Historical Saison Band 60

von: Virginia Heath

CORA Verlag, 2019

ISBN: 9783733737344 , 384 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 5,99 EUR

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Historical Saison Band 60


 

1. KAPITEL

1. Dezember 1813
Noch ein Monat, drei Tage und ungefähr achtzehn Stunden …

Schmerzhaft drückte sich ihr die dünne Kordel in die Handgelenke. Letty versuchte es nicht zu beachten und konzentrierte sich stattdessen auf ihre Umgebung. Sie öffnete ein Auge zu einem schmalen Spalt und blinzelte durch die Wimpern. Der grauhaarige Kopf des Earl of Bainbridge hing locker zur Seite und bewegte sich ein wenig bei jeder Erschütterung der Kutsche. Seine Augen waren geschlossen, das Kinn hing schlaff nach unten. Erleichtert stellte sie fest, dass er endlich eingeschlafen war. Nun riskierte sie zum ersten Mal seit fast einer Stunde, die Augen ganz zu öffnen und vorsichtig den Kopf zu heben, um einen Blick aus dem Fenster zu werfen.

Draußen war es stockfinster.

Ein gutes Zeichen.

Es bedeutete nämlich, dass sie durch menschenleeres Gebiet fuhren und meilenweit von jeder Siedlung entfernt waren. Nicht einmal Sterne konnte sie sehen, also war dieser Teil der Great North Road vermutlich von Bäumen gesäumt. Außerdem war die klapprige Kutsche von Lord Bainbridge mit großer Geschwindigkeit unterwegs, ein weiterer Hinweis darauf, dass sie weit entfernt waren vom nächsten Dorf oder einem Gasthaus. Bisher war es stets auf die gleiche Weise abgelaufen: Wenn sie sich einem Gasthof näherten, klopfte der Kutscher laut auf das Dach. Dann packte der Earl sie brutal und presste ihr zusätzlich eine knotige Hand auf den ohnehin geknebelten Mund. Mit der anderen hielt er ihr drohend ein Messer an die Kehle, bis man eilig die Pferde gewechselt hatte.

Nun schlief er, aber das Messer lag immer noch locker in der Hand auf seinem Schoß. Es würde nicht viel nutzen, wenn sie den Versuch wagte, es ihm zu entringen. Ihr wichtigstes Ziel war die Flucht. Bei ihrem letzten Versuch, sich zu wehren, hatte Bainbridge sie mit dem Handrücken so heftig auf die Wange geschlagen, dass ein blutiger Abdruck seines Siegelrings zurückgeblieben war. Nun war die Stelle neben dem Knebel geschwollen und tat weh. Sie hatte eine Ohnmacht vorgetäuscht, um sich vor weiteren Schlägen zu schützen, und sich seitdem nicht mehr gerührt. Auch wenn sie sonst nicht viel damit gewonnen hatte, gab es ihr wenigstens Zeit zum Nachdenken.

So leise und vorsichtig wie möglich, setzte sie sich auf und rückte millimeterweise immer näher an die Tür heran. Wenn sie den Griff erreichte, konnte sie sich auf die Straße fallen lassen. Falls sie das überlebte, würde sich alles Weitere finden, denn einen Plan hatte sie nicht. Doch sie wollte lieber sterben, als nach Gretna Green weiterzufahren und dort Bainbridge zu heiraten.

Der Earl begann zu schnarchen. Das Geräusch war unregelmäßig, und er konnte jederzeit erwachen. Sie durfte keine Zeit verlieren. Letty streckte die gefesselten Arme aus und warf sich verzweifelt gegen den Türgriff. Wie durch eine wunderbare Fügung gelang es ihr, die Tür zu öffnen, als die Kutsche sich gerade ein wenig zur Seite neigte. Plötzlich sprang die Tür krachend auf, und Letty wurde nach draußen geschleudert.

Unwillkürlich rollte sie sich zusammen, bevor sie aufschlug, um Kopf und Glieder zu schützen. Doch trotzdem war der Aufprall stark und schmerzvoll. Sie schnappte nach Luft und konnte vor Schmerz kaum etwas sehen. Scharfkantige Steine bohrten sich ihr in die Haut, als sie sich zur Seite rollte. Schmutziges Wasser rann ihr in die Nase und die geschlossenen Augen, die davon heftig brannten. Aus der Ferne hörte sie einen gedämpften Schrei aus der Kutsche, dann quietschten laut die Bremsen.

Sie erhob sich auf die Knie und zwang ihren geschundenen Körper, sich aufzurichten und zu bewegen. Mit letzter Kraft schleppte sie sich in den Schutz der dunklen Bäume. Dann rannte sie los, ohne auf die Richtung zu achten. Solange sie sich von der Straße wegbewegte, war es ihr unwichtig, wohin sie lief. Sie achtete nicht auf die Zweige, die ihr die Kleider zerfetzten, und es war ihr gleichgültig, dass es im Wald immer dunkler und bedrohlicher aussah. Nichts war so schrecklich wie der Gedanke, von diesem entsetzlichen Mann wieder eingefangen zu werden.

Hinter sich hörte sie immer noch wütend klingende Stimmen, doch je weiter sie sich entfernte, desto leiser wurden sie. Ohne nachzudenken, hinkte sie immer weiter, bis ihr die Lungen brannten und die Muskeln so wehtaten, dass sie kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen konnte.

Jack hätte besser direkt nach Hause gehen sollen. Rückblickend weiß man immer alles besser. Aber es führt dazu, dass man Dinge bereut, und Jack Warriner bereute bereits genug. Was machte es schon, dass er nun nass war bis auf die Haut und kalt bis ins Mark? Im Gasthof war es schön warm gewesen, das Ale hatte geschmeckt, und er war ausnahmsweise in netter Gesellschaft gewesen. Er hatte nur auf einen Drink bleiben wollen. Nur, um den Staub der Straße aus der Kehle zu spülen und für ein paar Minuten all die Pflichten zu vergessen, die auf ihm lasteten. Danach hatte er die letzten drei Meilen nach Hause reiten wollen. Doch aus einem Drink waren drei geworden, und aus drei wurden sechs. Dann hatte der Gastwirt den Whisky hervorgeholt und irgendjemand hatte plötzlich eine Fiedel in der Hand gehabt. Bevor er sich dessen bewusst geworden war, hatte er laut mit den übrigen Gästen gesungen, mit den Füßen gestampft, in die Hände geklatscht und sich wie ein Jüngling benommen, der nicht die Last der ganzen Welt auf den Schultern trägt.

Und nun musste er für diesen seltenen Augenblick der Schwäche bezahlen. Der Regen war ungewöhnlich stark, selbst für Dezember, aber um Jacks Elend noch zu vergrößern, wurden die dicken Regentropfen vom unerbittlichen Nordostwind fast horizontal auf ihn zu gepeitscht. Direkt in sein Gesicht. Außerdem kämpfte er noch mit den unvermeidlichen Nachwirkungen von zu viel Alkohol in zu kurzer Zeit.

Zum Glück war er nur noch eine halbe Meile von zu Hause entfernt. Bald würde er sicher in dem Haus sitzen, welches sein Geld zum Frühstück verspeiste. Es war eigentlich ein stattliches Anwesen, das zu seinem vornehmen Titel gehörte. Allerdings hing es ihm auch wie ein knarrender, undichter Mühlstein um den Hals. Es war der Ort, an dem all seine Hoffnungen und Träume gnadenlos unter den schweren Stiefeln der Verantwortung zertreten wurden. Von Jahr zu Jahr versank Jack immer tiefer in Schulden. Der bloße Gedanke daran lähmte ihn und verursachte ihm leichte Übelkeit.

Vielleicht lag es aber auch an zu viel Whisky und Ale. Jack wischte sich mit dem Ärmel das tropfnasse Gesicht ab. Beinahe wäre er aus dem Sattel gestürzt, als sein Pferd sich jäh aufbäumte. Er kämpfte noch damit, das Tier wieder unter Kontrolle zu bringen, als er plötzlich die Frau sah. Geisterhaft trat sie zwischen den Bäumen hervor. Ihre Haut schimmerte gespenstisch bleich im blassen Mondlicht, und die Augen erschienen ihm riesig in ihrem Gesicht. Sie starrte ihn wortlos an. Dann floh sie, wurde allerdings am Fortkommen gehindert durch die nassen Röcke und ihr auffälliges Hinken.

In seinem durch Alkohol benebelten Zustand brauchte Jack mehrere Sekunden, bis er begriff, was er außerdem noch gesehen hatte. Einen Knebel in ihrem Mund. Gefesselte Hände. Blankes Grauen im Blick.

Sie stolperte hinkend vor ihm her auf dem schmalen holperigen Weg, der zu seinem Haus führte. Offensichtlich hatte sie Angst um ihr Leben. Wenn man ihren Zustand bedachte, hatte sie wohl nicht unrecht damit. Endlich überwand Jack seine Trunkenheit so weit, dass er sein Pferd gezielt auf sie zu lenkte.

„Miss! Warten Sie! Ich will Ihnen nichts tun.“ Der Wind riss ihm die Worte aus dem Mund.

Als er bei ihr war, beugte sich Jack tief aus dem Sattel und fasste sie am Arm. Sie drehte sich um und versuchte verzweifelt, sich aus seinem Griff zu befreien. Wie ein in die Enge gedrängtes kleines Tier suchte sie einen Ausweg.

„Ich will Ihnen nichts antun.“

Ihre Gegenwehr wurde schwächer, und er merkte, dass ihr die Kräfte schwanden. Es würde ihr nicht helfen, wenn er sie anschrie.

„Ich will Ihnen helfen“, sagte er ruhig und sah, dass sie die Augen zukniff bei seinen Worten. Zum Beweis für seine Aufrichtigkeit ließ er ihren Arm los und hielt die Hände hoch, als ergäbe er sich. Auf der Stelle versuchte sie zu entkommen, aber er machte keine Anstalten, sie aufzuhalten. Er hatte das Richtige getan, denn sie zögerte. Drehte sich um. Mit ihren großen Augen schaute sie ihn intensiv an. Sie schien tief in sein Inneres zu blicken, um herauszufinden, ob er vertrauenswürdig war. Dann verlor sie offenbar alle Kraft und Entschlossenheit und glitt zu Boden.

Gerade noch gelang es Jack, ihren Arm wieder zu ergreifen, bevor sie ganz zusammenbrach. Er musste seine gesamte, nicht unbeträchtliche Kraft aufwenden, um ihr lebloses Gewicht vor sich auf den Sattel zu ziehen. Er hielt sie schützend umfangen. Ihre feuchte Haut war eiskalt und er fragte sich, wie lange sie wohl schon hier draußen dem kalten Winterwetter ausgesetzt gewesen war. Sie fühlte sich so zerbrechlich in seinen Armen an. So kostbar.

Er versuchte, ihr den Knebel aus dem Mund zu ziehen, aber er schaffte es nicht. Vollgesogen mit Regenwasser hatte sich der Knoten noch fester zusammengezogen. Derjenige, der ihr das angetan hatte, war sehr brutal vorgegangen. Aus der Nähe sah Jack jetzt auch die Schwellungen in ihrem Gesicht. Ihre Lippe blutete und war geschwollen. Offenbar war sie misshandelt und gefesselt worden.

Sie war allein, nur mit einem beschmutzten und tropfnassen, ärmellosen Seidenkleid bekleidet, blindlings mitten in der Nacht einen einsamen Pfad entlanggestolpert. Also war sie wahrscheinlich auf der Flucht. Und das...