Das Böse, es bleibt - Thriller

von: Luca D'Andrea

Deutsche Verlags-Anstalt, 2018

ISBN: 9783641228767 , 448 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Das Böse, es bleibt - Thriller


 

7.

Eins. Drei. Zwei. Zweimal die Vier.

Und schon war ein Trupp zusammengestellt, der dem mageren Pimpf bis zu dem Unterstand folgte. Ein paar Schüsse aus der Dienstwaffe. Dann war der schwarze Mann tot.

Die Augen verdreht, der Mund weit offen, das Kraushaar blutgetränkt.

Der Standartenführer steckte die Pistole zurück ins Holster und musterte Robert, der dem Gemetzel ungerührt zugesehen hatte.

»Schokolode ist was für Kinder. Du bist kein Kind mehr.«

Eine Handbewegung, und einer der Soldaten begann dem toten Amerikaner mit den Kaninchenzähnen die Stiefel auszuziehen.

»Du bist stark wie Siegfried und schlau wie« – der Standartenführer legte den Zeigefinger ans Kinn und den Kopf zur Seite, als wartete er auf eine Eingebung –, »wie ein … Gnom? Nein.« Verärgert schüttelte er den Kopf. »Nicht wie ein Gnom. Wie heißen denn diese …«

»Herr Standartenführer?«

Der Soldat reichte ihm die Stiefel.

Der Standartenführer befühlte die Sohle. Sie war biegsam und robust zugleich.

Er übergab die Stiefel dem Jungen.

Ein Geschenk.

13. Februar 1944: Der Junge nahm das Geschenk an.

Es kostete ihn keine Überwindung.

»Die nutzen dir mehr als ein Stück Schokolade, glaubst du nicht, mein kleiner …« Ihm kam die Erleuchtung. Der Standartenführer lächelte, entzückt über seinen Scharfsinn. »… mein kleiner Kobold

Genau so: Kobold.

Wie im Märchen, hatte Marlene gesagt, als Herr Wegener ihr (verliebt? Ja, verliebt) die Geschichte erzählt hatte. Kobold. Wie diese grausamen winzigen Kreaturen, die unter der Erde oder in Erzadern lebten. Mit ihren tiefblauen Augen, die das Licht in geballten Hass und Schrecken verwandeln konnten.

Marlene wusste vom Standartenführer, sie wusste von dem Kobold. Aber sie wusste nichts von dem Geschenk des Standartenführers.

Die Stiefel.

Warm.

So warm, dass Robert die Tränen kaum zurückhalten konnte.

»Wer ist Siegfried?«

»Das weißt du nicht?«

Robert schüttelte den Kopf.

Der Standartenführer brachte ihn an die frische Luft. Die Nacht war hereingebrochen, und es war kalt, aber der Junge hatte warme Füße. Der SS-Mann zog seine Armbanduhr aus und zeigte ihm die Gravur auf der Unterseite.

Ein Ritter mit einer Lanze in der Hand.

»Das ist Siegfried. Ein echter Arier. Der größte aller Helden. Er ist auf den Berg gestiegen und hat den Drachen getötet.«

»Es gibt keine Drachen.«

Der Standartenführer lächelte.

»Nicht mehr. Aber früher? Wer weiß das schon. Den schwarzen Mann gab es, und du hast ihn mir gezeigt. Er hat das gleiche Ende wie der Drache genommen. Und die Kobolde? Ich dachte immer, sie wären ein Mythos, aber jetzt habe ich hier einen vor mir stehen.«

Er tippte ihm mit dem Zeigefinger an die Stirn, lächelte und kehrte zurück in die Hütte, um seinen Männern Befehle zu erteilen.

Der Spitzname blieb.

»Gewährsmann Kobold« stand in den Meldungen des Standartenführers. Nicht Robert Weg-e-ner, sondern immer »Gewährsmann Kobold«. Denn ein Robert Wegener konnte aufgespürt und getötet werden.

Aber ein Kobold?

Einen Kobold konnte man nicht töten.

Es war eine großartige Entdeckung, die der SS-Offizier da gemacht hatte. Kobold besaß Talent. Er war tüchtig. Er kannte die verstecktesten Pfade und Furten. Er war ein magerer Pimpf mit seltsamen Stiefeln an den Füßen, und niemand beachtete ihn. So bekam er vieles mit und behielt es im Kopf. Der eine verkaufte Brot auf dem Schwarzmarkt, der andere versuchte, seiner Einberufung zu entgehen, der Dritte versteckte Waffen oder hörte verbotene Radiosender.

Kurz vor Weihnachten 1944 wechselte Kobold die Seiten. Die Amerikaner, die Engländer und die Partisanen hatten die Linien durchbrochen, und das Reich stand kurz vor der Kapitulation.

1945 war der Krieg zu Ende, aber der Hunger hielt an. Kobold begriff, dass der Krieg für diejenigen, die barfüßig geboren werden, niemals endet. Also machte er weiter.

Menschen auf der Flucht brachte er nach Süden, Waren nach Norden.

Nach einer Weile gab es keine Menschen mehr auf der Flucht, aber immer noch Hunger. Kobold war kräftiger geworden, er lief inzwischen nicht mehr barfuß herum, trug eine Pistole unter der Jacke, hatte zu essen, ohne sich zu verschulden, aber er machte sich keine Illusionen.

Der Krieg ging weiter.

Der Krieg um ein neues Wort: »Respekt«.

Kobold wollte, dass die Leute vor ihm den Hut zogen, wie sie es früher beim Standartenführer gemacht hatten. Er wollte, dass Männer wie sein Vater die Straßenseite wechselten und ihre Kinder zur Vorsicht ermahnten. Er hasste diese Männer. Sie waren keine Helden.

Sie waren Versager, Feiglinge.

Mit einem Wort: »Idioten«.

Kobold begriff bald, dass er Unterstützung brauchte, aber er wusste, dass erwachsene Männer sich nicht von einem Heranwachsenden herumkommandieren ließen. Also engagierte er barfüßige Pimpfe, in deren Augen die Flamme des Hungers loderte. Er brachte ihnen Disziplin, Gehorsam und Beharrlichkeit bei.

Keine Grausamkeit, denn die hatten diese bartlosen Knaben schon seit Langem intus.

Es funktionierte. Und es funktionierte gut.

Die Geschäfte liefen rasch immer besser, und Kobold beschloss, dass tauglichere Transportmittel als kräftige Schultern oder Fahrräder hermussten. Er kaufte einen kleinen Lieferwagen, dann einige Lkw. Erst waren es fünf, dann sechs, dann zehn. Nie waren es genug.

Kobold wollte mehr.

Er verstand, dass er sich Wissen aneignen musste, wenn er sein Unternehmen vergrößern wollte. Er paukte Mathematik, Wirtschaft. Aber nicht nur. Er entdeckte, dass er gerne las. Und zwar vor allem Geschichtsbücher und Biografien über große Persönlichkeiten. Sie faszinierten ihn ungemein.

Er las viel.

Er lernte viel.

Mehr oder weniger in dem Jahr, in dem seine künftige Ehefrau zur Welt kam, 1952, wurde Kobold, der damals erst neunzehn war, sich in gewissen Kreisen aber bereits einen Namen gemacht hatte, von einem Buchhalter auf der Suche nach schnellem Geld angesprochen.

Der Moment sei günstig, erklärte ihm der Mann ohne Umschweife. Italien müsse wieder auf die Beine kommen, und der Staat drücke gern ein Auge zu, wenn jemand Geld in Umlauf brachte. Deshalb lasse er die Leute machen. Aber bald seien die schönen Tage vorbei, und der Staat würde sich zurückverwandeln in den verfluchten Kettenhund, der er nun einmal sei.

Und dann würde die Töle zubeißen.

Um das zu vermeiden, müsse man lernen, sie zu streicheln. Und hier komme er ins Spiel, sagte er. Gegen eine kleine Provision würde er für ihn Briefkastenfirmen gründen (für die er als anständiger Bürger Steuern zahlen müsse, was Kobold zutiefst amüsierte), Strohmänner engagieren und dafür sorgen, dass seine Bücher ein Musterbeispiel an Redlichkeit und Ordnung seien. Kobold gefiel der Vorschlag des Buchhalters.

Sein Geschäft prosperierte.

Als die Welle des Terrorismus über das Land schwappte, nahmen die Auftragsangebote ein nie gekanntes Ausmaß an, aber Kobold schlug sie alle aus. Kein Sprengstoff. Keine Waffen. Er hatte gelernt, dass der Kettenhund auf jedem Gebiet zu zähmen war, außer auf einem.

Auf dem der Gewalt. Hier achtete der Staat eifersüchtig auf sein Machtmonopol.

Es war kein Problem, jemanden verschwinden zu lassen, indem man ihn in die Passer oder die Etsch warf. Auch Schlägereien oder Messerstechereien im Dunkeln waren kein Problem. Sogar Brandstiftung bei der Konkurrenz und gelegentlich eine kleine Schießerei wurden toleriert. Aber Terrorismus?

Das war zu viel.

Vor allem lehnte Kobold ab, Menschen über die Grenze zu schmuggeln. Das war etwas, das er schon seit ewigen Zeiten nicht mehr tat, seit Jahrzehnten nicht mehr. Den wahren Grund dafür hatte Kobold nie jemandem erzählt. Nicht mal Marlene. Es gab Geheimnisse, die es zu hüten galt. Im Interesse aller.

September 1945.

Der letzte heimliche Grenzgänger, dem zu helfen Kobold sich bereit erklärt hatte, war der Standartenführer. Ausgemergelt und mit Zottelbart. Nicht wiederzuerkennen ohne seine Uniform. Nur noch ein Schatten des Mannes, der ihm die belgische Schokolade angeboten hatte. Die beste der Welt.

»Kobold«, hatte er mit zitternder Stimme gesagt, »du musst mich hier rausbringen.«

Der Grund lag auf der Hand. Die Zeitungen waren voll von Fotos, die zeigten, wie Juden, Amerikaner, Engländer und Russen mit ehemaligen SS-Mitgliedern verfuhren.

Kobold hatte den Standartenführer bis zu den Wäldern des Ultentals geführt und ihn glauben gemacht, dass er dort einige »Patrioten« treffen würde, die ihn nach Genua bringen und dann nach Argentinien einschiffen würden, wo er sich ein neues Leben aufbauen oder davon träumen konnte, das verlorene Reich wiederzuerwecken.

Eine Lüge.

Als sie im Wald angekommen waren, zog Kobold seine Pistole hervor, zwang den Standartenführer auf die Knie, heftete ihm das Eiserne Kreuz seines Vaters an die Brust und schoss ihm in den Kopf.

Er drehte die Leiche mit dem Fuß um, streifte ihr die goldene Uhr ab und befestigte sie an seinem Handgelenk. Noch vor dem Morgengrauen kehrte er nach Meran zurück und zwang seine Mutter, den gemeinsamen Familiennamen von...