Wir werden niemals darüber reden

von: Carolin Schairer

Ulrike Helmer Verlag, 2017

ISBN: 9783897419667 , 314 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 12,99 EUR

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Wir werden niemals darüber reden


 

Ingolstadt, Juni 1990


Zum dritten Mal betätigte Isabell die Haustürglocke und lauschte dem melodischen Kling-Klong, bis es im Nichts verhallte wie die beiden Male davor.

Seufzend stellte sie die Schultasche zu Boden und hockte sich auf die kleine Treppe vor dem Hauseingang. Die sonnenheißen Fliesen brannten ihr unter den Oberschenkeln. Schnell rutschte sie ganz nach links, um etwas von dem Schatten zu erhaschen, den das Garagendach abwarf, und verfluchte sich selbst.

Warum hatte sie Jan nicht um den Hausschlüssel gebeten, ehe sie an der Bushaltestelle auseinandergegangen waren? – Sie gab sich die Antwort selbst: Weil sie fest damit gerechnet hatte, dass Mama zu Hause war.

Isabell stützte ihre Ellbogen auf die nackten Knie und schob das Kinn in die Handflächen, während ihr Blick die Straße entlang glitt. Vor ihren Augen rührte sich nichts. Die kleinen Vorgärten wirkten in der Mittagshitze wie ausgestorben.

Ich verabschiede mich nur noch von Lisa, dann komme ich sowieso heim, hatte Jan erklärt. Du kannst ja schon voraus gehen, damit sich Mama keine Sorgen macht.

Loswerden hatte er sie wollen. Klar. Sie war zwar fünf Jahre jünger als er, aber das hieß nun wirklich nicht, dass Dreizehnjährige dumm wären! Seit sechs Wochen hing er jede freie Minute mit dieser Lisa aus der 9b herum. Früher war es kein Problem gewesen, wenn sie sich mit ihren Freundinnen zu ihm und seiner Clique im Freibad gesellt hatte. Seit sechs Wochen trennten sich ihre Wege am Einlass.

Stell nichts an, hatte er neulich zu allem Überdruss zu ihr gesagt. Isabell fasste sich an die Stirn und schnaubte halb vor Empörung, halb weil ihr so heiß war. Die Sonne brannte inzwischen unbarmherzig auf den gesamten Eingang herab.

Ihre Kehle war staubtrocken.

Sie erhob sich und ging hinüber zur Garage, wo das Vordach noch einen letzten kleinen Schatten warf.

Unterwegs versetzte sie der Mülltonne einen wütenden Tritt. Blöde Lisa! Es war im Grunde deren Schuld, dass sie hier vor der Haustüre warten musste.

Während sie sich mit dem Rücken an die schattige Garagenmauer sinken ließ, erfüllte sie eine plötzliche Genugtuung: Bald waren Sommerferien. Dann würden sie erst einmal für drei Wochen nach Italien fahren. Mit dem Campingbus von Papas Kollegen. Und sie würde Jan in diesen drei Wochen wieder ganz für sich haben.

Warum um alles in der Welt hörte Mama ihr Klingeln denn nicht? Oder war sie ausgegangen?

Isabell reckte sich zu dem kleinen Fenster in der Seitenwand der Garage, um einen Blick ins Innere zu werfen. Der Wagen ihrer Mutter stand da, wo er immer stand.

Ein letztes Mal lief sie hinüber zur Haustür, klingelte stürmisch, wartete, ohne dass sich drinnen etwas regte, und rannte zurück in den Schatten. Sie verstand das nicht. Wieso ließ Mama sie heute so lange vor der Tür stehen? Wann kam Jan endlich?

Isabell spürte, wie ihr die Zunge am Gaumen klebte. Ihr wurde schwindelig, wenn sie an die Getränke im Kühlschrank dachte. Wie konnte sie ins Haus gelangen? Oder wenigstens auf die Terrasse, zu dem Wasserhahn, an dem ihr Vater den Schlauch befestigte, mit dem er abends die Blumenbeete goss? Sicher hatte Papa am Abend wieder vergessen, die Liegestühle in das neue Gartenhäuschen zu räumen – ein Glücksfall für sie. Bald würde sie ihren Durst am Hahn stillen und auf der schattigen Terrasse liegen können. Beflügelt von der Idee, kletterte sie zum ersten Mal in ihrem Leben über den Gartenzaun.

Hinter dem Haus erwartete sie ein Bild des Friedens. Die Jalousie war ausgefahren, die beiden Liegestühle standen bereit. An der Wäschespinne trockneten Leintücher in der Sonne. Die rote Plastikwanne, mit der Mama frische Wäsche nach draußen trug, leuchtete wie ein farbiges Osterei auf dem grünen, gepflegten Rasen. Ein rotes Osterei mit einem weißen Klecks in der Mitte. Der weiße Klecks war ein einzelner Kissenbezug.

Isabell bückte sich. Der Kissenbezug war noch feucht. Er duftete nach Weichspüler.

Den Rosenduft noch in der Nase, näherte sie sich der Terrasse, öffnete den Wasserhahn, hielt den Mund direkt in den Strahl und trank in gierigen Schlucken, als ihr Blick auf die Glastüre zum Wohnzimmer fiel.

Sie stand offen.

»Mama?«

Eilig durchquerte Isabell das Wohnzimmer. Ihre Sandalen klapperten auf den weißen Fliesen.

Im Flur verharrte sie. Es war still im Haus, ungewöhnlich still.

Aufgeregt setzte sie sich auf die Couch, während ihr Verstand auf Hochtouren arbeitete.

Die offene Terrassentüre, der Kissenbezug in der Plastikwanne … Mama konnte nicht einfach weggegangen sein. Sie musste hier irgendwo im Haus stecken.

Eine kurze Szene huschte durch ihr Gedächtnis: Ihre Mutter, tränenüberströmt. Ihr Vater, der auf sie einredete mit dem Blick eines verängstigten Tieres.

Wann war das gewesen? Gestern oder vorgestern? Gestern und vorgestern? Vergangene Woche?

Obwohl ihr Durst gestillt war, brannte ihre Kehle nun stärker als zuvor. Zwei Stufen auf einmal nehmend, hastete sie die Treppe hinauf ins Obergeschoß.

»Mama?«

Ein Miauen war die Antwort. Gleichzeitig spürte Isabell weiches Fell an ihren nackten Beinen.

Automatisch bückte sie sich.

»Tabby!« Sie fuhr mit den Fingern durch das schwarz-weiß gefleckte Fell. Die Katze begann zu schnurren.

»Weißt du, wo Mama steckt? Hmm?«

Die Katze sah sie mit ihren grünen Augen fragend an und schnurrte noch lauter.

Isabell kauerte sich neben das Tier auf den gefliesten Boden. Sein gleichmäßiges Schnurren beruhigte sie.

Tabby setzte sich vor sie hin und begann ausgiebig, ihre Pfoten zu lecken.

Seufzend stand Isabell auf. Sie wollte ihre Suche gerade fortsetzen, als sie die Abdrücke auf den hellen Fliesen sah: eine braune Spur von Katzenpfoten.

Die Spur führte zum Badezimmer. Je näher sie ihm kam, desto mehr änderte sich die Farbe der Abdrücke. An der Schwelle hatten sie bereits ein sattes Rot.

Isabell stieß die halb angelehnte Türe zum Bad auf.

Erst Minuten später löste sich der Schrei, mit dem auch die Lähmung von ihr abfiel. Schreiend lief sie die Treppe hinunter, schreiend riss sie die Haustür auf und rannte hinaus auf die Straße, wo sie direkt in Jans Arme sank.

»Eindeutig Selbstmord. Wir können Fremdverschulden ausschließen. Herr Ulbrich, gab es irgendwelche Vorzeichen für die Tat?«

»Nein … ich … Es gibt keinen Abschiedsbrief. Sie war … es ging ihr gut!«

»Es war doch nicht das erste Mal, oder? Wir haben die Narben an ihren Armen gesehen.«

»Das … ist … ist etwas anderes. Sie wollte sich nicht umbringen, sie hat nur … Es ging ihr gut, verdammt!«

»War ihre Frau in psychologischer Betreuung?«

»Nein … nein, früher … es gab da eine Zeit … aber seit wir in diesem Haus wohnen, seit dem Umzug war alles gut. Heute Morgen … wir haben uns voneinander verabschiedet, es war alles gut.«

Jan stand im Hausgang, reglos hielt er den Kopf gegen die Wand gepresst. Seit einer Viertelstunde sprachen die beiden Polizisten mit seinem Vater und suchten nach einer Erklärung dafür, weshalb sich seine Mutter das Leben genommen hatte.

Wäre es nach Jan gegangen, säße er drinnen neben dem Vater auf dem Sofa, doch diese Wahl hatten ihm die Polizisten nicht gelassen. Mit Ihnen werden wir später Kontakt aufnehmen, hatten sie ihm gesagt. Ruhen Sie sich etwas aus. Sie haben für heute genug gesehen.

Genug gesehen, das traf es wohl. Jan dachte an den Anblick, der sich ihm geboten hatte: Blut, überall Blut, und seine Mutter mittendrin, blass, leblos, wunderschön, neben sich das Küchenmesser, ihr dunkles Haar rahmte das schmale Gesicht.

Ihm hatte ein Kloß in der Kehle gesessen und Tränen in den Augen, aber er war seltsam ruhig geblieben. Kein Ton war ihm über die Lippen gekommen. Noch ehe er nach ihrem Puls getastet hatte, wusste er, dass es zwecklos war. In seinem Kopf wiederholte eine monotone Stimme einen Lehrbuchsatz aus dem Erste-Hilfe-Kurs, den er einmal absolviert hatte. Ein Mensch, der sich die Pulsadern längs durchtrennt, verblutet, sofern er nicht rechtzeitig verarztet wird.

Er hatte als Erstes die Polizei verständigt und dann seinen Vater, beides mit ruhiger Stimme. Dann hatte er sich um Isabell gekümmert. Gemeinsam hatten sie gewartet.

Jan hörte seinen Vater nebenan schluchzen. Sein Magen zog sich zusammen. Noch nie hatte er ihn weinen sehen, und er wollte es auch jetzt nicht...