Goldkind - Roman

von: Claire Adam

Hoffmann und Campe, 2020

ISBN: 9783455005998 , 272 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 17,99 EUR

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Goldkind - Roman


 

Teil Eins


1


Nur Trixie erwartet ihn am Tor zur Einfahrt. Stabil auf die Vorderpfoten gestützt, sitzt sie da und beobachtet etwas auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Wahrscheinlich eine Iguana, denkt Clyde, oder ein Aguti, so, wie die Hündin guckt. Er zieht die Handbremse an und wirft einen Blick in dieselbe Richtung wie die Hündin, kann aber nichts entdecken. Auf der anderen Straßenseite ist nichts als Busch: Wildnis bis hinunter zum Fluss, und jenseits des Flusses noch mehr Busch, bis hin zu den Kakaoplantagen. Das Laub glänzt von dem bisschen Regen, der gerade gefallen ist, der Asphalt dampft. Clyde geht zum Tor, zieht sein T-Shirt aus, wischt sich den Schweiß aus Gesicht und Nacken.

Er hatte sich kurz gewaschen, bevor er den Nachhauseweg antrat, aber der Fabrikgeruch hängt ihm immer noch an – in den Haaren, in der Kleidung, in den Hautfalten. »Ölgeruch« nennen die Leute das oder »petrochemischer Geruch«, wenn sie ein bisschen besser Bescheid wissen. Clyde weiß, dass er heute nach Schmieröl, Ammoniak und faulen Eiern riecht, weil er nachmittags mit dem Ingenieur in der Fabrik unterwegs war – sie haben Ventile verschlossen, Kammern geöffnet, in kleinen Plastiktüten Proben gesammelt, die Kammern wieder geschlossen und die Ventile wieder geöffnet. Normalerweise trägt er bei der Arbeit nicht seine eigenen Sachen, sondern einen blauen Overall, und eigentlich duscht er auch, bevor er nach Hause fährt. Aber seit dem Einbruch vor ein paar Wochen arbeitet er – zumindest vorübergehend – doch lieber nur tagsüber, damit er nachts zu Hause bei Joy und den Jungs sein kann. Mit Schichtdienst ist zwar mehr Geld zu verdienen, aber Joy sagt, sie fühlt sich sicherer, wenn er im Haus ist.

Brownie und Jab-Jab kommen zum Tor getrottet, ihre Schnauzen orangerot von der staubigen Erde unterm Haus. »Hey! Habt ihr gepennt?«, fragt Clyde. Sie strecken sich, schnauben und hecheln ihn zur Begrüßung breit lächelnd an. »Ihr Faulpelze!« Clyde klopft ihnen durch das Tor hindurch das Fell. »Ihr seid so faul!« Doch sie lächeln und wedeln mit dem Schwanz: Sie spüren, dass er nicht sauer auf sie ist. Und überhaupt, denkt Clyde, wozu sollen sie auch tagsüber wach sein? Ist doch viel besser, wenn sie tagsüber schlafen und dafür nachts wach sind. Nicht einmal Wachhunde kommen vierundzwanzig Stunden ohne Schlaf aus.

»Weg da, weg da«, ruft er, als er den Riegel anhebt. Die beiden Mischlinge weichen zurück auf den trockenen Grasstreifen neben der Einfahrt, während die bullige Rottweilerin Trixie sich auf alle viere stellt und den Punkt fixiert, an dem die beiden Torhälften zusammentreffen.

»Was ist los?«, fragt Clyde. »Du kommst nicht raus auf die Straße.« Wieder sieht er über die Schulter auf der Suche nach dem, was Trixie zu beunruhigen scheint. Die Sonne ist hinter den Bäumen untergegangen, die Straße liegt schattig, kühl und ruhig da. Die Vögel schlafen bereits – bis auf den Schwefeltyrann im Guavenbaum gleich neben dem Tor, diesen Schreihals, der immer als Letztes zur Ruhe geht. »Na, noch auf?«, sagt Clyde. »Alle anderen sind schon längst im Bett!« Der Vogel zwinkert, dreht seinen gestreiften Kopf keck nach hier und da, und als würde er plötzlich begreifen, wie er sich zum Narren macht, schwingt er sich auf und verschwindet.

Clyde öffnet das Tor einen winzigen Spalt und packt Trixie beim Halsband, um sie wegzuschieben. »Ich muss das Auto reinfahren!«, erklärt er. Sie knurrt. Leise. Den Blick auf den Boden gerichtet. Er weiß, wenn er auch nur ein kleines bisschen nachgibt, wird sie auf die Straße hinausschießen, und sie werden den Rest des Abends damit verbringen, sie wieder einzufangen.

Clyde lässt den Riegel wieder fallen und rüttelt am Tor. »Paul!«, ruft er. »Paul! Komm her und halt den Hund fest!«

Am Fenster bewegt sich etwas – ein Winken, gleich kommt jemand –, dann erscheint Peter auf der Veranda. Zwar sind die Jungs Zwillinge, aber selbst auf die zehn Meter Entfernung kann Clyde sehen, dass das nicht Paul ist, sondern Peter. Paul schleicht immer so herum – als wäre er am liebsten unsichtbar, findet Clyde –, wohingegen Peter aufrecht marschiert, die Arme ein klein wenig im Abstand zum Körper, nicht an ihn gedrückt, als ob er nicht wüsste, was er mit ihnen anfangen soll. Peter ist erst dreizehn, aber schon fast genauso groß wie Clyde und genauso behaart. Er hat die Schuluniform abgelegt und Shorts angezogen, die Druckstellen von seinen Socken sind noch zu sehen.

»Hey«, sagt Peter und kommt die Stufen herunter. Er eilt über den heißen Beton zum Gras – braun und verdorrt durch die Trockenzeit.

»Wo ist Paul?«

»Unterwegs.«

»Unterwegs? Wohin?«

»Weiß nicht. Zum Fluss, glaube ich.«

»Halt mal den Hund, ich will das Auto reinfahren.«

Peter hält Trixie, während Clyde den Wagen in den Carport lenkt, den Wellblechverschlag seitlich des Hauses. Als er sie loslässt, entfernt sie sich ein paar Schritte von ihm und schüttelt sich, als hätte sie gerade im Kanalrohr gebadet. Dann nimmt sie wieder ihre Position am Tor ein und beobachtet den Busch jenseits der Straße.

 

Als Clyde ins Wohnzimmer kommt, sitzt Joy direkt vor einem Ventilator. Die Laken, mit denen sie nach dem Einbruch das Sofa und den Sessel abgedeckt haben, liegen schön glatt und ordentlich, trotzdem sieht es hier drinnen fürchterlich aus. Joy wirkt müde und überhitzt, das fettige Haar hat sie zurückgebunden, ihre nackten Füße sind schwarz vor Dreck. Er fühlt sich selbst zu schmutzig, um sie zur Begrüßung zu küssen.

»Kein Wasser?«, fragt er.

»Nope.«

»Seit wann? Heute früh?«

»Gegen Mittag«, sagt sie. »Hab gesehen, dass der Druck nachlässt, und schnell die Töpfe aufgefüllt.« Sie redet weiter, während Clyde in die Küche geht und sein Schlüsselbund ablegt. Er verscheucht die Fliegen von den Tellern, die sich im Waschbecken stapeln. »Ich konnte nichts kochen«, ruft sie. »Hab Roti aus der Kühltruhe genommen und ein bisschen Choka dazu gemacht. Eigentlich wollte ich ein Curry machen, aber ich konnte ja nicht kochen.«

Er kommt zurück ins Wohnzimmer und guckt unter die Deckel der Pyrex-Schüsseln auf dem Tisch: geschmorte Aubergine mit reichlich Zwiebeln und Knoblauch, wie er es am liebsten mag, etwas Gurkensalat und in ein Geschirrtuch gewickeltes warmes Fladenbrot. »Kein Problem. Das hier ist doch super!« Er sagt das betont gut gelaunt, damit sie sich nicht schlecht fühlt wegen des einfachen Abendessens.

In einem Eimer im Badezimmer wäscht er sich die Hände, dann zieht er ein sauberes T-Shirt an. Das muss für heute reichen, Duschen ist nicht drin. Zurück im Wohnzimmer zieht er den Stuhl vom Tischende hervor, doch Joy rührt sich nicht. Sie bleibt auf der Sofaecke sitzen, spielt mit ihrem Ehering an der linken Hand, dreht ihn, schiebt ihn zum Fingerknöchel hoch und wieder zurück.

»Was ist los?«, fragt er.

Ihr Blick huscht zur Uhr an der Wand hinter Clyde.

»Was?«, fragt er.

»Ich frag mich, wieso Paul noch nicht zurück ist.«

Er setzt sich, nimmt einen Roti-Fladen aus dem Tuch und legt ihn auf den Teller. »Er wird schon wiederkommen, wenn er so weit ist.«

»Aber es wird schon dunkel«, sagt Joy.

Peter kommt herein, sieht die beiden an und setzt sich. Clyde nimmt vom Auberginen-Choka und verteilt es mit der Rückseite des Löffels auf seinem Teller, damit es nach mehr aussieht.

»Ich dachte, ich könnte ja mal bei Romesh anrufen«, sagt Joy. »Mal hören, ob er vielleicht bei ihnen ist.« Romesh ist ihr jüngerer Bruder. Mit seiner Familie wohnt er keinen Kilometer die Straße rauf in einem zweistöckigen Haus mit Teppichen und Klimaanlagen. Sie sieht Clyde dabei zu, wie er einen Streifen von seinem Brot abreißt. »Wenn du nichts dagegen hast?«

Er schiebt das Essen in den Mund und kaut, die Unterarme auf der Tischkante, und starrt finster vor sich hin. Peter senkt den Blick und isst.

»Hm?«, macht sie, nachdem Clyde heruntergeschluckt hat. »Hast du was dagegen?«

»Ich? Wieso sollte ich was dagegen haben?«

»Ich ruf mal eben schnell an«, sagt sie.

Paul ist nicht bei ihnen. Joy legt auf und setzt sich zu den beiden an den Tisch. Schweigend essen sie.

Nach dem Essen bringt Clyde seinen Teller in die Küche, aber dort ist kein Platz zum Abstellen. Das Spülbecken quillt über vor schmutzigem Geschirr, auf den Arbeitsflächen stehen überall mit Wasser gefüllte Kochtöpfe, Schüsseln, Eiscremebehälter. Clyde verscheucht die Fliegen.

»Ich mach das schon, Clyde.« Joy nimmt ihm den Teller ab. »Setz du dich ruhig nach draußen. Möchtest du ein Bier? Im Kühlschrank müssten ein paar Flaschen Carib sein.«

»Ich muss morgen früh zur Arbeit«, sagt er.

»Na ja, eins wird dich schon nicht umbringen. Oder? Eins geht doch?«

»Nee. Lieber nur Eiswasser. Haben wir Eis?«

»Massenweise«, sagt sie. »Geh ruhig schon raus und setz dich, Clyde. Ich bring dir dein Wasser.«

Clyde setzt sich auf einen der Stühle auf der Veranda und zündet eine Zigarette an. Von nebenan hört er die Siebenuhrnachrichten – die übliche Mischung aus Ministerlügen, Verkehrsunfällen, Vergewaltigungen, Entführungen und so weiter. Jeden Tag dieselben Geschichten.

Brownie und Jab-Jab erscheinen an dem schmiedeeisernen Tor am oberen Ende der Treppe und wedeln mit dem Schwanz. Jetzt, wo es Abend wird, sind sie ganz besonders wachsam. Clyde verrenkt sich den Hals: Die Straßenlaterne funktioniert schon seit Jahren nicht mehr, aber er kann Trixies gedrungene Gestalt...