'Wer's hört, wird selig' - Musikalisches und Unmusikalisches

von: Otto Schenk

Amalthea Signum Verlag GmbH, 2018

ISBN: 9783903217256 , 240 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 18,99 EUR

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'Wer's hört, wird selig' - Musikalisches und Unmusikalisches


 

Mein Weg in und um die Musik oder: Was ist Musik?


Ich habe einen seltsamen, fast illegitimen Standpunkt zur Musik. Meine Sehnsucht, eine Musik zu verstehen, ist größer als meine Musikalität. Ich habe kein absolutes Gehör, kaum ein relatives, höre nur besonders falsche Töne und bin sehr stimmungslabil der Musik gegenüber.

Der Ausspruch »Musik wird störend oft empfunden, dieweil sie mit Geräusch verbunden« von Wilhelm Busch könnte ein bissl von mir sein, wobei ich ihn noch erweitern möchte: Ich kann Musik nicht vertragen, wenn ich nicht auf sie eingestellt bin. Weder im Lift, wenn sie rauscht, noch im Lokal, wo sie das Gespräch zudeckt, noch in einer Disco. Ich würde in einer Disco erkranken.

Was mich an der Musik, wenn ich auf sie eingestellt bin, begeistern kann, sind zweierlei Dinge: Einerseits ist Musik eine höhere Mathematik. Sie besteht aus Regeln und aus einer Sehnsucht, diese Regeln zu befolgen oder zu zerstören. Aber auch die ärgste Zerstörung enthält noch eine Sehnsucht nach einer Ordnung, und das Ganze wird in einer mathematischen Schrift aufgezeichnet, die nur einen Teil der Wirkung wiedergibt, der andere Teil ist der Interpretation überlassen – ein relativ geringer Teil. Auch die schlechteste Interpretation der fünften Sinfonie Beethovens lässt das Werk erkennen, und manche Schweinsohren unterscheiden sehr schwer zwischen einer gut dirigierten fünften Sinfonie Beethovens und einer mittelmäßig dirigierten. Nur mit großem Glück und an Tagen, an denen sie gut beieinander sind, erkennen diese Schweinsohren eine ganz schlechte Interpretation. Meist festigen auch nur ein giksendes Horn und/oder eine Tschinelle, die dem Musiker heruntergefallen ist, das Urteil »Das war heut nicht gut gespielt« eines Schweinsohrhörigen.

Ich stand der Musik von Anfang an mit großem Unverständnis gegenüber. Das Gedudel von kindlichen Melodien war mir schon als Kind langweilig, ja sogar peinlich. Wenn wir im Kindergarten »Ist die schwarze Köchin da?« herunterratschen mussten oder wenn man mit uns »Fuchs, du hast die Gans gestohlen« einstudierte, fand ich das läppisch. Es müsste doch noch etwas anderes geben, das dahinter steckt, etwas Komplizierendes, etwas Schwierigmachendes, eine Regel, eine Variationsmöglichkeit. Und der Weg vom Gedudel einer, wenn auch einprägsamen Melodie zum Lied und zur Phrase, die Material für mehr sein musste, war mir noch verschlossen. »Was ist denn Musik eigentlich?« könnte man fragen. Dazu war ich damals natürlich zu blöd und zu jung.

»Aber was ist Musik wirklich?«

Eigentlich bin ich heute noch blöder, wenn auch nicht mehr jung, um diese Frage mit kurzen Sätzen oder überhaupt zu beantworten.

Einerseits ist sie, wie oben schon erwähnt, eine ungeheure mathematische Leistung. Ohne die mathematische Notenleistung des Aufschreibens, Berechnens, Klänge Erforschens, hörbare Verbote befolgend oder verfolgend, ohne die Kenntnis dieser Mathematik gibt es keine Musik. Die nicht aufschreibbare Musik des Altertums ist zugrunde gegangen. Die chinesische Musik hat keine große Karriere gemacht. Die Chinesen retten sich in unsere Konzertsäle. Ihr Gedudel und Gequietsche, so wie wir das manchmal ungerecht bezeichnen, ist ein Klangrausch, aber nicht das, was wir unter Musik verstehen.

Der andere Weg, der ins Volk abgedriftet ist, Pop, Jazz oder die Volksmusik, lebt von der klassischen Musik, muss die klassische Musik zumindest gestreift oder erlernt haben, um dann die Direttissima ins Volkstümliche zu finden. Auch die lebt von einer Regel und von einer Sehnsucht, diese Regel zu befolgen oder zu zerstören, die hinter allem, was Musik ist, drohend steht. Und wenn der Zwölftonerfinder gesagt hat: »Jeder Ton der zwölf Töne muss in der Folge nur einmal verwendet werden und die zwölf Töne sind gleichberechtigt«, so schwindelt er, denn die Töne sind nicht gleichberechtigt. Es sind aber manche Töne miteinander verwandt.

Und sogar die wildeste Zwölftonmusik dient eigentlich nur dazu, nicht wieder ein Liedl zu hören, sondern dass alles ein bisschen fremd und neu ist. Aber die Genies der Zwölftonreihe haben eigene Verbindungen gehört, und hinter denen sind doch die alten Gesetze wie Geister spürbar. Das werden die Zwölftonmeister nur unter der Folter zugeben, aber ich bin nicht sicher, ob ich nicht doch ein wenig recht habe.

Man hat ja Alban Berg den Zwölftonpuccini genannt, und von Arnold Schönberg lieben wir die Stücke, die so klingen, als wäre es schöne Musik. Das Fremde daran ist der große Reiz, der wahrscheinlich durch die Zwölftonregel entstanden ist. Töne sind aber anders verwandt. Anton Bruckner hat in einer seiner Vorlesungen, die sehr humoristisch geführt waren und in denen er sich von einer koketten, naiven Seite wichtig gemacht hat, einmal einen C-Dur-Dreiklang am Klavier angeschlagen und die rührenden Worte gesprochen: »Sagt’s amal, gibt’s was Schöneres?«

Die Sehnsucht nach diesem C-Dur-Dreiklang hat mich sehr früh gepackt. Schon als Kind am Klavier hat ein lehrerartiger Sadomasochist mir eine Sekund angeschlagen, dann dazu eine Terz und mir die Frage gestellt: »Na, was ist schöner?« Die Antwort war mir ganz klar, obwohl ich damals noch nicht mit der Musik verwandt war.

Zwei Wege gibt es, wenn man ins Konzert geht. Der eine Weg ist: Man lässt sich berauschen. Und die großen Komponisten beherrschen den Rausch. Der zweite Weg: Wie verwandelt sich der Rausch? Wie verändert sich alles, was man hört? Was erlebt ein Thema? Und es heißt ja Thema, nicht Melodie. Melodie ist »Fuchs, du hast die Gans gestohlen«. Aber das Thema ist der Baustein einer Sinfonie, ein zerstörbares, zusammenfügbares, auseinander driftendes, Sehnsucht erzeugendes, traurig werdendes, ernst werdendes, wild werdendes Etwas, das durch die Sinfonie führt. Und dieser zweite Weg, den man mühsam beschreitet, ist, sich nicht vom Rausch allein leiten zu lassen, sondern das Thema zu entdecken und ihm zu folgen.

Was führt zu diesem Rausch? Wie schaut der Rausch innen aus? Wie begegnet das Thema, das den Rausch und die Schönheit erzeugt, einem anderen, fremden, auch interessanten, feindlichen Thema? Wie streiten die zwei? Concertare heißt ja eigentlich kämpfen miteinander, streiten miteinander. Das Konzert ist ein mühsamer zweiter Weg, den man sich durch viele Abonnementkonzerte erkämpfen muss, wenn man die Musik der großen Meister hören will. Und jetzt ist die Vielfalt das Interessante. Wer ist ein Rauschmeister? Wer ist ein Konstrukteurmeister? Aber beide kommen ohne einander nicht aus. Die wildest konstruierte Bachfuge, die etwas Mathematisches, Fleißaufgabisches, Konstruiertes hat, muss auch etwas vom fanatischen Rausch haben, sonst ist sie nur ein Lehrstück und unverwendbar für die Ewigkeit.

Das nicht Aufschreibbare von Musik ist ein Todesurteil und wahrscheinlich war sie dann auch nicht so viel wert. Ich glaube nicht, dass die Musik des Altertums eine großartige Musik war.

Ich habe ein großes Manko, das ich gleich zu Beginn meines Buches bekennen möchte. Ich habe mich auf dem Nebenweg der Musik nie zu Hause gefühlt und großartige Sachen, begabte Sachen vor allem und lebendige Sachen geschwänzt. Verdi und Wagner und Teile von Mozart waren für mich Pop-Ersatz. Und ich habe dadurch den großen Schwall der modischen Popmusik geschwänzt. In meinem Buch wird man nur sporadische Ausflüge in diese Gegend finden, für deren Reiz ich auch nicht unempfänglich war, aber daneben hat immer die Disco gedroht und mich abgehalten. Ich fühle mich in einer Disco beklemmt.

Ich habe als Bub die größten Schwierigkeiten mit der Musik gehabt und fand mich zutiefst unbegabt. Meine Finger sträubten sich mit angeborener Ungeschicklichkeit gegen jedes Instrument. Meine Stimme versagte beim einfachen »Hänschen klein«. Mein Gehör wurde nie gefordert und ich stand einem unzugänglichen Irrgarten gegenüber.

Im Konzert war mir wahnsinnig fad, und als ich zum ersten Mal ein Streichquartett hörte und selig war, als es zu Ende ging, musste ich zu meinem Entsetzen erfahren, dass ich nur den ersten Satz gehört hatte. Ein zweiter folgte in unerträglicher Langsamkeit.

Als ich diesen schlaflos durchgestanden hatte, begannen die Musiker mit einem dritten voll trillerndem, neckischem Getue, das mir maßlos auf die Nerven ging. Zugegeben: Ich war damals fünf bis zwölf Jahre alt.

Daraufhin wurde ich in »Hänsel und Gretel« geführt. Die Geschichte war mir bekannt und im Grunde auch schon fad. Aber was mir auf der Bühne von zwei stämmigen Sängerinnen, die vorgaben, Hänsel und Gretel zu sein, unverständlich aufeinander lossangen und peinlich geziert herumstatzten, geboten wurde, übertraf meine schlimmsten Erwartungen. Erst in den Waldszenen erzeugte ein Mann, der sich als Hexe gebärdete, ein paar Momente der Spannung in mir. Das ganze Geschehen wurde von...