Ein Teil von ihr - Thriller

Ein Teil von ihr - Thriller

von: Karin Slaughter

HarperCollins, 2018

ISBN: 9783959677790 , 544 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

Windows PC,Mac OSX geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 8,99 EUR

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Ein Teil von ihr - Thriller


 

1


»Andrea«, sagte ihre Mutter. Dann, als Zugeständnis an eine tausendmal geäußerte Bitte: »Andy.«

»Mom …«

»Lass mich ausreden, Schatz.« Laura hielt inne. »Bitte.«

Andy nickte und machte sich auf eine lang erwartete Standpauke gefasst. Mit dem heutigen Tag war sie offiziell einunddreißig. Ihr Leben kam nicht vom Fleck. Sie musste endlich selbst Entscheidungen treffen, statt sie vom Schicksal für sich treffen zu lassen.

»Es ist meine Schuld«, sagte Laura.

Andy spürte, wie sich ihre rissigen Lippen unwillkürlich öffneten. »Was ist deine Schuld?«

»Dass du hier bist, hier festsitzt.«

Andy wies mit dem ausgestreckten Arm auf das Restaurant. »Im Rise-n-Dine

Ihre Mutter ließ den Blick von Andys Scheitel bis zu ihren Händen wandern, die sich unruhig auf der Tischplatte bewegten. Schmutzig braunes Haar, zu einem schlampigen Pferdeschwanz gebunden. Dunkle Ringe unter den müden Augen. Bis aufs Fleisch abgebissene Fingernägel. Die Knochen ihres Handgelenks standen hervor. Die blasse Haut war hellgrau wie das Wasser, in dem die Würstchen für die Hotdogs warm gehalten wurden.

Und in diesem Mängelkatalog war ihre Arbeitskleidung noch nicht einmal enthalten. Die marineblaue Uniform hing wie ein Sack an Andy. Auf der Brusttasche war das steife silberne Abzeichen aufgenäht, das Palmenlogo von Belle Isle, darum herum standen die Worte Police Dispatch Division. Wie eine Polizistin, aber nur fast. Wie eine Erwachsene, aber nicht wirklich. Fünf Nächte in der Woche saß Andy zusammen mit vier anderen Frauen in einem dunklen, stickigen Raum, nahm Notrufe entgegen, überprüfte Autokennzeichen und Führerscheine und teilte Aktennummern zu. Gegen sechs Uhr morgens schlich sie dann zum Haus ihrer Mutter zurück und verschlief den größten Teil des Tages.

»Ich hätte niemals zulassen dürfen, dass du hierher zurückkommst«, sagte Laura.

Andy presste die Lippen zusammen und starrte auf die letzten Rühreireste auf ihrem Teller.

»Mein liebes Mädchen.« Laura fasste über den Tisch nach der Hand ihrer Tochter und wartete darauf, dass sie aufblickte. »Ich habe dich aus deinem Leben gerissen. Ich hatte Angst und habe mich egoistisch benommen.« Tränen standen in Lauras Augen. »Ich hätte dich nicht so sehr brauchen dürfen. Ich hätte nicht so viel verlangen dürfen.«

Andy schüttelte den Kopf und sah wieder auf ihren Teller.

»Schatz.«

Andy schüttelte weiter den Kopf, denn sonst hätte sie reden müssen, und dann müsste sie auch die Wahrheit sagen.

Ihre Mutter hatte sie um nichts gebeten.

Vor drei Jahren war Andy gerade auf dem Weg in ihre Bruchbude auf der Lower East Side gewesen, einer Zweizimmerwohnung im vierten Stock ohne Aufzug, die sie mit drei anderen Mädchen teilte, von denen sie keines besonders mochte und die alle jünger, hübscher und fähiger waren als sie. Da hatte Laura angerufen.

»Brustkrebs«, hatte sie gesagt. Sie hatte nicht geflüstert oder mit der Wahrheit hinterm Berg gehalten, sondern war in ihrer üblichen ruhigen Art unumwunden zur Sache gekommen. »Drittes Stadium. Der Chirurg wird den Tumor entfernen und gleich auch noch eine Gewebeprobe der Lymphknoten entnehmen, um festzustellen …«

Laura hatte noch mehr gesagt, sie war in einem Ausmaß an distanzierter, wissenschaftlicher Genauigkeit ins Detail gegangen, die an Andy verschwendet war, da sich ihre Fähigkeit zur Sprachverarbeitung vorübergehend in Luft aufgelöst hatte. Sie hatte sich mehr auf das Wort »Brust« als auf »Krebs« konzentriert und sofort an den üppigen Busen ihrer Mutter gedacht, am Strand, wo sie ihn in ihrem schlichten einteiligen Badeanzug versteckt hielt. Wie ihre Brüste bei dem Fest zu Andys sechzehntem Geburtstag (das Jane Austens Stolz und Vorurteil als Motto gehabt hatte) aus dem Ausschnitt ihres Empirekleids lugten. Wie sie in den gepolsterten Körbchen ihres BHs festgezurrt waren, wenn sie in ihrer Praxis auf der Couch saß und mit ihren Patienten arbeitete.

Laura Oliver war keine Sexbombe, aber sie war immer das gewesen, was Männer als gut gebaut bezeichneten. Oder vielleicht hatten es auch Frauen so bezeichnet, wahrscheinlich im letzten Jahrhundert. Laura war nicht der Typ für viel Make-up und Perlenkette, doch sie verließ das Haus nie, ohne ihren grauen Kurzhaarschnitt ordentlich zu föhnen, ihre Hose aufzubügeln und saubere und ordentliche Unterwäsche zu tragen.

Andy schaffte es an den meisten Tagen kaum aus dem Haus. Sie musste ständig umkehren, weil sie etwas vergessen hatte, wie zum Beispiel das Handy oder den Dienstausweis und einmal sogar ihre Sneakers, weil sie in Hausschuhen losmarschiert war.

Wenn sie in New York nach ihrer Mutter gefragt wurde, fiel ihr immer etwas ein, was Laura über ihre eigene Mutter gesagt hatte: Sie weiß immer, wo die Deckel ihrer Tupperdosen sind.

Andy war es schon zu viel, einen Ziploc-Beutel zu verschließen.

Lauras schwerer Atem am anderen Ende der Leitung, zwölfhundert Kilometer entfernt, war das einzige Anzeichen dafür gewesen, dass ihr dieses Gespräch nicht leichtfiel. »Andrea?«

Andys Ohren, in denen die Geräusche New Yorks dröhnten, stellten sich wieder auf die Stimme ihrer Mutter ein.

Krebs.

Andy versuchte zu stöhnen, aber sie brachte den Laut nicht zustande. Es war Schock. Es war Angst. Es war blankes Entsetzen, weil die Welt plötzlich aufgehört hatte, sich zu drehen, und alles – Andys Scheitern, die Enttäuschungen, der ganze Horror ihrer New Yorker Existenz in den letzten sechs Jahren – zurückwich wie das Meer vor einem Tsunami. Dinge, die besser im Verborgenen geblieben wären, lagen plötzlich offen zutage.

Ihre Mutter hatte Krebs.

Sie konnte daran sterben.

Sie konnte sterben.

»Es gibt immer noch die Chemo«, sagte Laura, »was aber, wie man hört, keine einfache Sache ist.« Ihre Mutter war daran gewöhnt, Andys anhaltendes Schweigen zu füllen, hatte längst gelernt, dass es eher in einer Auseinandersetzung endete als in der Wiederaufnahme einer höflichen Unterhaltung, wenn sie ihr Stillschweigen ansprach. »Dann schlucke ich täglich eine Pille, und das war’s. Die Fünf-Jahres-Überlebensrate liegt bei mehr als siebzig Prozent, man braucht sich also keine allzu großen Sorgen zu machen, außer dass man es eben durchstehen muss.« Eine Pause, um Atem zu schöpfen, oder vielleicht auch in der Hoffnung, dass Andy nun so weit war, etwas zu sagen. »Es ist sehr gut behandelbar, Schatz. Ich will nicht, dass du dir Sorgen machst. Bleib einfach, wo du bist. Es gibt nichts, was du für mich tun kannst.«

Eine Autohupe hatte geschrillt, und Andy blickte auf. Sie stand reglos wie eine Statue mitten auf dem Fußgängerübergang. Mühsam setzte sie sich in Bewegung. Das Handy lag heiß an ihrem Ohr. Es war nach Mitternacht. Schweiß lief ihr über den Rücken und sickerte wie geschmolzene Butter aus ihren Achselhöhlen. Sie konnte das Lachen vom Band aus einer Sitcom hören, Flaschenklirren und einen anonymen, durchdringenden Hilfeschrei, wie sie ihn in ihrem ersten Monat in der City auszublenden gelernt hatte.

Es war zu still auf ihrer Seite der Leitung. Schließlich hatte ihre Mutter gesagt: »Andrea?«

Andy hatte den Mund geöffnet, ohne zu wissen, welche Worte herauskommen würden.

Dann: »Schatz?« Immer noch geduldig, immer noch auf diese großherzige Weise nett, wie ihre Mutter zu allen Leuten war. »Wenn ich die Straßengeräusche nicht hören würde, könnte ich annehmen, die Verbindung sei unterbrochen.« Sie hielt wieder inne. »Andrea, du musst mir jetzt wirklich bestätigen, dass du verstanden hast, was ich dir sage. Es ist wichtig.«

Andy stand noch immer der Mund offen. Der für ihre Wohngegend typische Kanalisationsgeruch klebte in ihrer Nase wie eine verkochte Nudel, die jemand an die Küchenwand geklatscht hatte. Noch ein Auto hupte. Noch eine Frau schrie um Hilfe. Noch mehr Schweiß lief über Andys Rücken und sammelte sich am Bund ihres Slips. Das Gummiband war an den Stellen eingerissen, wo sie die Daumen einhakte, wenn sie die Hose herunterzog.

Andy konnte sich nicht erinnern, wie sie sich aus ihrer Erstarrung befreit hatte, aber sie wusste noch die Worte, die sie schließlich zu ihrer Mutter gesagt hatte: »Ich komme nach Hause.«

Nach sechs Jahren in der City stand sie mehr oder weniger mit leeren Händen da. Ihre drei Teilzeitjobs hatte sie alle per SMS gekündigt. Ihre U-Bahn-Karte hatte sie einer Obdachlosen geschenkt, die ihr erst gedankt und sie dann als gottverdammte Hure beschimpft hatte. In Andys Koffer kam nur das Allernötigste: Lieblings-T-Shirts, zerrissene Jeans, mehrere Bücher, die nicht nur die Reise von Belle Isle nach New York überlebt hatten, sondern auch fünf verschiedene Umzüge in zunehmend verwahrloste Wohnungen. Andy würde zu Hause weder ihre Handschuhe noch ihren gefütterten Wintermantel oder ihre Ohrenschützer brauchen. Sie machte sich nicht mal die Mühe, ihr Bettzeug zu waschen oder es auch nur von dem alten Chesterfield-Sofa abzuziehen, auf dem sie schlief. Sie war im Morgengrauen zum Flughafen LaGuardia aufgebrochen, keine sechs Stunden nach dem Anruf ihrer Mutter. Von einem Moment auf den andern war ihr Leben in New York vorbei. Die einzige Erinnerung, die ihren drei jüngeren und fähigeren Mitbewohnerinnen noch von ihr blieb, war ein halb aufgegessener Fishburger im Kühlschrank und ihr Anteil an der Miete für den nächsten Monat.

Das war vor drei Jahren gewesen,...