Der Bote - Thriller

von: Ingar Johnsrud

Blanvalet, 2018

ISBN: 9783641186838 , 560 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Der Bote - Thriller


 

11

Der wasserblaue Lichtschein über der Treppe zum Kellergeschoss des Krankenhauses war ebenso kalt wie das Stahlgeländer.

»Mortui vivos docent«, raunte Andreas Fredrik zu, als sie sahen, wer sie dort unten erwartete.

Rechtsmediziner Konrad Heissmann stand vor einer cremefarbenen Tür mit der Aufschrift »Sektionssaal« und streckte die Hand aus. Sie hatte die Größe eines Buches.

»Mortui vivos docent – die Toten lehren die Lebenden«, sagte er zur Begrüßung. Dann bat der Österreicher sie herein. Er bückte sich, um dem Türsturz auszuweichen – nicht weil die Tür zu niedrig gewesen wäre, sondern weil der kahlköpfige Pathologe mit den leicht nach innen gewölbten Schläfen die beiden Polizisten fast um einen Kopf überragte. Im Vorraum hielt er inne. An den türkisfarbenen Wänden hingen vergilbte Schautafeln zur menschlichen Anatomie. In den Regalen standen Behälter mit verblassten Herzen, Hirnen und Lungen, die in Formalin eingelegt waren: ein Vorgeschmack dessen, was sie dort hinter den Türen zur Frischwarenabteilung der Seligkeit erwartete.

Fredrik hatte bereits genügend Leichen gesehen – in allen erdenklichen Zuständen. Es waren nicht die Leichen an sich, die ihn am meisten berührten. Woran er sich nie ganz hatte gewöhnen können, war die klinische Sachlichkeit in der Wortwahl der Mediziner. Die Schöpfkelle, die der Pathologe zur Hand nahm, um die Toten ihres Blutes zu entleeren. Die Tische aus gebürstetem Stahl, der hellblaue Mundschutz, der beim Ein- und Ausatmen vibrierte, das Skalpell, der Rippenspreizer, die Knochensäge auf dem weißen Laken … Wann immer es sich einrichten ließ, zog Fredrik den Vorraum vor. Das Gleiche traf auch auf Andreas zu. Andreas Figueras lernte bereitwillig von den Toten, ihren Anblick jedoch mochte er nicht.

»Ich nehme an, es eilt, wenn Sie nicht auf den Bericht warten können?«

Die Grammatik war korrekt, die Satzmelodie jedoch irgendwie merkwürdig. Der Österreicher lehnte sich an ein schmales Katheder und hatte seine charakteristische Körperhaltung eingenommen: die Hände über dem kahlen Schädel verschränkt, die Daumen in die Schläfen gebohrt. Vielleicht sah er ja deshalb so aus, wie er aussah.

»Eigentlich nicht«, antwortete Andreas. »Aber die Identität des Toten ist nach wie vor unbekannt. Wir hatten gehofft, Sie könnten uns dahingehend ein bisschen behilflich sein.«

Der Arzt ließ das Gummiband einer Mappe mehrmals auf das Plastik schnippen.

»Mann in den Vierzigern, dem Aussehen nach Nordeuropäer. Der Tod ist vor zwei bis drei Wochen eingetreten. Er wurde in einem Kanalschacht gefunden, war es nicht so?«

Fredrik nickte. »Gestern.«

»Die Leiche kann erst vor einigen Tagen dort hintransportiert worden sein. Hätte er länger dort gelegen, wäre nicht viel von ihm übrig gewesen.«

Es war keine leichte Aufgabe gewesen, den Toten aus dem Schacht nach oben zu hieven. Erst als auch noch die Kollegen von der Spurensicherung in den Schacht gekrochen waren, waren die Ratten widerwillig zurückgewichen. Damit sich die Leiche nicht zersetzte, hatten sie den Körper erst nach vorn ziehen und dort in einen Leichensack bugsieren müssen, der dann fest verschlossen mit einem Kran nach oben befördert worden war.

»Normal gebaut, eins dreiundachtzig groß. Der Tote war mit Unterhose, Hose und Pullover bekleidet. Schuhe an den Füßen. Vierundvierzig Kronen in der rechten Hosentasche, zwei Zwanzig-, vier Einkronenmünzen. Eine Broschüre des Auktionshauses Bierche in der Gesäßtasche. Kein Portemonnaie, keine Ausweispapiere.«

»Die Broschüre eines Auktionshauses?«

Heissmann klappte seine Mappe auf und zückte einen Asservatenbeutel. Darin lag ein schwer in Mitleidenschaft gezogener Papierfetzen. Körperflüssigkeiten hatten die Seiten verfärbt.

»Ich hab sie durchgeblättert, sie wurde extra für eine Auktion erstellt, die vor etwas mehr als einem Monat stattgefunden hat. Außer einem Kreuz bei einem Spiegel hab ich keinen Vermerk gefunden – so ein altmodischer Bodenspiegel, Rokoko, mit Blattgold und all solchem Schnickschnack. Teures Ding.«

Er reichte den Asservatenbeutel an Andreas weiter.

»Bei dem, was wir in seinem Magen und im Darm gefunden haben, handelt es sich vermutlich um Pizzareste. Käse und Schinken in unterschiedlichen Verdauungsphasen.«

»Und was bedeutet das?«

»Dass seine Ernährung ziemlich einseitig war. Die letzten zwei oder sogar drei Mahlzeiten vor seinem Tod waren Pizza.«

»Und die Todesursache?«

»Tja, das ist so eine Sache«, antwortete der Österreicher. »Folgen Sie mir.«

Die weiß gefliesten Wände verstärkten das Tropfen, das aus dem Aluminiumbecken widerhallte. Der süßliche Geruch nach Fäulnis und Chemikalien setzte sich ganz hinten im Gaumen fest. Heissmann schlug das Laken zur Seite.

»Das hier könnte von Nutzen sein«, sagte er und warf Fredrik, der auf der anderen Seite des Obduktionstisches stand, einen kurzen Blick zu. Andreas hielt sich im Hintergrund.

Kälte. Dieses Gefühl, das Fredrik überkam, wenn er einen Toten in dieser Weise betrachtete – die nackte Haut auf dem Stahltisch, der entblößte Oberkörper, die nackten Oberschenkel, das kläglich geschrumpfte Geschlechtsteil. Ab und zu bekam er Leichen zu sehen, noch ehe der Rechtsmediziner den Y-Schnitt von den Schlüsselbeinen bis zum Bauch wieder zugenäht hatte, und in solchen Fällen war es ihm nie möglich, den Blick vom Herzen abzuwenden. Diesem faustgroßen Muskel, der dann blass und leblos vor ihm lag. Tot zu sein wirkte unendlich … kalt.

Dieser Mann war bereits wieder zusammengeflickt worden, und seine Haut hatte eine grünlich schwarze Färbung angenommen. In seinem geschorenen Schädel klafften zwei leere Augenhöhlen. Die Wunden legten deutlich Zeugnis von den Verwüstungen der Aasfresser ab. Aber nicht das hatte der Österreicher gemeint. Unterhalb der rechten Schulter lag ein Arm – ein künstlicher Arm. Eine Prothese.

»Einen Augenblick«, sagte Heissmann schnell, sowie Fredrik sich vorbeugte, um sich das Ganze genauer anzusehen. »Lassen Sie mich Ihnen erst den Zeitpunkt umreißen, an dem das Schicksal dieses unglückseligen Menschen besiegelt wurde.«

Der Pathologe zögerte, als wollte er kurz abwägen, wo er anfangen sollte. Dann griff er mit der Hand, über die er sich bereits einen Latexhandschuh gezogen hatte, nach der Schulter der Leiche und hob sie an. Gleich unter dem Schulterblatt war eine Wunde zu erkennen. Tief, aber im Umfang nicht größer als eine Fünfkronenmünze.

»In vierundzwanzig Stunden wird dieser Mann sterben. Wir befinden uns irgendwo draußen, vielleicht in der Einfahrt seines Hauses, vielleicht auf einer dunklen Straße. Der Mann ist völlig arglos und wittert keinerlei Gefahr, als ihn von hinten etwas Spitzes, Schweres trifft. Zwei Rippen gehen zu Bruch, und die Knochen punktieren den rechten Lungenflügel. Vom Schmerz überwältigt fällt er vornüber. Der Angreifer klebt ihm den Mund zu, fesselt Arme und Beine, bevor er sein Opfer in den Kofferraum eines Autos wirft und es mitnimmt.« Heissmann war wieder ganz in seinem Element. Jetzt kam die Erklärung. »In der Wunde haben wir Fragmente unterschiedlicher Textilien gefunden. Die Kugel hat mehrere Schichten Kleidung durchdrungen, inklusive einer Jacke. Er wird sich folglich im Freien befunden haben. Die Hose weist an den Knien Schmutzflecken auf, die von einem Sturz herrühren dürften. Im Gesicht sowie um die Handgelenke und Fußknöchel finden sich Reste von Klebeband. Die Flecken auf dem Pullover sind Scheibenwischerflüssigkeit und Motorenöl, wie man sie im Kofferraum eines Autos aufbewahrt.« Heissmann fuhr fort, indem er die zur Faust geballte Hand des Einarmigen anhob. Mit dem Zeigefinger fuhr er über die Fingerknöchel des Manns, an denen die Haut abgeschürft war. »Grober Beton, womöglich von der Sorte, mit der man Böden gießt. Dieser Verletzung hier und der Schlagwunde im Rücken ist gemein, dass der Heilungsprozess bereits eingesetzt hatte.«

Nachdem er also entführt worden sei, sei der Mann aller Wahrscheinlichkeit nach in einen Keller gebracht worden, erklärte der Rechtsmediziner weiter. Dort habe man ihn wohl eine Treppe hinuntergestoßen, wobei er sich bei dem Versuch, den Sturz abzufangen, verletzt habe.

Heissmann hob die Hand, bevor Fredrik etwas sagen konnte. »Nein, keine Garage. Denn die Schreie, die dieser Mann später ausgestoßen haben dürfte, hätten Aufmerksamkeit erregt.«

Die Spuren von Klebeband waren nicht das Einzige, was der Pathologe um die Fußknöchel und Handgelenke des Manns gefunden hatte. Die Gelenke waren überdies von tiefen Schnitten gezeichnet – Schnitte, wie sie entstanden, wenn jemand mit einem dünnen, strapazierfähigen Seil gefesselt wurde.

»Die Reibung über den Wunden lässt darauf schließen, dass er versucht hat, sich zu befreien. Das muss schmerzhaft gewesen sein, und trotzdem hat er versucht, sich loszureißen, womöglich weil er wusste, dass er sterben würde.«

Der Rechtsmediziner bog die Finger des Leichnams gerade. Vom Zeigefinger und Mittelfinger waren die vorderen Glieder abgetrennt worden. Unter den Fingernägeln der restlichen Finger steckten feine Holzsplitter.

»Irgendwo dort draußen steht ein Stuhl mit tiefen Kratzspuren in der Armlehne. Und auf diesem Stuhl starb dieser Mann.«

»Herrgott«, stöhnte Andreas. »Was hat er nur getan, um so was zu verdienen?«

»Oder was hat er gewusst«, wandte Heissmann ein. »Welches Geheimnis ist aus ihm herausgefoltert worden?«

Der Stahltisch zitterte leicht, als er die Hand des...