Wolfskinder - Roman

von: John Ajvide Lindqvist

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2011

ISBN: 9783838710365 , 592 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 8,99 EUR

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Wolfskinder - Roman


 

1


Sie kam als eines der letzten Kinder am achten November 1992 in der Frauenklinik von Österyd zur Welt. Die Entbindungsstation stand im Begriff, in den Zentralort Rimsta umzuziehen, und man hatte schon begonnen zu packen. Es waren nur eine Hebamme und eine Lehrschwester im Dienst.

Glücklicherweise war es eine leichte Geburt. Maria Svensson wurde um 14.42 Uhr aufgenommen, und eine Stunde und zwanzig Minuten später war das Kind geboren. Der Vater, Göran Svensson, wartete vor dem Zimmer, wie es seine Gewohnheit war. So hatte er es bereits bei den zwei älteren Kindern gehalten, und so hielt er es auch jetzt. Während er wartete, blätterte er in ein paar Ausgaben der Zeitschrift Året runt.

Kurz nach vier Uhr kam die Hebamme heraus und teilte mit, dass er mit einer wohlgestalten Tochter beschenkt worden sei. Göran legte den Artikel über Kaninchenzucht, den er gerade gelesen hatte, zur Seite und ging zu seiner Frau hinein.

Als er das Zimmer betrat, beging er den Fehler, sich dort umzuschauen. Ein paar blutige Kompressen waren in eine Metallschale geworfen worden, und Göran wurde schlecht, bevor er den Blick abwenden konnte. Die Kombination aus steriler Umgebung und menschlichen Körperflüssigkeiten verursachte ihm Ekel. Deshalb konnte er auch nie bei einer Geburt dabei sein.

Er riss sich zusammen, ging zu seiner Frau und küsste ihre schweißgebadete Stirn. Das Kind lag auf ihrer Brust, ein zerknautschter, roter Klumpen. Es war unfassbar, dass daraus ein Mensch werden sollte. Er streichelte den feuchten Scheitel des Kindes mit dem Finger. Er wusste, was von ihm erwartet wurde.

»Ist alles gut gegangen?«, fragte er.

»Ja, doch«, sagte Maria. »Aber sie müssen wohl noch mit ein paar Stichen nähen.«

Göran nickte und schaute aus dem Fenster. Draußen war es fast schon dunkel, und nasse Schneeflocken glitten die Scheibe hinunter. Jetzt war er Vater dreier Kinder. Zwei Jungen und ein Mädchen. Er wusste, dass Maria sich ein Mädchen gewünscht hatte, für ihn spielte es im Grunde keine Rolle. Also hatte sich alles bestens gefügt. Sein Blick folgte einem dünnen Rinnsal, das am Fenster hinabfloss.

In diesem Augenblick beginnt ein Leben.

Ein Kind wurde an diesem Tag geboren. Sein Kind. Das Einzige, was er sich noch wünschte, war ein bisschen mehr Freude. Es kam vor, dass er deshalb zu Gott betete: Gib mir mehr Kraft, Freude zu empfinden. Aber er wurde nur selten erhört.

Ein Wunder war in diesem Raum geschehen, gerade eben. Er wusste es. Aber er konnte sich nicht dazu bewegen, es auch zu spüren. Das Rinnsal erreichte die Unterkante des Fensters, und Göran wandte sich wieder seiner Frau zu, lächelte. Er empfand eine gewisse Zufriedenheit, ein Stück Erleichterung. Es war geschafft. Für dieses Mal war es vorbei.

»Teresa also«, sagte er. »Oder?«

Maria nickte. »Ja. Teresa.«

Es war schon lange entschieden. Tomas, wenn es ein Junge wird, Teresa, wenn es ein Mädchen wird. Gute Namen. Vernünftige Namen. Arvid, Olof und Teresa. Ihr kleines Trio. Er streichelte Maria über die Wange und begann zu weinen, ohne dass er wusste, warum. Wegen des nassen Schnees am Fenster eines Zimmers, in dem gerade ein Mensch zur Welt gekommen war. Weil es ein Geheimnis gab, in das er niemals eingeweiht werden würde.

Als eine Schwester kam, um den Riss zu nähen, verließ er das Zimmer.

2


Teresa war vierzehn Monate alt, als sie zu einer Tagesmutter kam. Lollo hatte fünf Kinder in ihrer Obhut, und Teresa war das jüngste. Die Eingewöhnung verlief ohne Probleme. Schon nach vier Tagen konnte Maria ihre Tochter den ganzen Tag dort lassen und wieder Vollzeit arbeiten bei Österyds Hund&Katze.

Göran hatte zum staatlichen Alkoholgeschäft in Rimsta wechseln müssen, nachdem die Filiale in Österyd geschlossen worden war. Der größte Unterschied bestand darin, dass er eine halbe Stunde länger zur Arbeit brauchte und deshalb die Kinder nur selten bei ihren Tagesmüttern abholen konnte, was er bedauerte.

Es war ihm jedoch gelungen, sich einen Frühdienst pro Woche auszuhandeln, sodass er jeden Mittwoch zumindest Teresa abholen konnte. Obwohl sich in erster Linie Maria ein Mädchen gewünscht hatte, so hielt sich das Mädchen doch meistens an Göran, und er konnte nicht leugnen, das er ihr gegenüber besondere Gefühle hegte.

Die Jungen waren lebhaft, wie Jungen eben sein müssen. Teresa war bedeutend ruhiger und schweigsamer, und Göran schätzte ihre Art. Sie war das Kind, das ihm am ähnlichsten war. Ihr erstes Wort war »Papa«, ihr zweites »nein«, was sie wie »nee!« aussprach.

Möchtest du das haben? Nee!

Kann ich dir helfen, die …? Nee!

Darf Papa sich die Kreide leihen? Nee!

Sie holte sich ihre Sachen selbst, sie gab die Sachen wieder her, wenn sie es wollte, aber sie ließ sich niemals durch die Fragen oder Wünsche anderer beeinflussen. Göran gefiel das. Sie hatte einen ganz eigenen Willen, obwohl sie noch so klein war.

Auf der Arbeit musste er sich manchmal auf die Lippen beißen, um nicht selbst aus Versehen das zu sagen, was er mittlerweile am häufigsten hörte.

»Kannst du eine Palette Bier holen, Göran?«

»Nee!«

… verkniff er sich also. Aber am liebsten hätte er es gesagt.

Arvid war zu jener Zeit fünf und Olof sieben. Sie interessierten sich nicht besonders für ihre kleine Schwester, aber sie tolerierten sie. Teresa machte kein großes Aufhebens von sich selbst, es sei denn, jemand versuchte sie zu etwas zu bewegen, was sie nicht wollte. Dann hieß es Nee! und Nee!, bis sie im schlimmsten, aber seltenen Fall in unkontrollierte Wutausbrüche verfiel. Sie hatte eine Grenze, und wenn man sie überschritt, dann wurde sie zur Bestie.

Ihr Lieblingsspielzeug war eine grüne Stoffschlange, die sie im Zoo von Kolmården gekauft hatten und die sie Bambam nannte. Als Teresa anderthalb Jahre alt war, begann Arvid sie einmal zu ärgern und wollte ihr die Schlange wegnehmen, indem er an ihrem Schwanz zog.

Teresa hielt den Kopf der Schlange fest und sagte: »Avvi, nee!«, aber Arvid ließ nicht locker. Teresa hielt dagegen, sodass sie nach vorn kippte, während sie sich am Kopf der Schlange festklammerte und schrie: »Avvi, nee-nee!« Mit einem Ruck riss Arvid ihr die Schlange aus den Händen, und Teresa blieb auf dem Boden liegen und zitterte vor Wut am ganzen Körper.

Arvid wedelte mit der Schlange vor Teresas Gesicht herum, aber als sie nicht einmal die Hände danach ausstreckte, wurde er es leid und warf sie ihr hin. Sie nahm die Schlange in den Arm und flüsterte: »Bambam …« mit Tränen in der Stimme.

So weit, so gut. Arvid vergaß seine Schwester und begann unter dem Bett nach einer Kiste mit Lego zu suchen. Für ihr Alter war Teresa außergewöhnlich lange nachtragend. Sie stellte sich auf die Füße und stakste zu dem Regal neben ihrem Bett, aus dem sie ihre gläserne Schneekugel mit dem Engel holte.

Ein Schneesturm wirbelte um den Engel herum auf, als Teresa zu Arvid hinüberging und wartete, bis er sich wieder aufgerichtet und ihr die Seite zugewendet hatte. Dann schlug sie ihm damit auf den Kopf. Die Kugel zerbarst und hinterließ sowohl auf Teresas Hand als auch auf Arvids Stirn tiefe Schnitte. Als Maria die Schreie hörte und in das Zimmer lief, fand sie Arvid, der in einer Lache aus Wasser, Blut und Plastikteilen stand und mit Teresa um die Wette brüllte, die ziemlich übel an der Hand blutete.

Arvids Zusammenfassung der Geschehnisse lautete: »Ich habe ihre Schlange genommen, und da hat sie mich auf den Kopf gehauen.« Er ließ das Detail aus, dass mindestens eine Minute zwischen den beiden Ereignissen vergangen war. Vielleicht hatte er es vergessen, vielleicht empfand er es aber auch nicht als wichtig.

3


Im Alter von vier Jahren war es offensichtlich und verkündet, dass sie ein Papakind war. Nicht, dass sie auf Distanz zu Maria ging, aber in allen wichtigen Angelegenheiten wandte sie sich an Göran. Bei den Jungen war es andersherum. Maria fuhr die beiden zum Fußballtraining. Es war kein bewusster Entschluss gewesen, dass es so sein sollte, es hatte sich einfach so ergeben.

Maria wollte etwas unternehmen, während Göran vollkommen zufrieden war, wenn er still neben Teresa sitzen konnte, während sie malte oder bastelte. Wenn sie etwas fragte, dann antwortete er, wenn sie Hilfe brauchte, dann half er ihr, aber ohne großes Aufsehen.

Ihre große Leidenschaft bestand darin, Halsketten aus Plastikperlen zu basteln. Göran hatte sämtliche Perlenbestände im Spielzeugladen in Rimsta aufgekauft, in allen denkbaren Farben und Formen, er hatte das Personal sogar dazu bewegt, hinunter ins Lager zu gehen und ein paar aussortierte Kartons wieder auszugraben. Teresa besaß ein ganzes Regal mit mindestens sechzig kleinen Döschen, in das sie die Perlen nach einem System einsortiert hatte, das nur sie allein durchschaute. Manchmal konnte sie Tage darauf verwenden, das System zu ändern.

Die Perlen wurden auf bunte Fäden oder Angelschnur gezogen, und Teresa hatte durch geduldiges Üben gelernt, sogar die Knoten selbst zu binden. Die Produktion lief ununterbrochen, und das einzige Problem waren die Resultate.

Oma und Opa hatten etwas bekommen. Die andere Oma und der andere Opa hatten etwas bekommen. Verwandte und Freunde und die Verwandten der Freunde hatten etwas bekommen. Alle, die sich eine Halskette aus Plastikperlen halbwegs verdient hatten, waren mit einer beschenkt worden. Oder mit zwei. Görans Vater war der Einzige, der sie auch trug. Vermutlich tat er es in erster Linie, um Görans Mutter zu ärgern.

Aber es hätte einer Verwandtschaft von biblischen Ausmaßen bedurft,...