Der eiserne Gustav - Ungekürzte und kommentierte Ausgabe

von: Hans Fallada

Null Papier Verlag, 2019

ISBN: 9783962813321 , 899 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 0,49 EUR

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Der eiserne Gustav - Ungekürzte und kommentierte Ausgabe


 

5 – Der Schlüssel


Auf dem Flur hör­te Ha­cken­dahl wie­der den Schim­mel mah­nend klop­fen und ras­seln. Das Lieb­lings­tier des Herrn war ver­wöhnt, es for­der­te sich sein Ex­tra­fut­ter. Nein, es war nicht in Ord­nung mit dem Schim­mel und mit dem Erich auch nicht: Es war mit dem Herrn des Hau­ses nicht in Ord­nung! Nach au­ßen pein­li­che Ge­rech­tig­keit und Pf­licht­treue, aber eine hal­be Stun­de frü­her stand er auf und schüt­te­te dem Schim­mel eine Ex­tra­ra­ti­on, heim­lich, ehe der Fut­ter­meis­ter Ra­bau­se kam. Alle sei­ne Kin­der gal­ten ihm gleich, aber wenn der Erich schmei­chel­te und nicht abließ, so lach­te er schließ­lich, la­chend ge­währ­te er ihm, was er den an­de­ren brum­mig ab­schlug.

Er hat­te bei sich ge­meint, dies sei nicht schlimm, nie­mand konn­te sei­nem Her­zen be­feh­len, wen es lie­ber ha­ben soll­te. Aber es war schlimm, es war kei­ne Ord­nung, ja, es war so­gar wi­der die Ord­nung, die mensch­li­che und die gött­li­che, den Be­weis des­sen trug er in der Hand.

Er trug ihn in der Hand, zwi­schen zwei spit­zen Fin­gern trug er den Schlüs­sel, wie einen Zau­ber­schlüs­sel, des­sen Wir­kung man noch nicht ge­nau kennt, mit dem man vor­sich­tig um­ge­hen muss. Es ist ein Zau­ber­schlüs­sel, er schließt dem ei­ser­nen Gu­stav neue Er­kennt­nis­se auf. Kein Va­ter­herz kann ei­sern sein, es ist Bo­den, der im­mer neu ge­pflügt wird; man­che von den Pflug­fur­chen ver­ge­hen nie wie­der.

Ha­cken­dahl steht jetzt vor sei­nem Schreib­tisch; er weiß nicht ge­nau, wie er hier­her­ge­kom­men ist, aber nun ist er hier, und es gibt kein Zu­rück­wei­chen mehr. Gibt es das über­haupt je? Ein preu­ßi­scher Un­ter­of­fi­zier weicht nicht zu­rück, er sieht dem Feind ins Auge, er greift an! Ha­cken­dahl blickt auf den Schreib­tisch, es ist ein großes Stück aus hel­ler Ei­che, viel ge­schnitzt, die gel­ben Mes­sing­be­schlä­ge zei­gen Lö­wen­mäu­ler.

In solch ein Lö­wen­maul stößt er den Schlüs­sel, er dreht ihn im Schloss, sie­he da, der Schlüs­sel schließt. Es über­rascht ihn nicht, er hat es nie an­ders er­war­tet, als dass die­ser von ei­nem Schlos­ser an­ge­fer­tig­te Schlüs­sel sei­ne Schreib­tisch­schub­la­de schlie­ßen wür­de. Und er tut es nun also auch – Ha­cken­dahl sieht in die Lade. Plötz­lich fällt ihm ein, dass frü­her, als die Kin­der noch klei­ner wa­ren, rechts vorn im­mer ein Block aus braun­rot ge­brann­tem Zu­cker lag. Je­den Sonn­tag, nach dem Es­sen, tra­ten die Kin­der hier vor der Lade an. Der Va­ter hielt Ge­richt über die Wo­che, mit dem Mes­ser schnitt er Stücke von dem Zucker­block ab, je nach Ar­tig­keit, klei­ne­re und grö­ße­re. Er hat­te das für gut und ge­sund ge­hal­ten; in sei­ner Ju­gend war Zu­cker et­was Kost­ba­res ge­we­sen, man glaub­te da­mals, dass er große Kräf­te ver­lieh. Ha­cken­dahl hat­te star­ke Kin­der ha­ben wol­len …

Spä­ter hat­te sich her­aus­ge­stellt, dass dies falsch ge­we­sen war. Der Zahn­arzt hat­te er­klärt, vie­les Zu­cker­es­sen ver­der­be den Kin­dern die Zäh­ne. Ha­cken­dahl hat­te es gut ge­meint, hat­te es aber falsch ge­macht. Das war oft so im Le­ben: Man mein­te es gut und mach­te es doch falsch. Vi­el­leicht wuss­te man nicht ge­nug, hat­te zu we­nig ge­lernt. Mit Erich hat­te er es auch gut ge­meint und hat­te es falsch ge­macht. Er war nicht streng ge­nug ge­we­sen, und nun hat­te er einen Dieb zum Soh­ne, das Schlimms­te, was es gibt: einen Haus­dieb, einen Bur­schen, der El­tern und Ge­schwis­ter bes­tiehlt …

Der Mann vor der Schreib­tischla­de stöhnt auf. Sein Stolz ist ge­trof­fen, sei­ne Sau­ber­keit ist schmäh­lich be­schmutzt; wenn der Sohn stiehlt, kann der Va­ter nicht ohne Ma­kel sein! Er hat, wäh­rend er hier steht, ein sehr ge­nau­es Ge­fühl für die er­bar­mungs­los ver­rin­nen­de Zeit, er hat es vier Uhr schla­gen hö­ren. Er muss hin­un­ter in den Stall, Füt­tern und Put­zen der Pfer­de be­auf­sich­ti­gen. In ei­ner hal­b­en Stun­de kom­men schon die ers­ten Nacht­drosch­ken von ih­rer Tour zu­rück, er muss mit ih­nen ab­rech­nen. Er hat kei­ne Zeit, hier ta­ten­los zu ste­hen und über einen miss­ra­te­nen Sohn zu grü­beln.

Ja­wohl, er müss­te jetzt das Geld in den Lein­wand­beu­tel­chen nach­zäh­len, er müss­te den Fehl­be­trag fest­stel­len und den Sohn ver­neh­men. Dann das Füt­tern be­auf­sich­ti­gen und das Put­zen, an­span­nen las­sen, ab­rech­nen … Er tut nichts von al­le­dem, er schüt­telt nach­denk­lich ein Lein­wand­beu­tel­chen, So­phie hat mit ro­tem Fa­den in Kreuz­stich »10 Mark« dar­auf ge­stickt, das Beu­tel­chen ent­hält Gold­stücke, Zehn­mark­stücke …

Aber er zählt den In­halt nicht nach, er geht we­der zum Sohn noch in den Stall, er ist in Erin­ne­run­gen ver­sun­ken. Sei­ne Mi­li­tär­zeit hat ihn zum Mann ge­macht, sie hat ihm Grund­sät­ze ge­ge­ben, al­les, was er spä­ter er­leb­te, im tä­ti­gen bür­ger­li­chen Da­sein, es gab Bei­spie­le da­für in der Mi­li­tär­zeit, Richt­li­ni­en. Er er­in­ner­te sich so man­chen Die­bes in den Mann­schafts­stu­ben, es gab un­ver­bes­ser­li­che Ker­le, die ih­ren Ka­me­ra­den im­mer wie­der den Ta­bak oder die von Haus ge­schick­ten Würs­te stahlen. Da gab es erst Stu­ben­kei­le, er­bar­mungs­lo­se Prü­gel mit dem Kop­pel­schloss, in der dunklen Nacht, auf den nack­ten Hin­tern, wäh­rend das Ge­sicht mit ei­nem Woi­lach1 ver­deckt wur­de. Aber auch ohne das hät­te kein Un­ter­of­fi­zier Ohren für sol­ches Ge­schrei ge­habt …

Half aber die Kei­le nicht, war der Dieb wirk­lich un­ver­bes­ser­lich, ein Feind sei­ner Ka­me­ra­den, so gab es die Ent­eh­rung vor of­fe­ner Front, die Ver­set­zung zu ei­nem Straf­ba­tail­lon – Schan­de und Schmach. Ka­me­ra­den, ja, ein Ka­me­rad war et­was Gu­tes – aber war ein Va­ter nicht viel­leicht doch noch mehr? War es nicht viel ge­mei­ner, einen Va­ter zu be­steh­len als einen Ka­me­ra­den? Der alte Ha­cken­dahl steht zö­gernd, er sieht sei­nen Sohn vor sich, in drei Stun­den hat der sei­ne Schul­sa­chen zu neh­men und ins Gym­na­si­um zu ge­hen. Es ist fast un­mög­lich, sich aus­zu­den­ken, dass der Sohn nicht ins Gym­na­si­um ge­hen wird, nie wie­der, die­ser sein Stolz, sein Ehr­geiz! Und doch – es muss ja sein! Er sieht den Sol­da­ten vor der Front, einen ganz be­stimm­ten Sol­da­ten, mit ei­ner großen, höck­ri­gen, blei­chen Nase. Trä­nen lie­fen über sei­ne Ba­cken, aber er­bar­mungs­los sprach die Stim­me des Of­fi­ziers fort, das end­gül­ti­ge, un­wi­der­ruf­li­che, ver­dam­men­de Ur­teil über den Mann und Dieb …

Es darf kein Weich­sein ge­gen das ei­ge­ne Herz ge­ben; dass es das ei­ge­ne Fleisch und Blut ist, das sün­dig­te, än­dert nichts: Ein Dieb ist ein Dieb. Sie ha­ben ihn den ei­ser­nen Gu­stav ge­tauft, wohl halb im Spott, weil er so starr­köp­fig sein kann. Aber man kann aus ei­nem Spott­na­men auch einen Ehren­na­men ma­chen.

Und schon zählt er, und nur, als er die Höhe der feh­len­den Sum­me fest­ge­stellt hat, hält er einen Au­gen­blick be­stürzt inne. So viel …? Es kann doch nicht sein …! Aber es ist so – noch mehr Schan­de und Schmach! Das kann nicht nur ver­trun­ken sein, sieb­zehn Jah­re, und plötz­lich sieht der Va­ter hin­ter dem blas­sen, be­weg­li­chen, klu­gen Ge­sicht sei­nes Soh­nes die Frat­zen von Wei­bern, käuf­li­chen Wei­bern, je­dem sau­be­ren Man­ne ein Ekel! Sieb­zehn Jah­re …!

Mit ei­nem Ruck stößt er die...