Drache auf tönernen Füßen - Die Entdeckung der Individuen in China

von: Michael Gleich

Picus, 2011

ISBN: 9783711750136 , 324 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 18,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Drache auf tönernen Füßen - Die Entdeckung der Individuen in China


 

Der erste Akt: Dem goldenen Büffel dienen (S. 18-19)

Der Bus ist am Ziel. Der feine Regen hat aufgehört, aber es ist immer noch schwül. Jin Dujuan führt uns erneut in die mittelalterliche Stadt mit den engen Gassen und den schwarz-braunen Häusern. Wären wir nicht schon hier gewesen, dann wäre jetzt in der Nacht nicht auf Anhieb klar, dass diese Stadt durch und durch unecht ist, ein Museum aus Nachbauten.

Die roten Papierlaternen, die zwischen den Holzsäulen unter den Arkaden baumeln und ein flackerndes Schummerlicht werfen, das dumpfe Klackern unserer Schritte auf den Holzböden, das Plätschern der Kanäle zwischen den Gassen, die chinesischen Gondeln, auch sie von Lampions beleuchtet, die vielen Menschen, die unter weißen, roten, grünen und blauen Regenschirmen von Haus zu Haus schlendern – all das vermittelt ein fast authentisches, wenngleich verdächtig romantisches Bild.

Dem Surrealen ist schwer zu entkommen und die Imagination ergreift einen, wie sie Kinder überwältigt, die ein Weihnachtsmärchen sehen, mit ihrer Laterne gehen und eine Nachtwanderung machen. Man führt uns in eine Arena. Nein, es ist nicht die römische Arena, sondern ein riesiges Amphitheater. Am Vormittag sind wir daran vorbeigegangen. Die Zeit hat nicht ausgereicht, um alles zu sehen. Die chinesischen Schriftsteller, die vorhin im Regen gestanden haben, sitzen schon auf der überdachten Tribüne. Ihre Busse müssen eine Abkürzung gefahren sein. Wir Ausländer nehmen im Block neben den Schriftstellern Platz.

Im Hintergrund erhebt sich ein Berg. Jin Dujuan weiß nicht, ob der Berg hier schon immer stand oder ob man ihn aufgeschüttet hat. Am Hang stehen Häuser. Das Freilichttheater zeigt das alte China, und das Zentrum der Bühne ist der Marktplatz. Die Musik kommt vom Band, ein Chor tritt auf. Jin Dujuan sagt: »Die Bauern spielen eine uralte Sage nach, die man sich in dieser Gegend erzählt.« Aber Genaueres wisse sie leider auch nicht. Die Chorsänger tragen historische Kostüme. Sie beginnen in Opernmanier zu singen. Worum geht es?

Es ist mir ein Rätsel. Ein Mann und eine Frau treten auf. Ihre Kleider sind fein, bunt, aus Seide, vielleicht ein Edelmann und seine Gattin, ja, sie sind Vater und Mutter. Die Großeltern und ihre Enkel kommen hinzu. Der ganze Clan strömt auf dem Platz zusammen. Anscheinend droht Ungemach. Sie schauen sich um. Eine Menschenmenge ist zu hören. Der Chor. Die Menge ist aufgebracht. Sie nähert sich. Sie ist unbewaffnet. Diese Menschen tragen keine Seidenkleider.

Manche gehen barfuß. Es sind die Armen, die Bauern. Die Eintracht der Gemeinde ist gestört. Der Sohn des Edelmanns stellt sich gegen den Vater auf die Seite der Armen. Kann das sein, dass er sich gegen den Vater stellt? Der eine sagt dies, der andere sagt das. Es geht hin und her. Gefahren drohen, die Zukunft [28]lockt. Der Streit hat mit dem Berg zu tun. Darf man den Gipfel des Berges besteigen, dorthin gehen, wo der Berg dem Himmel am nächsten ist? Was haben die Bauern mit dem Berg vor? Darf man die Ruhe der Ahnen stören, die dort bestattet sind? Und während die Menschen hadern, erscheint auf einem Laufband ein Text. Er ist rot, in lateinischer Schrift, auf Englisch, um genau zu sein. Die Einzigen, die diese Hilfe vielleicht benötigen, sind wir, die Besucher aus dem Ausland.