Winteraustern - Luc Verlains dritter Fall

von: Alexander Oetker

Hoffmann und Campe, 2019

ISBN: 9783455000795 , 320 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Winteraustern - Luc Verlains dritter Fall


 

Le samedi 19 décembre – Samstag, der 19. Dezember Kaltes Erwachen


Kapitel 1


»Ist dir etwa kalt, Junge?«

Alain Verlains Stimme hatte diesen unverwechselbaren Klang, vordergründig war da nur Ironie, aber bei genauerem Hinhören schwang doch etwas Sorge mit – Luc kannte diesen Ton seit Kindertagen.

Sein alter Herr hatte natürlich beobachtet, wie er die Jacke ganz eng zugeschnürt und den dicken Schal noch mal neu gebunden hatte, als hätte er auch nur irgendeine Chance gegen die beißende Kälte, die über das Bassin wehte, gerade als das Boot den Hafen von Arcachon verließ. Vor einer halben Stunde, als Luc seinen Jaguar XJ6 unten auf dem großen Parkplatz abgestellt hatte, war es noch gänzlich dunkel gewesen. Nun aber machte sich hinten am Horizont, dort, wo das Bassin sich zum Ozean hin öffnete, eine Ahnung von Licht bemerkbar. In anderthalb, vielleicht zwei Stunden würde der Wintertag beginnen, und er sollte sonnig werden. Der klare Himmel machte die Luft noch beißender. Schneeluft. Eigentlich unmöglich, dachte Luc, so weit im Süden.

»Alles bestens. Wollte nur Weihnachten nicht mit einer fetten Erkältung im Bett liegen«, gab er zurück und sah, wie sein Vater scherzhaft mit den Augen rollte. Alain griff in seine Jackentasche und entnahm ihr das flache silberne Metallgefäß, das Luc so gut kannte.

»Was ist drin?«

»Calva…«

Bevor sein Vater das Wort beenden konnte, schraubte Luc schon die Flasche auf. Er nahm einen großen Schluck und spürte das brennende Gefühl, das der Apfelschnaps auf seiner Zunge hinterließ und das sich rasch im ganzen Körper ausbreitete. Feuer schlug Kälte. So ging das.

Der Calvados aus der Normandie war über zwanzig Jahre alt, sein Vater bekam ihn regelmäßig von einer alten Apfelbäuerin zugesandt, mit der er sich vor Jahrzehnten angefreundet hatte. Der Schnaps war ein Gedicht. Doch auch ohne ihn hätte Alain Verlain nicht gefroren. Niemals. Dafür war er zu oft hier draußen gewesen. Bei Nacht und Nebel. Sommers wie vor allem winters. Wenn hier draußen Hauptsaison war.

Wann immer Luc im frühesten Morgengrauen mit rausgefahren war – und er hatte das so oft wie möglich getan –, hatte er sich zusammenreißen müssen, um sich die Müdigkeit und das Frösteln nicht anmerken zu lassen. Selbst die drei Paar Socken, die er sich heimlich übereinander angezogen hatte, hatten nie geholfen. Bis Alain ihm dann im Alter von vierzehn Jahren zum ersten Mal den Flachmann weitergereicht und ihm die Jacke geschenkt hatte, die schon Lucs Großvater getragen hatte und die aus irgendeinem besonderen Material war, das unermüdlich Wind und Kälte abwies. Danach hatte er immer darauf hingefiebert, endlich wieder mit hinausfahren zu dürfen. Mithelfen, den Lebensunterhalt der Familie einzuholen.

Heute Morgen war es Alain gewesen, der der Abfahrt entgegengefiebert hatte. Schon ganz früh, zwei Stunden vor der vereinbarten Zeit, hatte sein Vater draußen vor der Holzhütte gesessen und geraucht, neben sich eine Tasse seines unnachahmlich starken Kaffees. So hatte er minutenlang in die Dunkelheit geschaut. Luc hatte ihn durchs Fenster beobachtet und vor Rührung lächeln müssen.

Es war sein Versprechen an seinen Vater gewesen. Noch einmal gemeinsam hinauszufahren auf das Bassin und dort den Sonnenaufgang mitzuerleben. Im Winter, in der Vorweihnachtszeit, der Zeit, die Alain immer die liebste war. Keine Touristen, viel Arbeit. Das Bassin ganz leer, keine Segler, keine Motorboote, nur die Austernzüchter bei der Arbeit. Das hatte Alain noch einmal sehen wollen. Und derzeit ging es ihm so gut, dass es möglich war.

Bauchspeicheldrüsenkrebs. Die Ärzte gaben ihm noch ein halbes Jahr. Vielleicht neun Monate. Zuletzt war er zu einer zweimonatigen Kur gewesen, bis spät in den Oktober, oben in La Baule. Und nun standen sie hier draußen auf der Barkasse, die immer weiter hinaussteuerte auf das Bassin.

Alain klopfte von außen an die Kabine und zeigte fragend auf seinen Flachmann. Die anklappbare Scheibe wurde geöffnet, und ein heiteres Lachen erklang.

»Merci, Monsieur Verlain, aber das ist mir definitiv zu früh. Wenn Sie mögen, hier gibt es Kaffee.«

»Merci, Lieutenante«, sagte Alain, »wir kommen gleich hinein.« Dann wandte er sich wieder der Backbordseite zu, sein Fernglas fest in den Händen.

Luc war Lieutenante Giroudin unendlich dankbar. Es war beileibe keine Selbstverständlichkeit, dass die Gendarmerie den Kollegen von der Police Nationale einen Gefallen tat. Sie aber hatte sofort zugesagt, Alain und ihn mit hinauszunehmen, extra noch mal in den Hafen zu fahren, morgens um halb fünf, um sie an Bord zu nehmen, für die letzten drei Stunden ihrer Schicht. Klar, Alain, sein Vater, war hier draußen eine Legende. Sie waren eine der alteingesessenen Familien in der Austernzucht gewesen. Wobei die Firma nur noch aus Alain bestanden hatte, bis er sie vor vier Jahren an Bertrand Chevalier verkauft hatte.

Die Menschen hier entlang des Bassins kannten Alain Verlain. Sie mochten ihn. Luc liebte ihn. Er zog sich die Handschuhe aus, zündete sich eine Zigarette an und rieb sich die kalten Hände, während er den Rauch ausblies. Noch gab es nur die Fahrrinnen, durch die Lieutenante Giroudin ihr Boot steuern musste, aber die Flut begann langsam, das Wasser drückte zurück in das Bassin, flutete den Sand.

Die Patrouille der Gendarmerie war nur dann unterwegs, wenn Ebbe war – denn dann lagen die Austern in ihren poches, den schwarzen Säcken, frei zugänglich im Schlick. In zwei, drei Stunden aber würden sie vom Hochwasser bedeckt sein, was einen Diebstahl unmöglich machte, denn dafür hätte es schon einen Kran gebraucht, und der erregte in den Austernbänken zu viel Aufsehen.

Lieutenante Giroudin rief aus der Kabine: »Wir nehmen Kurs hinüber nach Andernos, wenn Ihnen das recht ist, Commissaire.«

Luc nickte. Sie steuerten nordwärts, dorthin, wo sich viele Austernbänke befanden. Die Plätze, wo die Austern wuchsen, waren auf die ganze Fläche des Bassins verteilt, überall dort, wo es viele und hohe Sandbänke gab, damit die Züchter bei Ebbe ungestört und trockenen Fußes an ihren Austern arbeiten konnten.

Luc gesellte sich wieder zu seinem Vater, der ganz vorne an der Spitze des Bootes stand und den Ausblick genoss. »Und, Papa?«

»Wunderschön«, sagte er und nahm ein Taschentuch, um sich zu schnäuzen. Der Commissaire legte einen Arm um die schmalen Schultern seines Vaters und hielt ihn. So standen sie da, minutenlang, während das Boot durch das tiefer werdende Wasser pflügte und am Horizont die ersten Sonnenstrahlen zu sehen waren.

»Es ist doch unglaublich, dass hier unter und neben uns all diese Schätze lagern, oder?«, fragte Alain. »Und wir sind nicht die Einzigen, die danach greifen wollen …«

Er machte sein verschwörerisches Gesicht, und Luc wusste, dass er nun ganz still sein musste, denn gleich würde sein Vater zum Austernzüchterlatein greifen und die spannendsten Geschichten aus der Zucht erzählen: von den Seesternen, die mit ihren Armen die Austern aufknacken und sie aussaugen, von den Schnecken, die Austernbohrer heißen – und von den Dieben, die es auf dem Bassin gab und die der Grund waren, warum sie hier heute Streife fuhren. Doch bevor Alain ansetzen konnte, hörte Luc instinktiv das piepende Funkgerät. Er wandte sich um, doch das Fenster zur Kabine war geschlossen, so sah er nur, wie sich Giroudins Mund bewegte.

Plötzlich legte sich das Boot auf die Seite, und Alain schaffte es gerade noch geistesgegenwärtig, Luc mit einem beherzten Griff festzuhalten, sonst wäre der Commissaire über Bord gegangen. Giroudin wendete und beschleunigte, die Bugwelle schlug nun hoch auf, und Luc und sein Vater stolperten in die Kabine.

»Was ist denn los?«, fragte Luc.

»Vielleicht ist es Schicksal, dass Sie hier sind. Es gibt einen Einsatz.«

»Wohin fahren wir?«

»Moment …«, sie griff nach dem Funkgerät und gab ihre Position durch, dann sagte sie: »Wir brauchen acht, neun Minuten bis da draußen. Melde mich dann. Wir haben einen Commissaire der Police Nationale an Bord, ihr braucht also niemanden zu schicken.«

»Wieso ist denn ein Commissaire an Bord?«, fragte die männliche Stimme, die durch das Funkgerät merkwürdig verzerrt war.

»Zufall. Erzähl ich dir später.«

Sie hängte ein, dann sah sie Luc ernst an.

»Ein Austernzüchter. Er hat einen Notruf abgesetzt. Er wurde überfallen. Liegt auf der Banc d’Arguin.«

»Überfallen? Im Wasser?«

»Ich habe nur diese Information. Er war offensichtlich verwirrt, als er die Kollegen an Land anrief.«

Sie blickte wieder hinaus, konzentrierte sich auf die schmale Fahrrinne, die gleich breiter werden würde, je näher sie der Ausfahrt aus dem Bassin kamen, wo es hinausging auf den offenen Atlantik.

Luc betrachtete seinen Vater, der nun ganz verändert aus dem Fenster sah, ernsthaft, professionell. In Alains Miene erkannte Luc sich selbst wieder.

»Haben Sie einen Namen?«, fragte sein Vater die Lieutenante.

»Nein, leider nicht. Er hat nur seine Position durchgegeben und gerufen: ›Überfall, Überfall!‹ Dann hat er aufgelegt.«

Sie drückte den Gashebel nun ganz durch, das Boot machte einen Satz nach vorn.

Zur Rechten kam weiß mit roter Spitze der Leuchtturm des Cap Ferret in Sicht, dessen Lichtkegel immer noch nervös durch die Bucht glitt. Und dann, als sie an der Spitze des Caps vorbeifuhren, schlugen auf einmal die Wellen von rechts ans Boot, der...