Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen - Ursachen, Erscheinungsformen und Antworten

von: Klaus Fröhlich-Gildhoff

Kohlhammer Verlag, 2018

ISBN: 9783170326354 , 335 Seiten

3. Auflage

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 26,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen - Ursachen, Erscheinungsformen und Antworten


 

3          Allgemeines Modell der Entstehung von Verhaltensauffälligkeiten


 

3.1       Allgemeine Überlegungen


Die modernen Entwicklungswissenschaften, mittlerweile auch alle theoretischen Konzepte der unterschiedlichen Psychotherapieschulen, gehen von einem engen Zusammenwirken biologischer, sozialer und innerpsychischer/-psychologischer Faktoren bei der seelischen und körperlichen Entwicklung von Menschen allgemein – und der Entwicklung von seelischen Störungen und Verhaltensauffälligkeiten im Besonderen – aus. Verhaltensauffälligkeiten werden dabei als eine mögliche Variante unterschiedlicher Entwicklungsverläufe gesehen. Es lassen sich dabei keine eindeutigen linearen Kausalitäten herstellen, etwa nach dem Motto: »Fritz ist in der Kindheit von seinen Eltern vernachlässigt worden, deshalb hat er in der Jugend aggressives Verhalten entwickelt.« Gerade die Ergebnisse der Resilienzforschung (vgl. die Zusammenstellung bei Wustmann 2004, Fröhlich-Gildhoff & Rönnau-Böse 2011) haben deutlich aufgezeigt, dass unter ähnlichen Lebensbedingungen oder nach ähnlichen, auch sehr schwierigen Erfahrungen, Menschen sich unterschiedlich – und auch seelisch gesund – entwickeln können. Komplexe Ursachen- und Wirkungszusammenhänge lassen sich bestenfalls auf einer allgemeinen Ebene beschreiben, eine präzise Rekonstruktion ist nur individuell unter Berücksichtigung der jeweiligen Lebensgeschichte möglich.

Petermann et al. (2004, S. 283) machen deutlich, »dass gestörte oder normale Funktionsweisen nicht aufgrund einer einzigen Ursache beschrieben oder vorhergesagt werden können«. Sie beschreiben das Prinzip der »Äquifinalität« und »Multifinalität«: »Das Prinzip der Äquifinalität besagt, dass Organismen von unterschiedlichen Anfangsbedingungen aus oder über unterschiedliche Wege das gleiche Entwicklungsziel (Sozialverhalten, Intelligenz usw.) erreichen können. Normales wie abweichendes Verhalten kann also aus einer Vielzahl von Entwicklungspfaden resultieren. (…) Das Prinzip der Multifinalität, ist dem Prinzip der Äquifinalität komplementär. So wie die verschiedensten Ursachen zu einem Entwicklungsausgang führen können, kann eine Funktionsweise im Entwicklungsverlauf unterschiedliche Ergebnisse haben. Individuen mit vergleichbaren Ausgangsbedingungen können sich aufgrund günstiger und ungünstiger Rahmenbedingungen unterschiedlich entwickeln. So kann beispielsweise ein Kind mit einem ›schwierigen Temperament‹ in einem Kindergarten aufgenommen werden, in dem die ErzieherInnen darauf günstig reagieren, während es unter anderen Bedingungen vielleicht permanent in soziale Konflikte geraten wäre und eine Neigung zu Wutausbrüchen entwickelt hätte. Ein schädigendes Ereignis muss nicht notwendigerweise bei jedem Individuum zu Beeinträchtigungen führen (…)« (ebd.). Folgende Abbildung soll dieses Prinzip noch einmal verdeutlichen ( Abb. 3.1):

Abb. 3.1: Äquifinalität und Multifinalität (aus Petermann, F., Niebank, K. & Scheithauer, H. (2004). Entwicklungswissenschaft: Entwicklungspsychologie – Genetik – Neuropsychologie. Berlin: Springer, S. 283; © Springer-Verlag)

Derartige Modelle beschreiben noch nicht ausreichend das komplexe, nicht-lineare Zusammenwirken unterschiedlichster Faktoren. Aussagen, die von einem »additiven Zusammenwirken« ausgehen – etwa in der Form: »Die Intelligenz wird zu 50% durch Gene und zu 50% durch Umwelt bedingt« – sind in diesem Sinne völlig unzureichend ( Kap. 3.3.1). »Im Gegensatz zu mechanischen, deterministischen Systemen, für die das Ergebnis völlig vorhersagbar ist, wenn die Ausgangsbedingungen und die später einwirkenden Kräfte bekannt sind, ist es bei lebenden Systemen unmöglich, aufgrund einer einzigen Ursache ihre Entwicklung zu beschreiben oder vorherzusagen. Der Grund dafür ist, dass sie nicht einfach auf Einflüsse reagieren, sondern selbstorganisierend und selbstkonstruierend sind, und dies innerhalb von Umwelten, die ihrerseits selbstorganisierend und selbstkonstruierend sind« (Petermann et al. 2004, S. 262).

Petermann et al. (2004) beschreiben ein »Modell der selbstorganisierenden Komplexität« (ebd., S. 261 ff). Dieses Modell wird von Kybernetikern und Systemtheoretikern mittlerweile sowohl für naturwissenschaftliche Prozesse im engeren Sinne, aber auch für soziale Prozesse und als Grundgesetz lebender Organismen überhaupt angenommen. Dabei streben Systeme einerseits nach Ordnung: »Das Programm des Lebens beinhaltet nämlich, der unendlichen Komplexität einer einmalig ablaufenden Welt-Evolution, dem Chaos, dadurch Ordnung abzuringen, dass Regelmäßigkeiten ge- und erfunden werden (…). Selbst dort, wo diese Regelsuche und Ordnungskonstitution eigentlich erfolglos verlaufen ist, werden Strukturen konstruiert« (Kriz 2004, S. 18 f). So kommt es immer wieder zum Versuch, komplexe Zusammenhänge zu ordnen. Andererseits kommt es durch Rückkoppelungen und die »Verrechnung« von (neuen) Außeneinflüssen immer wieder zu einem (partiellen) Zerfall der selbstorganisierten Ordnungssysteme. »Die Möglichkeiten der ›Welt‹ zu begegnen, lassen sich somit zwischen zwei Polen einordnen: Auf der einen Seite, im Extrem, finden wir das Chaotische, Unvorhersagbare, Hochkomplexe. Und je mehr wir uns auf die Einmaligkeit von Prozessen einlassen, desto weniger haben wir Kategorien zur Hand und können Prognosen aufgrund der ›Regelmäßigkeiten‹ anstellen; und desto eher sind wir damit der Angst vor Unberechenbarkeit und Kontrolllosigkeit ausgeliefert. Aber desto weniger reduziert ist auch unsere Erfahrung, die nun eher die Wahrnehmung von Neuem, Überraschendem und Kreativem zulässt. Im anderen Extrem finden wir die reduktionistische Ordnung; und je mehr wir auf dieser anderen Seite kategorisieren und Regelmäßigkeiten (er)finden, desto planbarer, prognostizierbarer und damit sicherer wird unsere Welterfahrung – jedoch erscheinen uns die so behandelten ›Dinge‹ auch umso starrer, langweiliger, reduzierter und gleichförmiger« (ebd., S. 21); der Autor spricht damit auch eine andere Grunddynamik, nämlich die Polarität von Autonomie und Abhängigkeit an (vgl. hierzu Hufnagel & Fröhlich-Gildhoff 2002, Mentzos 2000). Insgesamt haben wir es immer mit Kreisprozessen, sogenannter »zirkulärer Kausalität« zu tun (vertiefend: Haken & Schiepek 2006). »Bei der Selbstorganisation handelt es sich um einen Prozeß, durch den ein offenes System einen neuen Zustand einnimmt, ohne spezifischen, lenkenden Einfluss von außen, ohne einen Bauplan oder einen Schöpfer (vgl. Maas & Hopkins 1998). Sie lässt sich auch als Fähigkeit eines Systems definieren, aus sich selbst heraus eine neue räumliche, zeitliche und funktionelle Struktur zu erlernen« (Petermann et al. 2004, S. 264). Es geht also darum, einerseits immer neue Ordnungsstrukturen zu schaffen und gleichzeitig die Offenheit für die Veränderung dieser Strukturen zu erhalten. »Im Sinne der Selbstorganisation kann die Entwicklung als deterministischer und gleichzeitig stochastischer Prozess gesehen werden« (ebd.). Auch die Entwicklung des Gehirns kann als selbstorganisierendes System beschrieben werden, »das anfänglich noch undifferenziert ist, doch aufgrund geringfügiger adaptiver Veränderungen beginnt, sich unter den Systemelementen eine Ordnung herauszubilden. Diese Veränderungen können sich verstärken und zu einer positiven Rückkoppelung führen (…)« (ebd., S. 265; vgl. auch z. B. Hüther 2004).

Vor diesem Hintergrund geht die Entwicklungswissenschaft davon aus, dass sich Entwicklungspfade beschreiben lassen, bei denen Verzweigungen zu unterschiedlichen Entwicklungsverläufen führen – wobei, und dies sei noch einmal betont, die Entwicklung immer als ko-konstruktiver Prozess zwischen Individuum und Umwelt gesehen wird. Dann kann die Entstehung von Auffälligkeiten »in Übereinstimmung mit dieser Vorstellung als fortschreitende Verzweigung gesehen werden, die das Kind von Pfaden abbringt, die zu kompetentem Verhalten führen. Im Konzept der Entwicklungspfade lassen sich grob vier mögliche Verläufe unterscheiden, die sich aus der Kombination von Kontinuität und Diskontinuität mit einem günstigen bzw. ungünstigen Entwicklungsverlauf ergeben. Sroufe (1997) beschreibt sie in seiner schematischen Darstellung als: a) kontinuierliche Fehlanpassung, die in einer Störung mündet, b) kontinuierliche Positivanpassung, c)...