Es gab nichts, das mehr nach Sommer aussah als die Farbe von gekühltem Weißwein in einem von der Kälte beschlagenen Glas im Gegenlicht der untergehenden Sonne, und für Clara war es der Inbegriff von Entspannung. Keine Kellner, die einen stundenlang warten ließen. Keine Touristen, die sich mit vollen Rucksäcken und dicken Hintern an den Stühlen der Cafés vorbeidrängten. Keine nervige Musik, mit der der Barkeeper die Gäste bespaßen zu müssen glaubte. Nur ein Tisch, zwei Stühle und Weißwein, während unten auf der Straße die Leute unterwegs waren, Nachbarn sich unterhielten und Fahrradklingeln rasselten. Aus offenen Autofenstern dröhnte Musik, die jäh leiser wurde, sobald die Wagen an den Ampeln beschleunigten, dies alles untermalt vom Zwitschern der Spatzen und dem Gurren der Tauben.

Sie hatten über ihre Fälle gesprochen, hatten sich über korrupte Wirtschaftsbosse, Schmugglerringe und Menschenhandel, über Raubmord, Tötungen im Affekt und Serienkiller unterhalten. Oft hatten sie aber auch über ganz normale Dinge gesprochen: über die Bücher, die sie zurzeit lasen, über Ausstellungen, die gerade in der Stadt zu sehen waren, und natürlich über Männer, bei denen die netten leider meist langweilig waren und die, die nicht langweilig waren, immer schon mit einem Fuß im Bett der Nächsten standen.

Auf Höhe der Choriner Straße, wo Clara wohnte, kroch von Zeit zu Zeit die U-Bahn aus dem Untergrund, um dann hoch über der Straße auf einem Stahlgerüst ein paar hundert Meter dahinzurollen und kurzzeitig von der U-Bahn zur S-Bahn zu werden, bevor sie auf Höhe der Bornholmer Straße wieder im Boden verschwand.

Clara musste an Vincent denken, den Freund Sarahs, der an einem ihrer gemeinsamen Sommerabende eine Horrorgeschichte von H. P. Lovecraft erzählt hatte: In der Antarktis entdeckten Forscher in einer unterirdischen Höhle einen gigantischen Wurm, der durch Tunnel unter dem Eis kroch und durch seine schiere Größe dafür sorgte, dass mehrere Teammitglieder den Verstand verloren. Das Ding, das nicht sein darf, hatte Lovecraft den Wurm genannt. Einer der Forscher, der am Ende der Geschichte in der Irrenanstalt landete, konnte bis zu seinem Lebensende nur noch die New Yorker U-Bahn-Stationen von Battery Park bis Central Park herunterbrabbeln. Es ist aber nicht der Wurm, der am Ende unheimlich ist, hatte Vincent gesagt, es ist die U-Bahn. Die moderne Welt versucht, die Ungeheuer der Vergangenheit zu überwinden, schafft aber neue Geister, die vielleicht sogar noch schrecklicher sind.

Clara hatte verstanden, was Vincent meinte, als wieder eine U-Bahn donnernd aus ihrem unterirdischen Reich hervorgeschossen war wie ein gigantischer Aal, der ein Insekt auf der Wasseroberfläche verschlingen will. Die Archetypen, hatte Vincent gesagt, sind tief in uns verwurzelt. Wir wissen, dass es keine Ungeheuer gibt, fürchten uns aber vor ihnen, weil diese Urangst so alt ist wie die Menschheit selbst.

Clara steuerte den Wagen vorbei am Tempelhofer Ufer, fuhr den Mehringdamm stadtauswärts, parkte den Wagen in der Tiefgarage des LKA und betrat den Aufzug. Während sie über den Flur im dritten Stock ging, hörte sie die Mailbox ihres Handys ab. Nichts Wichtiges, Gott sei Dank.

Sie ging in die Küche und schenkte sich an der uralten, rumpelnden und röchelnden Kaffeemaschine einen Becher ein. Sie hatte sich abgewöhnt, Kaffee anders als schwarz zu trinken, jedenfalls, wenn sie auf der Arbeit war. Schwarzen Kaffee gab es überall; man musste nicht umständlich nach Milch fragen, die ohnehin meist sauer war, und Zucker und Süßstoff waren entweder schlecht für die Zähne oder die Figur oder beides. Was nicht bedeutete, dass Clara sich nicht bei Starbucks mal einen übercremigen, übersüßten Caramel-Macchiato gönnte, aber Dienst war Dienst und Starbucks war Starbucks.

Clara wollte gerade die Küche verlassen, als sie schwere Schritte auf dem Flur hörte. Kriminaldirektor Winterfeld kam ihr entgegen, den obersten Hemdknopf offen, die Krawatte gelockert, in der Hand eine Packung La-Paz-Zigarillos, die er umständlich öffnete, während seine gebogene Adlernase die Luft auf dem Gang durchschnitt wie der Bug eines Schiffes das Wasser und der Blick aus seinen blauen Augen auf Clara gerichtet war.

»Ah, Señora Vidalis«, sagte er, fuhr sich mit der Hand durch seine kurzen grauen Haare und öffnete bedächtig das große Fenster gegenüber der Kaffeeküche, um wieder mal »nach draußen zu rauchen«, wie er es nannte. Es hatte immer etwas sehr Feierliches, wie Winterfeld das Fenster aufmachte, beinahe wie ein Priester, der das Tabernakel öffnet, um die geweihten Hostien für die Eucharistie herauszunehmen.

»Leisten Sie einem alten Mann Gesellschaft«, fuhr er fort, während er das Fenster ganz öffnete und der kühle Herbstwind in den Flur wehte. Winterfeld atmete die frische Luft ein, die schon ein wenig nach Schnee und Winter roch, um gleich darauf den Zigarillo zu entzünden und Rauchwolken in die Abendluft zu pusten.

Sie standen eine Zeit lang nebeneinander. Clara hielt den Kaffeebecher mit beiden Händen und genoss die wohlige Wärme, während die Herbstluft sie ein wenig frösteln ließ. Winterfeld blies dabei beinahe meditativ und in kurzen Abständen Rauch in die Abenddämmerung.

»Heute ist der Dreiundzwanzigste«, sagte er schließlich, ohne Clara anzuschauen. »Sie müssen nicht darüber reden, aber ich hoffe, es geht Ihnen einigermaßen gut.« Winterfeld kannte Claras Geschichte.

»Ja, ich war wieder beichten«, sagte Clara und trank den Kaffee in kleinen Schlucken. »Ich weiß gar nicht, warum ich das immer wieder tue, aber es geht mir danach tatsächlich ein bisschen besser. Jedenfalls hilft es mehr als das Yoga, das ich auch mache.« Sie bewegte...