Nordlicht - Die Tote am Strand - Kriminalroman

von: Anette Hinrichs

Blanvalet, 2019

ISBN: 9783641236557 , 432 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 9,99 EUR

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Nordlicht - Die Tote am Strand - Kriminalroman


 

3. Kapitel

Flensburg, Deutschland

Kriminalhauptkommissarin Vibeke Boisen stand auf der Leiter und strich mit dem Pinsel die Ecken ihrer Wohnzimmerwand. Der Ton nannte sich Birkengrün und versprach laut Hersteller, ein Gefühl der Ruhe zu vermitteln, den Geist zu beleben und die Kreativität anzuregen. Helles Grün galt zudem als Symbol für den Neuanfang im Kreislauf der Natur. Zumindest Letzteres traf zu. Ein Neuanfang. Die vergangenen sechzehn Jahre hatte sie in Hamburg gelebt. Drei Jahre Studium an der Polizeihochschule, weitere fünf Jahre bei einem Kommissariat und beim Kriminaldauerdienst, ehe sie schließlich mit Mitte zwanzig beim LKA 41, dem Fachkommissariat für Tötungsdelikte, gelandet war. Im vorletzten Jahr war sie zur Hauptkommissarin und Stellvertreterin des Teamleiters ernannt worden, und jeder, eingeschlossen sie selbst, war davon ausgegangen, dass sie in die Fußstapfen ihres Chefs treten würde, sobald er in den wohlverdienten Ruhestand ging.

Doch es war anders gekommen. Innerhalb von vier Wochen hatte sie nicht nur ihr schnuckeliges Apartment in Hamburg-Eppendorf gegen einen renovierungsbedürftigen Altbau in der Flensburger Altstadt getauscht, sondern auch ihren Arbeitsplatz. Seitdem redete sie sich ein, dass Flensburg kein Rückschritt war – schließlich beinhaltete der Jobwechsel gleichzeitig eine Beförderung –, sondern schlichtweg das Vernünftigste. Und Vibeke tat meistens das Vernünftigste. Zumindest in den Augen derer, die sie zu kennen glaubten. Sie war immer Profi. Fleißig, funktionierend, kontrolliert. Jemand, der es anderen überließ, Gefühle nach außen zu tragen und Fehler zu begehen. Sie ahnte, dass man in ihr die Langweilerin sah, die sich engstirnig, fast schon fanatisch an Regeln hielt. Niemand wusste, dass sie sich im Inneren wie eine einsame Wölfin fühlte. Und das aus gutem Grund.

Sie tauchte den Pinsel ein weiteres Mal in den Farbeimer, der auf der Abstellfläche der Leiter stand, und fuhr damit fort, die Ecke zu streichen. Das Wohnzimmer sollte am Abend fertig sein. Dann blieb ihr noch das ganze Wochenende für den Rest der Wohnung. Das war zumindest der Plan. Wenn sie sich im Raum umsah, bezweifelte sie allerdings, ob sich das bewerkstelligen ließ. An zwei Wänden stapelten sich die unausgepackten Umzugskartons bis unter die Decke. Auf dem Esstisch standen noch immer die Überbleibsel der kleinen Einweihungsparty, die sie am gestrigen Abend spontan mit ihren beiden besten Freundinnen gefeiert hatte. Wasser- und Weingläser, leere Flaschen und Pizzakartons. Eigentlich waren Kim und Nele nur kurz vorbeigekommen, um auf Vibekes Rückkehr in die alte Heimat anzustoßen, aber dann waren die drei Frauen in alten Erinnerungen schwelgend auf dem Sofa versackt.

Sie kannten sich seit der siebten Klasse. Nele, damals ein spindeldürrer Rotschopf mit Sommersprossen, hatte neben Vibeke im Informatikkurs gesessen und immer ein kleines schwarzes Notizbuch mit sich herumgeschleppt, in dem sie alles notierte, was um sie herum passierte. Heute war sie eine erfolgreiche Journalistin mit taillenlanger Mähne und eine jener Frauen, nach der sich sämtliche Männer die Hälse verrenkten. Kim, die ihr exotisches Aussehen von ihrer aus Hongkong stammenden Mutter geerbt hatte, war an Vibekes zwölftem Geburtstag ins Nebenhaus gezogen. Ein schüchternes Wesen, das mit ihrer gleichaltrigen Nachbarin die Vorliebe für Kampfsport teilte, ein Hobby, das sie bis heute verband. Vibeke hatte den Abend mit den Freundinnen genossen. Vergnügliche Stunden, in denen ihre Sorgen vergessen waren.

Auf dem Esstisch klingelte ihr Handy. Sofort stieg ihr Puls. Hoffentlich war es nicht das Krankenhaus, in dem ihr Vater lag. Jeder Anruf von dort konnte schlechte Nachrichten bringen. Sie legte den Pinsel auf dem Abstreifgitter des Farbeimers ab und stieg die Leiter hinunter. Erleichtert stellte sie mit einem Blick aufs Display fest, dass es nicht die Intensivstation war. Die Nummer gehörte ihrer neuen Dienststelle. Mit ihrem Vorgesetzten war abgesprochen, dass sie ihren Job als Teamleiterin der Mordkommission erst nach dem Wochenende antreten würde, vorausgesetzt, es geschah bis dahin nichts Unvorhergesehenes. Den Dienstausweis hatte man ihr vorsorglich schon ein paar Tage zuvor ausgehändigt.

»Kriminalkommissar Wagner«, meldete sich ein Mitarbeiter ihrer Abteilung. »Entschuldigen Sie, falls ich störe. Ich weiß, Sie fangen eigentlich erst Montag an, aber … vielleicht …« Er rang nach den passenden Worten.

»Warum rufen Sie an, Herr Wagner?« Vibekes Blick fiel auf den Farbeimer. Sie ahnte bereits, dass sie weder die Wand, geschweige denn das komplette Wohnzimmer an diesem Tag zu Ende streichen würde.

Der Beamte kam endlich zur Sache. »Das GZ Padborg hat angerufen. Ein Leichenfund am Kollunder Strand. Der dänische Ermittler sagt, die Tote hätte vermutlich in Deutschland gelebt, und bittet um unsere Unterstützung. Ich dachte, Sie möchten vielleicht darüber informiert werden.«

Vibeke langte nach dem Stift und dem Pizzaprospekt auf dem Esstisch. »Geben Sie mir die Adresse der Fundstelle und den Namen des Ermittlers, der vor Ort ist.«

»Sie wollen da selbst hinfahren?« Wagner klang überrascht. »Herr Holtkötter ist zurzeit nicht erreichbar, aber ich könnte sofort starten.«

Als Vibeke nicht antwortete, gab er ihr hastig die gewünschten Informationen durch.

Sie notierte die Adresse auf dem Pizzaprospekt. »Informieren Sie Padborg, sie sollen die Leiche liegen lassen. Es darf nichts verändert werden. Spätestens in einer halben Stunde bin ich vor Ort.« Sie legte auf, machte den Farbeimer zu und schnappte sich die Autoschlüssel.

Es schüttete wie aus Eimern, als Vibeke fünfundzwanzig Minuten später den Parkplatz am Strand von Kollund erreichte.

Sie stellte ihren Wagen neben einem silbernen Kombi ab, schlüpfte in ihre Regenjacke, die sie immer auf dem Rücksitz parat hielt, und stieg aus. Ein Stück weiter die Straße entlang stand ein alter blauer Bulli auf dem Seitenstreifen. Offensichtlich gab es auch in Dänemark Leute, die lieber dort parkten, wo es ihnen am besten in den Kram passte, anstatt die vorgesehenen Parkplätze zu nutzen. Vermutlich einer dieser Surfertypen, die den Küstenabschnitt als ihr Revier ansahen. Ihr Blick glitt weiter zum Strand, doch hinter dem flatternden Absperrband war kaum etwas auszumachen. Es war die reinste Waschküche.

Sie beeilte sich, zu den Einsatzfahrzeugen ihrer dänischen Kollegen zu kommen. In einem Transporter saßen eine Streifenpolizistin in deutscher Uniform und ein hagerer, schwarz gekleideter Mann.

Vibeke klopfte gegen das Seitenfenster, das einen Spalt weit offen stand. »Hallo. Vibeke Boisen von der Mordkommission Flensburg.«

Der Hagere schob die Tür auf. »Das wird auch Zeit.«

Er sprach deutsch, wie die meisten Dänen in der Grenzregion. Auch Vibeke beherrschte die Sprache des Nachbarlandes seit ihrer Schulzeit.

»Sie müssen Rasmus Nyborg sein.« Sie schob sich auf die hintere Sitzbank und musterte ihn.

Blaugraue Augen in einem markanten Gesicht. Dreitagebart, zurückgehender Haaransatz über einer hohen Stirn, ein intensiver, herausfordernder Blick. Ein Rebell, dachte Vibeke. Er erinnerte sie an Lars Mikkelsen, den älteren der dänischen Schauspielbrüder, für den ihre Freundin Kim seit Jahren schwärmte.

»Vickie Brandt«, stellte sich die rothaarige Streifenbeamtin vor und lächelte sie dabei an. »Bundespolizeiinspektion Flensburg. Ich war zusammen mit meinen Kollegen als Erstes vor Ort. Die sichern den Zugang zum Tatort.«

Rasmus Nyborg fasste für Vibeke die Ereignisse der letzten Stunden in knappen Worten zusammen.

»Die Leiche ist bereits auf dem Weg in die Rechtsmedizin«, schloss er seinen Bericht.

Vibeke fixierte ihren dänischen Kollegen. »Ich hatte darum geben, dass die Tote an Ort und Stelle bleibt. Um mir selbst ein Bild von der Auffindesituation zu verschaffen.«

»Dafür hättest du eher hier sein müssen.« Rasmus Nyborg stieg gebückt aus dem Transporter.

Irritiert, dass der Däne sie einfach duzte, folgte Vibeke ihm ins Freie. Rasmus Nyborg war fast anderthalb Köpfe größer als sie selbst.

Die Wolkendecke riss auf, und es hörte schlagartig auf zu regnen.

»Komm«, forderte der Ermittler sie auf. »Du wolltest dir doch einen Eindruck verschaffen.«

Er tat es schon wieder. Natürlich war Vibeke bekannt, dass in Dänemark bis auf die Königsfamilie jeder geduzt wurde. Allerdings wussten die Dänen, dass in Deutschland das förmlichere Sie galt. Doch wie es aussah, gab Nyborg nicht viel auf Konventionen.

Er schien ihre Gedanken zu erraten. »Wenn das mit dem Duzen für dich ein Problem ist, können wir das auch lassen.« Ein spöttischer Zug erschien um seinen Mund.

»Nein, das geht schon in Ordnung«, versicherte Vibeke, um die Zusammenarbeit mit dem dänischen Kollegen nicht gleich zu Beginn zu beeinträchtigen.

Insgeheim fand sie das gebräuchliche Du der Dänen gewöhnungsbedürftig. Ihr selbst käme es nie in den Sinn, den Polizeidirektor zu duzen, doch sie hielt sich mit ihrer Meinung zurück.

Rasmus Nyborg steuerte auf den abgesperrten Strandbereich zu. Sie schlüpften hinter dem Absperrband an einigen Schaulustigen vorbei, die ihre Smartphones auf die Kriminaltechniker in ihren Schutzanzügen richteten. Dabei hatte Vibeke Mühe, mit dem Dänen Schritt zu halten. Sie nahmen den freigegebenen Trampelpfad bis zu einer schmalen Landzunge, die etwa hundert Meter hinaus in die Förde ragte. Auf halber Höhe steckten Spurenziffern im Sand, die die Fundstellen der aufgefundenen Spuren dokumentierten.

Eine Windböe fegte von der Förde an Land, peitschte das Wasser weit an den Strand. Vibeke schmeckte...