Der Wald der verlorenen Schatten

Der Wald der verlorenen Schatten

von: Danbi Eo

Golkonda Verlag, 2021

ISBN: 9783965090408 , 248 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 14,99 EUR

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Der Wald der verlorenen Schatten


 

1. KAPITEL


HYOJU


Es lag wohl am schwülwarmen Wetter dieses Frühsommertages, jedenfalls bildete sich sofort Kondenswasser an der Soju-Flasche, die frisch aus dem Kühlschrank kam. Ich saß unter dem großen Sonnenschirm eines 24-Stunden-Ladens und betrachtete gedankenverloren die winzigen Wassertröpfchen, die von der Flasche auf den Tisch perlten. Langsam schenkte ich den koreanischen Schnaps in einen Pappbecher ein, den ich gratis zur Flasche Soju erhalten hatte. Er verlor bereits seine Form und erfüllte seine Funktion nur noch halbwegs, obwohl ich ihn erst zum dritten Mal füllte. Ich trank den Becher in einem Zug leer. Lauwarm schmeckte der Alkohol besonders süß. Ich biss in das dreieckige Gimbap, getrockneter Purpurtang mit einer Reisfüllung, aber das stellte sich als nicht so einfach heraus, weil der Reis zu einer festen Masse zusammengeklebt war. Ich kaute geräuschvoll. Auf der Packung stand »Gimbap mit mariniertem Rindfleisch«, aber es war mehr Rettich drin als Fleisch. Ich fühlte mich über den Tisch gezogen und dachte, dass mir dieses Gefühl erspart geblieben wäre, wenn auf der Packung »Gimbap mit Rettich« gestanden hätte.

Ich wedelte mit einer Hand in der Luft herum, um die Tauben zu verscheuchen, die sich um den riesigen Sonnenschirm versammelten, und füllte den Pappbecher mit dem Rest der Flasche. Dann lehnte ich mich in dem Plastikstuhl zurück, schlug die Beine übereinander und schaute mich um. Im Park waren viele Berufstätige, die sich nach dem Mittagessen einen kleinen Spaziergang gönnten. Zu dieser Zeit war der 24-Stunden-Laden nicht unbedingt ein geeigneter Ort, an dem eine junge Frau bereits am Mittag allein Soju trinken sollte, aber darauf Rücksicht zu nehmen konnte ich mir in meiner jetzigen Situation und in meinem momentanen mentalen und körperlichen Zustand nicht leisten. Mir fiel ein dunkelroter Fleck auf meiner Anzughose auf; gleichzeitig nahm ich wieder den Geruch von Blut wahr, den ich dank des Alkoholaromas wie auf magische Weise kurz vergessen hatte. Der Blutgeruch stieg aus dem Inneren meiner Nase auf, und mir wurde übel. Ich schob das Stück Taschentuch, das ich mir in die Nase gesteckt hatte, noch etwas tiefer hinein.

Ausgerechnet in dem Moment, als der Job-Interviewer meinte, ich könne zum Schluss ergänzend noch etwas sagen, wenn ich möchte, kam Blut aus meiner Nase geschossen, und ich blieb stumm. Das Blut floss, als hätte man einen Wasserhahn aufgedreht. Der Interviewer erschrak heftiger als ich selbst und erhob sich. Eilig kam er mit ein paar Taschentüchern zurück, überreichte sie mir und vermied sogar Blickkontakt aus Rücksicht auf meine Verlegenheit. Doch das Blut aus meiner Nase, so undankbar war ich, spritzte sogar auf sein weißes Hemd. Fast wie Ketchup, der unerwartet mit einem Plopp aus der fast leeren Plastikflasche herausschießt, wenn man sie schüttelte und drückte. Der Interviewer sagte zwar, es sei kein Problem, aber seinem Gesichtsausdruck nach stimmte es sicher nicht. Schließlich verließ ich fluchtartig den Raum, in dem das Bewerbungsgespräch stattgefunden hatte, und hinterließ dort als einzigen bleibenden Eindruck Blutflecken auf dem Teppichboden.

Bei jedem Schritt gaben die Absätze meiner alten Schuhe ein metallisches Klacken von sich, das absolut nervtötend war. Also zog ich die Schuhe aus. Die Absätze waren abgetragen, und die Nägel schauten heraus. Hätte ich gewusst, was für eine Blamage mich heute beim Bewerbungsgespräch erwartete, hätte ich mit dem Fahrgeld hierher lieber die Absätze meiner Schuhe erneuern lassen.

Nasenbluten, mein Gott, sozusagen kurz vor dem erfolgreichen Abschluss eines Bewerbungsgesprächs … dabei hatte ich diesmal so ein gutes Gefühl gehabt!

In den letzten zwei Monaten blutete ich öfter aus der Nase, völlig unabhängig von Ort und Zeit und mitunter so heftig, dass mir schwindlig wurde. Es geschah meist wie bei einem Dammbruch ohne Vorwarnung. Wenn die Blutung einmal angefangen hatte, konnte sie eine oder zwei Stunden lang andauern, und danach waren ich und meine Umgebung wie in Blut getaucht. Ich war deswegen auch zum Arzt gegangen und hatte mich untersuchen lassen, aber er konnte keine Anomalie feststellen. Er sagte nur, dass mein Nasenbluten mit einem geschwächten Immunsystem zusammenhängen könne; deshalb solle ich darauf achten, keinen Stress zu haben. Außerdem solle ich mich um die Nasenschleimhaut kümmern, damit sie nicht zu trocken werde. Wie es der Arzt empfohlen hatte, schlief ich eine Weile mit einer feuchten Mundmaske und hing ein nasses Handtuch im Zimmer auf, doch die Besserung blieb aus. Eigentlich war auch nichts anderes zu erwarten gewesen. Denn genau wie beim Blut, das einfach so aus meiner Nase strömte, sah meine Situation generell nicht so aus, als würde sie sich in baldiger Zukunft irgendwie verbessern.

Vor drei Monaten hatte Dongwoo mich verlassen. Mit ihm war ich zwei Jahre und sieben Monate zusammen gewesen. Kurze Zeit später verlor ich meinen Job, den ich drei Jahre lang hatte. Jedes Mal war es eine einseitige, grausame Mitteilung, aber unter der Trennung von Dongwoo litt ich besonders schlimm.

Ein Polizist, der sich auf den ersten Blick in die Fahrkartenverkäuferin am Busbahnhof verliebte. So hatte unsere Beziehung angefangen. Dongwoo patrouillierte jeden Tag zur selben Uhrzeit am Busbahnhof und schob mir immer wieder mal etwas zu essen oder eine Kinokarte unter der Acrylscheibe des Schalters hindurch. Oder einen Zettel zusammen mit einem Haarband, das aus verschiedenfarbigen geflochtenen Fäden bestand. Aber ich nahm nie etwas von ihm an. Seine makellose Uniform duftete nach Seife, seine Finger waren grazil, und seine Fingernägel glänzten stets sauber. All das trug dazu bei, dass er mir noch weniger gefiel. Myeongsook, meine Kollegin, schlug vor, dass ich ihm doch mal eine Chance geben solle, aber ich lehnte ihn immer ab, weil er auf mich den Eindruck machte, dass er irgendwie ein allglatter Typ war.

An einem Tag, da sich das Jahr allmählich seinem Ende näherte, änderte sich jedoch die Beziehung zwischen diesen beiden Menschen, die niemals zusammenzukommen schienen.

An jenem Tag schrie mich ein Mann im mittleren Alter an. Er war völlig betrunken, beschimpfte mich, fluchte, spuckte und schlug gegen die Acrylscheibe vor mir. Er machte einen gewaltigen Lärm und wurde schließlich handgreiflich gegen den Sicherheitsdienst, der herbeigeeilt war. In diesem Moment tauchte Dongwoo auf. Seine Bewegungen waren flink, sein Blick wirkte entschlossen. Rasch trennte er den aufgeregten Störenfried vom Sicherheitsdienst, drehte ihm mit Leichtigkeit den Arm auf den Rücken und drückte ihn dann blitzschnell zu Boden. Sein Kollege kam hinzu und legte dem Mann Handschellen an; damit war die Lage unter Kontrolle. Dongwoo hob seine Kappe auf, die auf den Boden gefallen war, setzte sie wieder auf und kam zu mir. Lächelnd holte er eine Tafel Schokolade aus seiner Hosentasche und schob sie unter der Schalterscheibe hindurch. »Oh, sie ist zerbrochen«, sagte er zu sich selbst und kratzte sich dabei an der Wange, die eine Schramme zierte.

»Ich bin großartig, Hyoju, oder?« fragte er mich und grinste schlitzohrig. Sein Atem ging heiß.

»Sie bluten an der Wange«, sagte ich zu ihm, hob eine Hand und richtete sie auf die betreffende Stelle.

»Tatsächlich? Oh ja, stimmt«, sagte er und schaute sich sein Gesicht in der Acrylscheibe an. Im nächsten Moment rief ihn sein Kollege.

»Ich muss zur Wache und die Wunde versorgen. Ich geh dann mal, Hyoju«, sagte Dongwoo, hob die Augenbrauen an und verschwand lächelnd mit seinem Kollegen durch den Busterminal.

Ich schaute ihm nach, bis er nicht mehr zu sehen war, und legte die zerbrochene Schokolade in meine Schublade. Erst danach spürte ich, wie mein Herz hämmerte, ohne dass ich mir dessen gewahr gewesen war. Am nächsten Tag kam Dongwoo wie immer zu mir und schob eine Kinokarte unter der Schalterscheibe durch. Als ich die Karte wortlos nahm und in die Schublade meines Schreibtisches legte, strahlte Dongwoo so glücklich wie noch nie zuvor.

An jenem Abend betrachtete ich zum ersten Mal Dongwoo etwas genauer von hinten. Er stand vor der großen gläsernen Eingangstür des Busbahnhofs und wartete auf mich. Seine grazilen Hände waren stets ein wenig in Bewegung, und sein Atem verteilte sich in kleinen Wölkchen. In der kalten Winterluft und unter den Neonlichtern der Straße stach Dongwoo leuchtend heraus. Ich ging lautlos zu ihm, stellte mich neben ihn und atmete einmal tief die Winterluft ein und aus. Als mein heißer Atem die kalte Luft zur Seite schob und sich in Wölkchen verteilte, schaute er mich an und hob wie zu einem zaghaften Gruß eine Schulter an. Sein Blick ruhte für eine Weile auf mir, seine Pupillen zitterten leicht. Vor Verlegenheit? Oder vor Aufregung? Er holte aus seiner Manteltasche einen Becher mit heißem Kaffee heraus, reichte ihn mir und atmete einmal tief in die kalte Luft aus, so wie ich es gerade getan hatte. Zusammen schauten wir uns einen Film an, tranken anschließend in einer japanischen Kneipe warmen Sake zu Tataki und liefen bis zur U-Bahn-Station. Es war sehr...