Eine Liebe, in Gedanken - Roman

von: Kristine Bilkau

Luchterhand Literaturverlag, 2018

ISBN: 9783641198299 , 320 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Eine Liebe, in Gedanken - Roman


 

 

An einem Abend, auf dem Heimweg von einem Termin im Museum, stieg ich einige Stationen eher aus dem Bus. Ich fuhr oft durch diese Straße, die Buslinie führte wie eine Hauptader durch die Stadt, vorbei an der Staatsbibliothek, der Universität. Ich stellte mich etwas abseits der Leute und schaute zum Haus gegenüber, oben, in einem Zimmer neben einem kleinen Erker, brannte Licht. Als meine Mutter und ich, da studierte ich noch und wohnte nicht weit von hier, ins Kino gehen wollten, hatte sie auf die Häuserreihe gegenüber gezeigt und gesagt:

»Da hatte ich mal ein Zimmer, siebzig Mark im Monat. Bei einer energischen Frau, die manchmal Zigarillos rauchte und hier in einem Tabakladen arbeitete. Ich war so alt wie du jetzt.«

Ich hatte nicht gefragt: Wo meinst du? Wo genau? Ich hatte nur genickt, aha, in einem dieser Häuser, wie schön, wir müssen uns beeilen, der Film fängt gleich an.

Inzwischen hatte ich die Bündel ihrer alten Briefe durchgesehen und dabei die Adresse entdeckt. Antonia Weber c/o Konrad, es war die Hausnummer 97. V. Stock, links.

Wo? Wo genau war dein Zimmer?

Ich sah hoch zu dem Fenster neben dem kleinen Erker und stellte mir vor, es wäre ihres gewesen. Ich behielt das Fenster im Blick, sah so lange hin, bis das Zimmer wirklich ihr gehörte, Antonia Weber, bis die Zeit wieder die ihre war, Mitte der Sechzigerjahre. Solange ich das Fenster nicht aus den Augen ließ, wohnte die junge Frau da oben, die Zweiundzwanzigjährige mit den kurzen, dunklen Haaren, den schlanken Armen, den dichten, geschwungenen Augenbrauen, der dauerhaften leichten Bräune eines Mädchens, das an der See aufgewachsen war, der schmalen Taille einer Frau, die sich von Dosenmandarinen mit Joghurt und Pumpernickel mit etwas Käse ernährte, weil sie ihr Geld lieber für Schallplatten und Zeitungen ausgab, für kurze Kleider und Verzugsgebühren in der Bibliothek der Universität, an der sie nicht studierte, aber wo sie sich manchmal herumtrieb, als würde sie dazugehören. Sie war dort oben in dem Zimmer, ich konnte ihre Zuversicht spüren, ihre Vorfreude auf diesen Abend, auf den nächsten Tag, auf die kommenden Wochen und Monate, auf alles, was nun endlich geschehen würde, nun, da sie einen Job, ein eigenes Zimmer, ein Leben in dieser Stadt hatte. Ich konnte ihre Erwartungen spüren.

Sie schlüpft aus den Schuhen und legt Musik auf. Nat King Coles weiche Stimme und das gleichmäßige Knistern der Kratzer, denn sie behandelt ihre Schallplatten mit Ungeduld.

Sie trägt ein Kleid in Zitronengelb, kurz, mit weißem Kragen, ihre Schritte rascheln leise auf dem Teppich, während sie durch das Zimmer geht, zum Regal, zum Sofa, immer wieder in die Nähe des Fensters, um zu sehen, ob der Mann noch dort unten wartet. Sie hat ihm in der Straßenbahn, auf dem Weg von der Arbeit nach Hause, den Kopf verdreht; den Kopf verdreht, so würde sie es einer Freundin erzählen. So hat sie es mir erzählt. Anfangs beobachtete er sie zaghaft, als wollte er nicht erwischt werden beim Hinsehen. Sie erwischte ihn doch, lächelte ihn direkt an, um dann kurz darauf scheinbar gelassen aus dem Fenster zu blicken, was sie aber nicht lange durchhielt. Sie mochte sein Gesicht, eine hohe Stirn wie die von Camus, und auch so feine Lippen wie er, dunkle Haare. Mit seinen schmalen Schultern sah er aus wie jemand, der als Junge nicht der Schnellste, Stärkste oder Lauteste gewesen war, und der das auch gar nicht vorgehabt hatte.

An der Haltestelle vor ihrem Haus stieg sie aus, mit ihr noch ein paar andere Leute, und dahinter er; das sah sie aus dem Augenwinkel, während sie an der Ampel warten musste. Langsam ging sie auf die andere Straßenseite und blickte wie zufällig über die Schulter zurück; er folgte ihr immer noch, in höflichem Abstand. Vor der Tür klappte sie ihre Handtasche auf und suchte nach dem Schlüssel. Nachdem sie ihn gefunden hatte, tat sie weiter so, als würde sie suchen, dabei wartete sie neugierig darauf, was nun passieren würde.

»Verzeihen Sie«, sagte der Mann, sie drehte sich zu ihm um, »wahrscheinlich haben Sie ohnehin keine Zeit, sicher haben Sie Besseres vor, aber ich möchte trotzdem gern fragen, ob ich Sie zu einem Kaffee einladen darf.« Er blickte abwechselnd zu ihr und zum Café gegenüber, sie mochte sein nervöses Lächeln und hätte fast sofort Ja gesagt. Doch eine Frau auf der Straße anzusprechen, das war zu einfach, darauf konnte sie sich nicht einlassen, ohne den falschen Eindruck zu wecken. Sie überlegte, wie sie es anstellen konnte, den Kaffee abzulehnen und dann doch nicht abzulehnen.

»Ich habe eine Cousine zu Besuch«, sagte sie und fügte hinzu, »aus Paris.« Es hatte einen gewissen Reiz, Paris zu erwähnen, es klang nach Abenteuer und der Möglichkeit für Glanzvolles, es klang nach einem Leben voller interessanter Ereignisse. Auf der Straße von einem fremden Mann angesprochen zu werden, war nur ein staubkornkleiner Teil eines solchen Lebens, so klang Paris.

»Ich weiß noch nicht, was meine Cousine heute vorhat. Vielleicht habe ich etwas Zeit für einen Kaffee, vielleicht in einer halben Stunde, vielleicht später.« Sie schloss die Tür auf, schob sie einen Spaltbreit auf und sah ihn fragend an.

»Sicher, das verstehe ich. Da drüben«, er zeigte zum Lokal gegenüber, »werde ich eine Weile warten und würde mich freuen, wenn Ihre Cousine Sie für eine Viertelstunde freigibt. Die haben auch Eiskaffee«, sagte er noch, lächelte, »also, ich meine, wirklich guten Eiskaffee.« Er wirkte nicht wie einer, der regelmäßig Frauen auf der Straße ansprach.

Jetzt muss sie noch etwas Zeit verstreichen lassen, um herauszufinden, ob er jemand ist, der wartet, ob sie jemand ist, auf den gewartet wird.

Erst fünfzehn Minuten sind geschafft. Wieder geht sie ans Fenster, nicht zu nah, nur gerade so, dass sie die andere Straßenseite sehen kann. Da hinten steht er. Sie beobachtet, wie er sich tapfer langweilt, wie er die Auslage des Tabakladens betrachtet, dann die des Käseverkäufers, wie er langsam in die eine Richtung, dann in die andere geht. Er könnte sich ins Café setzen und dort auf sie warten, aber das scheint er nicht zu wollen. Fünfzehn zähe Minuten, doch die genügen noch nicht, sie darf es ihm nicht zu leicht machen, niemals leicht, leicht ist ein hartes Wort, ein ungerechtes dazu, es lässt sich schnell dahinsagen und verschwindet nie wieder. »Pass bloß auf dich auf«, sagt ihre Mutter bei jedem Abschied, »ich mach mir solche Sorgen«, sagt ihre Mutter am Ende jedes Telefonats und klingt dann, als würde sie schrecklich darunter leiden, sich Sorgen machen zu müssen. Das Mädchen, das noch keinen Ring trägt, das allein in der Großstadt lebt, ist schuld daran. Doch die Sorge ist nicht echt, sie ist nichts als ein Vorwurf, sie bedeutet Enge und Bevormundung.

Aus dem Wäschehäuflein unten im Schrank zieht sie drei Paar Nylonstrümpfe heraus. Um noch etwas Zeit zu überbrücken, kann sie auch gleich etwas Sinnvolles tun. Sie geht ins Bad, weicht die Nylons in lauwarmem Wasser ein und gibt einen Klecks Schauma dazu, nicht zu viel, die Tube muss bis Ende des Monats halten, dann kann sie wieder einkaufen. Vor dem Spiegel zupft sie sich das Haar zurecht, zwirbelt links die Locke neben der Wange um den Finger und gibt einen Zisch Spray darauf, dann die rechte, mit dem Kamm hebt sie das Haar hinten etwas an, toupiert ein bisschen nach.

Sie hat Glück, die Leine über der Wanne ist frei, keine vergilbten Unterkleider von Frau Konrad, keine ausgeleierten Schlüpfer von Herrn Lewerenz. Sein Husten ist schlimmer geworden, jeden Morgen hört sie, wie Herr Lewerenz sich abmüht, in seinem Zimmer am anderen Ende des Flurs. Sie drückt das Wasser vorsichtig aus den Strümpfen und legt die federleichten Stoffe über die Leine. Manchmal hängt Fräulein Friedrichs ihre mit Ziehfäden durchsetzten Strümpfe dazu, doch nimmt Stunden später, wie aus Versehen, die anderen, die guten wieder ab. Immer wieder das gleiche Spiel: Mit den alten Strümpfen in der Hand klopft sie dann bei Fräulein Friedrichs, hält ihr die zerzausten Dinger vor die Brust, »Das müssten Ihre sein, nicht meine Größe, die sind mir nämlich zu kurz, wissen Sie?«

Schnell zurück ins Zimmer, zum Fenster, er ist noch da. Ein Blick auf die Uhr. Sie dreht die Schallplatte um. Das kleine Sofa, das nur für zwei schmale Leute gemacht ist, könnte näher am Fenster stehen, das hatte sie schon lange vor. »Damensofa in einem modernen Campari-Rot«, stellte es der Verkäufer ihr vor. Sie hat sich das Sofa einiges kosten lassen, zusammen mit dem Plattenspieler und sechs Cocktailgläsern hat sie es sich gekauft, für ihren neu gegründeten Haushalt, hier, in diesem Zimmer.

Was sagt sie, wenn der Mann sie fragt, wie sie zu einer Cousine in Paris gekommen ist? Eine Cousine in Paris, die haben sicher nicht viele. Sie bräuchte einen Onkel und eine Tante in Frankreich. Ein Onkel, der in Frankreich stationiert war, der sich, anders als von ihm erwartet wurde, in eine Französin verliebte, der, anders als von ihm erwartet wurde, in Frankreich blieb, die Französin heiratete und sieben Kinder mit ihr bekam. Wie schön wäre es, einen solchen Onkel zu haben. Sie hat nur einen, über den niemand spricht.

Sie rückt das Sofa ein Stück von der Wand ab und schiebt es durch das Zimmer, zur anderen Seite, bis es schräg in der Ecke, halb vor dem Fenster steht, die Sitzfläche dem Raum zugewandt. Den kleinen Tisch stellt sie davor und nimmt Platz. Als wäre sie zu Besuch, als wäre sie zum ersten Mal hier, als...