Desert Moon - Kriminalroman

Desert Moon - Kriminalroman

von: James Anderson, Wolfgang Franßen

Polar Verlag, 2018

ISBN: 9783945133682 , 360 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

Windows PC,Mac OSX geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 14,99 EUR

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Desert Moon - Kriminalroman


 

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Eine rote Sonne balancierte auf dem Horizont, als ich beim Well-Known Desert Diner ankam. Die Ecken des Hauses waren von den langen Schatten des Sonnenaufgangs umwoben, und am heller werdenden Himmel hing noch der weiße Vollmond. Ich parkte meinen Truck vor der Umgrenzung des Schotterparkplatzes. An der Tür des Diners hing das »Geschlossen«-Schild. Links daneben stand, wie in Trauer um Superman, eine schwarze Telefonzelle. Darin hing noch ein echtes Telefon mit Wählscheibe, deren zehn weiße Ziffern beim Drehen laut schnarrten. Im Gegensatz zu den Geräten im Film funktionierte dieses sogar – sofern man genügend Nickels in der Tasche hatte.

Neugier war für mich eigentlich nie ein Thema gewesen. Ich behandelte sie wie den schlafenden Wachhund eines Schrottplatzes. Regel Nummer eins: Niemals über den Zaun springen. Unschöne Narben auf meinem Rücken erinnerten mich an die wenigen Male, als ich gegen die Regel verstoßen hatte. Nur, weil man den Hund nicht sieht, heißt das noch lange nicht, dass er nicht da ist. Natürlich spähe ich hin und wieder durch den Zaun. Was ich dort sehe, behalte ich für mich.

An diesem Montagmorgen Ende Mai kam ich dem Zaun gefährlich nahe. Walt Butterfield, der Inhaber des Diners, war ein Schrottplatz-Unitarier: Er war seine eigene Ein-Mann-Gemeinde und sein eigener Wachhund. Sein Schrottplatz war der Well-Known Desert Diner, und Walt biss einem die Kehle durch, ohne vorher zu knurren oder zu kläffen. Ich mochte ihn und seinen Schrottplatz. Der Laden war so was wie ein Schrein. Über die Jahre hatte ich es mir angewöhnt, dort regelmäßig eine Pause einzulegen und mich in wilden Fantasien und müßigen Spekulationen zu ergehen. Selbst wenn ich bei Walt nichts abzuliefern hatte, war er meine erste Station. An manchen Tagen auch die letzte.

Aus reiner Gewohnheit drückte ich die Klinke. Die Tür war verschlossen. Wie immer. Das war das Gesicht, das Walt der Welt zeigte. Er schlief in der ehemaligen Vorratskammer, gleich neben der Küche. Hinter dem Diner, am Ende eines breiten Kieswegs, stand eine etwa fünfzehn mal dreißig Meter große Stahlblechhütte aus dem Zweiten Weltkrieg. Hier wohnte Walt in Wahrheit, mit seinen Motorrädern, den Werkzeugen, Ölkanistern und unzähligen Kisten mit Ersatzteilen, aufgetürmt bis zur Decke.

Zu Walts Sammlung gehörten neun der schönsten und exklusivsten Maschinen, die je über die Straßen von Amerika und Europa gedonnert waren, darunter auch seine allererste, eine 1948er Vincent Black Shadow. Auf diesem Motorrad war er, die schmale Taille von seiner koreanischen Kriegsbraut umschlungen, vor Jahrzehnten auf den Kiesweg des Diners eingebogen, der damals noch Oasis Café hieß. Er war zwanzig. Sie war sechzehn und konnte kein Wort Englisch. Ein Jahr später, 1953, hatten sie den Laden gekauft.

Walt hielt den Diner, wie alles in seinem Leben, in makelloser Ordnung. Ich schaute durch die Glastür auf die lindgrünen Plastikbezüge der sechs Sitznischen und zwölf Barhocker. Das Bataillon gläserner Salz- und Pfefferstreuer stand stramm. Die Einfassung des Tresens strahlte mir ihr ewiges Chrom-Lächeln entgegen. Die braunen und elfenbeinfarbenen Linoleum-Fliesen waren wie immer blank gebohnert. An der Wand gegenüber thronte die 1948er Wurlitzer-Jukebox. Hinter dem Tresen, über der Durchreiche aus Edelstahl, hing derselbe Bestellzettel wie immer leblos an einem Haken. Soweit ich wusste, handelte es sich um die letzte Bestellung eines zahlenden Kunden, aufgegeben vermutlich im Herbst 1987.

Ich ging zum Truck zurück, lud die schwere Kiste mit Motorradteilen ab und karrte sie zur Hütte. Letzten Mittwoch hatte Walt aus New York eine ungewöhnliche Sendung erhalten – sechs Pakete, alle unterschiedlich groß. Nicht unhandlich und schwer wie die Motorradteile, aber das war nicht das Einzige, was mir an ihnen aufgefallen war. Auf jedem Paket stand zwar eine andere New Yorker Rücksendeadresse, doch aufgegeben hatte sie ein und dieselbe Person: Chun-Ja. Kein Nachname. Sie waren im Doppelpack angekommen und alle am selben Tag verschickt worden, jeweils zwei mit einem der drei großen Kurierunternehmen – FedEx, UPS und DHL. Wegen einer Sondervereinbarung fuhr ich für FedEx und UPS, nicht aber für DHL.

Ich hatte meine vier Pakete neben die beiden vom DHL-Fahrer gestellt. Am Freitagmorgen standen sie immer noch dort. Zwei Tage und Nächte waren sie nicht angerührt worden. Das war nicht nur ungewöhnlich, in all den Jahren, die ich Walt nun schon belieferte, war es kein einziges Mal vorgekommen.

Es konnte nur eine Erklärung geben: Walt war verreist. Allerdings hatte er, soweit ich wusste, keine Familie oder Freunde und auch sonst nichts und niemanden, wo er hinkonnte. Da er schon älter war, lag die Vermutung nahe, dass er eines natürlichen Todes gestorben war und steif wie ein Brett in irgendeiner Ecke seines Diners oder seiner Werkstatt lag. Oder er war mit einem seiner Motorräder in der Wüste verunglückt. Wer Walt kannte, wusste, wie weit hergeholt solche Todesszenarien waren.

Ich klopfte gegen die Tür der Hütte. Ein Mal. Walt hörte sehr gut. Mit neunundsiebzig Jahren war fast alles an ihm noch so, wie es sein sollte, abgesehen von seinem Verhalten gegenüber anderen. Wo auch immer er sich auf seinem Grundstück aufhielt oder was er gerade tat, sein sechster Sinn verriet ihm, wenn jemand in der Nähe war. Entweder tauchte er dann im nächsten Moment von alleine auf oder er ignorierte einen einfach. Dann war es das Schlauste, so schnell wie möglich wieder abzuziehen. Mit Rufen und Hämmern zog man sich nur seinen Zorn zu. Und wenn es auf diesem Planeten einen fast Achtzigjährigen gab, den man nicht gegen sich aufbringen wollte, dann Walt Butterfield.

Vermutlich war ich der einzige Mensch, der seine Werkstatt in den letzten zwanzig Jahren oder länger von innen gesehen hatte. Doch die gelegentlichen Ausflüge in Walts Welt, stets auf schroffe Einladung hin, dauerten nur so lange, bis ich die Sackkarre entladen hatte.

Ich stellte den neuen Karton mit Ersatzteilen neben die Tür und machte, was am Vernünftigsten war. Dass Walt nicht auf mein Klopfen reagiert hatte, war mein Glück. Sonst hätte ich womöglich etwas richtig Dummes getan und ihn gefragt, wo er gesteckt hatte und was in den sechs Paketen gewesen war.

Eigentlich hoffte ich immer, Walt zu erwischen oder vielmehr, ihn in einem Moment anzutreffen, wenn er erwischt werden wollte. Wenige Male hatten wir zusammen im geschlossenen Diner gesessen. Hin und wieder sagte er was, meistens nicht. Wenn er reden wollte, hörte ich ihm zu. Bei ein, zwei Gelegenheiten hatte er mir sogar ein Frühstück gemacht. Er wohnte länger in der Gegend als jeder andere oder wenigstens jeder mit genügend Grips und verlässlichem Gedächtnis.

Entschlossen, keinen weiteren Gedanken an die merkwürdigen Pakete oder Walts Abwesenheit zu verschwenden, kehrte ich zum Truck zurück. Die großen Rätsel des Lebens interessierten mich herzlich wenig. Wer die Pyramiden erbaut hat oder ob Cortés homosexuell gewesen war, das waren Fragen, die meine Neugier-Messnadel nicht ausschlagen ließen. Aber Walts Abwesenheit und die seltsamen Pakete waren unwiderstehliche Rätsel. Der Diner und ich musterten uns. Wie Walt blickte auch er auf eine lange, bewegte Geschichte zurück.

Der 191 ist der Highway, auf dem man Price, Utah, in Richtung Norden oder Süden verlässt. Im Norden liegt Salt Lake City. Im Süden erreicht man erst Green River, später Moab. Die Abzweigung zur State Road 117 liegt etwa zwanzig Meilen außerhalb der Stadtgrenze von Price. Zehn Meilen weiter östlich, an der 117, liegt linker Hand, mitten im zerklüfteten Niemandsland, der Well-Known Desert Diner.

Von 1955 bis 1987 hatte der Diner in Dutzenden von B-Movies mitgespielt. In Wüsten-Horrorfilmen, Wüsten-Bikergang-Filmen und Filmen, in denen jemand, meistens eine attraktive junge Frau, durch die Wüste fährt und etwas Schreckliches erlebt.

Hin und wieder stößt man auf einem Privatsender im Fernsehen auf eine dieser Low-Budget-Perlen. Sobald der Diner auf dem Bildschirm auftaucht, sitze ich wie gebannt davor. Zu meinen Lieblingsfilmen zählen solche mit Atommonstern oder Aliens, die Wüstenkäffer terrorisieren. Am Ende gewinnen immer die Einwohner und retten nebenbei den ganzen Planeten. Dafür benötigen sie meistens nicht viel mehr als eine Autobatterie, eine Handvoll Winchester-Gewehre und einen durchreisenden Professor, der eine verrückte Theorie hat – und eine schöne, wilde Tochter.

Der Diner wurde 1929 erbaut. Wegen der hellen Kieseinfahrt, der altmodischen Zapfsäule mit dem Glaszylinder und der weißen Lehmwände mit den grünen Fensterrahmen wirkt der Diner vertraut, wie ein Zuhause, das man sein Leben lang gekannt, aber nie besucht hat. Selbst hartgesottene, sonnenverbrannte Trucker drosseln im Vorbeifahren das Tempo und lächeln in sich hinein.

Zwei große Reklametafeln, eine in Richtung Süden, eine in Richtung Norden des Highway 191 machten Werbung für den Diner. »Hausgemachter...