Die Gefährtin des Vaganten - Historischer Roman

von: Andrea Schacht

Blanvalet, 2011

ISBN: 9783641070830 , 528 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 8,99 EUR

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Die Gefährtin des Vaganten - Historischer Roman


 

2. Rillette vom Fisch

Laure musterte die starken Federkiele kritisch. Vier Stück hatten ihr ihre beiden Kinder in den vergangenen Tagen gebracht. Sie hoffte, sie hatten sie gefunden und nicht den Gänsen, die sie hüten sollten, ausgerupft. Die Vögel verloren diese Schwungfedern im Frühjahr meist von selbst. Auch einige Rabenfedern und eine von einem Schwan hatte sie gehortet.

Vorne im Hof zeterte Elseken mit einer Magd herum, und vorsichtshalber versteckte Laure die Federn, das Messer und die harten Holzstäbchen unter ihrer Schürze. Sie hoffte jedoch, dass die Frau ihres Stiefsohnes sich bald wieder in die Küche verzog, sodass sie in Ruhe die Kiele zuschneiden konnte.

Es schien so zu sein, und mit einem leisen Seufzer holte Laure ihr Handwerkszeug wieder hervor. Die Federkiele hatten einige Tage in Wasser gestanden, sodass sie nun mit einem spitzen Hölzchen das Mark herauskratzen konnte, um sie dann mit dem sehr scharfen Messer zuzuschneiden. Während sie dieser diffizilen Tätigkeit nachging, erhitzte sich in einer Tonschale feiner Flusssand über einem Feuerchen. Als sie zufrieden mit dem Zuschnitt war, steckte sie die feuchten Kiele in den Sand. Es zischte leise, und sehr sorgsam achtete sie darauf, dass die Federn langsam härteten, ohne Risse zu bekommen. Laure hatte Übung darin, sich ihre Schreibgeräte selbst herzustellen. Doch sie tat es mit Heimlichkeit, denn ihre Fähigkeiten, sie zu nutzen, sahen ihre Angehörigen nicht gerne.

Weshalb sie sich zu ihrer Herstellung meist hinter den Stall zurückzog.

Schließlich hatten die Spitzen der Kiele die durchscheinende Konsistenz von Fingernägeln angenommen, und Laure löschte das Flämmchen unter dem Sand. Die Federn steckte sie in ihre tiefe Schürzentasche, den Topf mit dem heißen Sand wollte sie in die Remise bringen, wo er unauffällig auf einem Bord auf seine nächste Verwendung warten würde.

Die Remise war ein geräumiges Gebäude, in dem die Gäste des Wirtshauses ihre Pferde, ja sogar zwei, drei Frachtkarren unterstellen konnten. Derzeit stand nur eine magere Mähre dort drin und malmte bedächtig etwas aus der Krippe. Laure stellte den Topf ab und wollte dem Pferd freundlich die Flanken tätscheln, als sie einen ungewöhnlichen Schatten bemerkte. Sie kniff die Augen zusammen, um im Halbdunkel zu erkennen, was dort anders war als sonst.

Und als sie näher trat, packte sie das Entsetzen.

Ein Mann schwebte dort.

Nein, er schwebte nicht.

Er hing.

An einem Strick.

Ganz still hing er dort, das Gesicht grässlich verzogen.

Der Gestank des Todes umgab ihn.

»Oh, mein Gott«, würgte Laure heraus.

Auf dem Absatz drehte sie sich um und eilte nach draußen.

»Goswin!«, rief sie, und ihre Stimme überschlug sich. »Goswin!«

»Was soll das Gekreisch?«, muffte sie der vierschrötige Mann an, der das geborstene Rad eines zweirädrigen Karrens musterte.

Laure biss sich auf die Lippen und versuchte, ihre zitternden Hände unter der Schürze zu verbergen. Er hatte recht, Gekreisch half nicht weiter. Sie sammelte sich und brachte mit einigermaßen ruhiger Stimme vor: »Im Stall hat sich der Herringsstetz aufgehängt.«

»Häh? Spinnst du?«

»Nein, Goswin. Er baumelt an einem Strick von einem Balken. Ich weiß nicht, was ich machen soll.« Sie versuchte ihre Hände, die sich in die Schürze krallen wollten, ruhig zu halten, um die Schreibfedern nicht zu zerbrechen.

Jetzt sah ihr Stiefsohn sie doch etwas irritiert an.

»Geh hin und sieh selbst«, schlug sie vor.

»Ähm … ja.«

Doch bevor er sich in Richtung Remise in Bewegung setzen konnte, kam ein junger Bandkrämer mit seinem Maultier in den Hof geritten, sichtlich in Eile und aufgelöst.

»Der Pfarrer von Merheim ist ermordet worden. Habt Ihr’s schon gehört? Neben dem Taufbecken erschlagen. Die Haushälterin hat den Amtmann von Porz gerufen. Hat sie.«

Von dem Geschrei angelockt versammelten sich Mägde, Knechte, Gäste und auch Jan und Paitze, Laures Kinder, im Hof.

Laure rief die beiden zu sich und legte schützend die Arme um sie.

»Was ist passiert, Mama?«

»Weiß ich noch nicht. Etwas Schreckliches.«

Fragen prasselten auf den Unglücksboten ein, doch Laures Gedanken kreisten um ihren eigenen Toten in der Stallung. Goswin schien den wieder völlig vergessen zu haben. Was nichts Neues für sie war. Der älteste Sohn ihres verstorbenen Mannes mochte ein guter Wagner sein, aber von hellem Witz war er nicht. Er war sechs Jahre älter als sie und weit davon entfernt, sie als Stiefmutter anzuerkennen. Das konnte sie ihm nicht übel nehmen, und so lange Kornel Rademacher noch gelebt hatte, hatte Goswin sie wenigstens mit mürrischem Respekt behandelt. Jetzt hingegen übersah er sie so weit wie möglich, und ihre Bitten schien er nur selten zu hören.

Da also Goswin nicht zu helfen bereit war, schickte Laure erst einmal ihre Kinder zurück ins Haus und zupfte dann den ältesten Knecht am Ärmel.

»Der Herringsstetz hängt in der Remise, Karl. Der muss runtergeholt werden.«

»Was?«

»Hat sich aufgehängt, glaube ich.«

»Seid Ihr sicher, Herrin?«

»Geh rein, und schau ihn mit eigenen Augen an.«

Immerhin war der Alte williger, und gleich darauf kam er mit dem Toten über der Schulter aus der Stallung und legte ihn auf den Boden.

Das Geschrei war groß.

Laure zog sich in ihre Kammer zurück und versuchte, Jan und Paitze zu erklären, was geschehen war. Sie waren verständige Kinder, der Junge zwölf, das Mädchen elf Jahre alt. Was der Tod war, wussten sie, denn ihr Vater war vor fünf Jahren gestorben. Was sie nicht verstehen wollten, war, dass ein Mensch freiwillig seinem Leben ein Ende setzte.

»Nein, das sollte man auch nicht tun, Paitze. Das ist eine Sünde wider Gott, der uns das Leben geschenkt hat.«

»Vielleicht hat ihn ja ein anderer da aufgehängt«, wagte Jan zu spekulieren. »Weißt du, Mama, er war ziemlich zänkisch, der Herringsstetz. Und gestern hat er wieder mit dem Lucas Overrath einen Händel gehabt, sagt die Kathrin.«

Laure seufzte noch einmal. Ihr Sohn sprach die Befürchtung aus, die sie auch hegte. In einem Wirtshaus kamen viele unterschiedliche Menschen zusammen, und es ließ sich nicht vermeiden, dass dann und wann ein heftiger Streit ausbrach. Meist aber endete es mit einer herzhaften Prügelei, die schlimmstenfalls Platzwunden, ausgeschlagene Zähne oder gebrochene Knochen zur Folge hatte. Jemanden an einem Strick aufzuhängen war eine kaltblütige Tat, die sie dem jähzornigen Drugwarenhändler Lucas Overrath nicht zutraute.

»Das soll der Amtmann klären, Jan.«

»Ja, aber der Overrath ist schon beim Hahnenschrei heute Morgen aufgebrochen«, warf Paitze ein. »Ich hab seinen Karren durch das Tor rollen sehen.«

»Mag sein, aber es ist nicht unsere Aufgabe, ihn zu beschuldigen. Er ist kein streitbarer Mann, und wir wissen nicht, ob er wirklich ein Mörder ist. So, und jetzt sollten wir alle wieder unseren Pflichten nachgehen. Habt ihr die Eier eingesammelt?«

Hatten sie nicht, und Laure scheuchte sie zu den Hühnerställen.

Im Hof standen noch immer alle untätig um den Leichnam herum und hielten Maulaffen feil. Wildeste Gerüchte breiteten sich wie giftige Pilze aus, allen voran gaben Goswin und Elseken ihre kruden Theorien zum Besten.

»Das Mittagsmahl muss angerichtet werden, Elseken, die Kammern müssen gefegt und die Ställe ausgemistet werden«, sagte Laure mit leiser Stimme in die Runde. »Ihr zwei bringt den armen Mann ins Kelterhaus, aber mit Anstand und Würde«, wies sie zwei Knechte an.

Goswin glotzte sie an, plötzlich seines Publikums beraubt.

»Spielst wieder die Herrin hier«, grollte er.

»Spiele ich nicht, Goswin. Ich bin hier genauso berechtigt, Anweisungen zu geben, wie du!«

Er wandte sich ab, aber sie hörte ihn »Hochnäsige Zicke!« murmeln.

Ihr Verhältnis zueinander war alles andere als freundschaftlich, und wie so oft fragte sich Laure, was ihr gütiger Gatte sich nur dabei gedacht hatte, ihr und seinem ältesten Sohn das Anwesen zu gleichen Teilen zu vermachen.

Immerhin hörte das Gesinde auf sie, und nachdem auch der Bandkrämer weitergezogen war, um seine aufregende Nachricht vom Tod des Pfarrers, und nun auch von dem des Heringshändlers, in der Nachbarschaft zu verkünden, ging alles wieder einigermaßen seinen geregelten Gang.

Bis am Nachmittag der Amtmann von Porz eintraf. Albrecht von Zweiffel war ein hagerer, genauer Mann, der mit ruhiger Stimme darum bat, dass alle Anwesenden sich in der Gaststube versammelten, um seine Fragen zu beantworten. Laure achtete seine besonnene Art, wie er die Leute dazu brachte, einigermaßen brauchbare Auskünfte zu geben, und das Durcheinander von Spekulationen und grausigen Einzelheiten zu entwirren.

Auch sie war inzwischen in der Lage, einen nüchternen Bericht darüber abzuliefern, wie sie den Evert von Alfter, Heringshändler und daher besser bekannt als Herringsstetz, in der Remise gefunden hatte. Dass sie dabei von ihren heimlichen Arbeiten an den Schreibfedern erzählen musste, trug ihr einen giftigen Blick von Elseken ein. Das würde später auch wieder zu zänkischen Bemerkungen führen.

»Den Drugwarenhändler Lucas von Overrath kennt Ihr auch, Frau Laure?«

»Natürlich. Er kommt einmal alle paar Monate hier durch auf seinem Weg von Köln nach Straßburg. Er ist ein anständiger Mann, der seine Rechnung pünktlich...