Im Schatzfieber

von: Eike Bornemann

Ulrike Helmer Verlag, 2017

ISBN: 9783897419735 , 272 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 12,99 EUR

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Im Schatzfieber


 

1. Kapitel


»Arm am Beutel, krank am Herzen

Schleppt ich meine langen Tage.

Armut ist die größte Plage,

Reichtum ist das höchste Gut!

Um zu enden meine Schmerzen,

Ging ich einen Schatz zu graben.

Meine Seele sollst du haben!

Schrieb ich hin mit eignem Blut.«

– Goethe

Fünfundsiebzig Jahre später. – Der Zug rumpelte über eine Weiche, Schneereste stäubten herab, als er die Zweige eines Baumes streifte. Ab da trat der Wald zurück und gab die Sicht frei. Der Blick ging weit über die weiß und grau gefleckte Landschaft, fing sich an vereinzelten Kiefern, an Gruppen von kahlen Birken und Sträuchern. Hoch oben im Geäst saß unbeweglich ein Raubvogel. Ein Rudel Rehe setzte in langen Sprüngen in die Deckung des Waldes. Das Spätnachmittaglicht ging in Abenddämmerung über. Die Sonne stand tief und ließ die Landschaft in allen Einzelheiten plastisch hervortreten. Baumwipfel schimmerten rotgolden, Stämme warfen lange Schatten.

Die Frau, die im einsetzenden Dämmergrau aus dem Zugfenster schaute, interessierte sich nicht für die karge Schönheit der Umgebung. Ihre Gedanken waren mit anderen Dingen beschäftigt. Als der purpurne Sonnenball hinter dem Horizont verschwunden war, begann sich ihr Spiegelbild immer stärker auf der Scheibe abzuzeichnen.

Carolina Barnim hatte einiges getan, ihr Alter zu verbergen. All die Cremes, Lotionen und Masken, von denen die Werbung versprach, sie würden die Haut glätten, die Krähenfüße an den Augen mildern – sie hatten nichts gegen die unbarmherzige Schwerkraft tun können und auch nichts gegen all das andere, was im Laufe der Jahre Spuren in ihr Gesicht gegraben hatte: Ehrgeiz, Enttäuschungen, Kränkungen, Verbitterung. Die Mundwinkel, fand sie, hingen herab, und wenn sie ihren Kopf senkte, trat ein leichtes Doppelkinn unvorteilhaft hervor. Hingegen fielen die wenigen grauen Strähnen im rotblonden Haarschopf kaum auf. Die leicht schräg stehenden, grünen Augen und hohen Wangenknochen hatten seinerzeit auf der Schule und später während der Ausbildung für nicht wenig Aufsehen gesorgt. Noch Jahrzehnte später konnten sich Klassenkameraden genau an ihr Aussehen erinnern. Doch das spielte in Caros Selbstwahrnehmung keine Rolle mehr.

Inzwischen hatte der Intercity die zerklüfteten Steinwaben der Vorstadt erreicht. Häuserquader sausten vorbei, hell erleuchtete leere Bahnhöfe, durch die der Zug raste, ohne anzuhalten.

Plötzlich überkam sie ein Gefühl der Übelkeit. Sie stürzte aus dem Abteil zur Zugtoilette. Der Pessimismus, den sie in den letzten Jahren ausreichend gepflegt hatte, erwartete halb, eine verschlossene Tür vorzufinden, doch die Kabine war frei.

Die folgenden Minuten verbrachte Caro damit, sich kaltes Wasser über die Handgelenke laufen zu lassen und anschließend in den unergründlichen Tiefen ihrer Handtasche nach den Tabletten zu schürfen.

Schließlich erinnerte sie sich an die Notfallration im Portemonnaie. Die teure Geldbörse aus rotem Leder war ein Geburtstagspräsent von Henning gewesen – praktisch wie so ziemlich alles, was er verschenkte. Immer war es etwas, das einen unmittelbaren Nutzen bot; nie etwas, das sie sich wünschte, weil es ihre Sinne ansprach. Für Henning, dem nüchternen Pragmatiker, musste jeder Gegenstand einen Zweck erfüllen. Der Gedanke, Dinge könnten ihrer Schönheit wegen begehrt werden, ging ihm völlig ab.

Blanke Sentimentalität hatte sie bislang davon abgehalten, das Portemonnaie in den nächstbesten Mülleimer zu feuern. Außerdem wusste sie nicht, wohin dann mit dem Geld, den Quittungen, Kreditkarten, Ausweis, Führerschein – und natürlich den Pillen. Es war, wie sie innerlich seufzend feststellte, eben ein ganz und gar praktisches Geschenk.

Ein Schluck aus dem Flachmann, um die Tablette herunterzuspülen, ein Pfefferminz gegen die Schnapsfahne – fertig.

Als sie den Blister ins Fach zurückschob, fiel ihr Blick auf die hinter einer Folie steckende Aufnahme von Henning. Aufs Neue überkamen sie Schmerz und Wut.

Hastig zog sie das Foto heraus in der Absicht, es in kleine Schnipsel zu zerreißen und die Toilette hinunterzuspülen. Im letzten Moment besann sie sich, glättete das Bild und schob es zurück. Eine fast abergläubische Furcht hatte sie davon abgehalten, es zu zerstören, so als wäre die Fotografie eine Art VoodooPuppe und sie würde mit deren Vernichtung endgültig die letzten Verbindungen zerstören.

Nach einem letzten Blick in den Spiegel kehrte sie in ihr Abteil zurück, wo sie Jacke und Schal überzog und sich daran machte, den Koffer von der Ablage zu heben.

Der Zug fuhr in den Bahnhof ein und kam zum Halten.

Caro wuchtete den Trolley auf den Bahnsteig und schaute sich suchend um.

Dort hinten stand er. Als er auf sie zukam, spürte sie in der Herzgegend einen schmerzhaften Stich.

Ihr Vater schien in den letzten Jahren kleiner geworden zu sein. Allerdings war es nicht so sehr das Alter, das seine Schultern beugte. Von der Krankheit hatte sie auf See erfahren. Per Skype. Im Zeitalter der elektronischen Kommunikation entfiel die Notwendigkeit persönlicher Besuche, zumal sie die meiste Zeit des Jahres über ein ganzer Ozean trennte.

Wie viele Silvester- und Weihnachtsfeiern hatte sie mit den Arbeitskollegen auf hoher See verbracht? Caro wusste es nicht mehr. Fernweh hatte sie früh aus der elterlichen Wohnung getrieben, die Romantik der Seefahrt. In ihren Mädchenträumen brandete die See gegen ferne Küsten, wölbte sich ein mit Sternen übersäter dunkelblauer Himmel über gebauschten Segeln. Schon damals, während ihrer Schulzeit, hing ihr der Ruf einer Träumerin an, die selbstvergessen Palmen und Schiffe unter schwellender Takelage an die Ränder des Geografiebuches malte und heftig zusammenfuhr, wenn sie der plötzliche Aufruf eines Lehrers aus ihren Tagträumen schreckte.

Zu dumm nur, dass die Geschichten der großen Entdeckungen immer von Männern handelten. Frauen kamen darin kaum vor, und wenn, dann als Objekte männlicher Sehnsüchte, als Geliebte, selten als Gefährtinnen. Magellan, Marco Polo, James Cook, William Dampier … Wo blieben da die Frauen? War es wirklich so, wie einige Bücher immer behaupteten? Waren sie als ängstliche Bedenkenträgerinnen auf ewig dazu verdammt, zu Hause die Brut zu hüten, während die Männer seit eh und je durch die Welt reisten und Geschichte schrieben?

Später, während ihrer Lehrzeit, entdeckte sie dann endlich die weiblichen Weltreisenden: Alexandra David-Néel, die als erste Europäerin die verbotene Stadt Lhasa betrat, Jeanne Baré, die 1766 als Mann verkleidet die Welt umsegelte, Grace O’Malley, die »Seewölfin«, Jane Franklin, die auf der Suche nach ihrem Mann in der Arktis spurlos verschwand, die trinkfeste Mary Kingsley …

Das war längst Vergangenheit. Die Faszination für Seeabenteuer ging mehr und mehr im Bordalltag verloren. Nach fünfzehn Berufsjahren fragte sich Caro, was zum Teufel denn bloß so romantisch sein sollte an der ganzen Seefahrt. Die ewiggleichen Strände, die dahinter aufragenden Bettenburgen, bei denen der Blick aufs Meer im Preis inbegriffen war, die Restaurants, Spielcasinos und Ladenreihen, wo gut betuchte Touristen ihr Reisegeld lassen konnten – es begann sie zu langweilen. Und immer öfter überkam sie Ekel angesichts des Mülls, der mitunter kniehoch den Spülsaum der einstigen Paradiesstrände bedeckte: kilometerlange Reihen angeschwemmter Schuhe, Plastiktüten, Kondome, zerdrückter Bierdosen, Glühbirnen, Styropor. Hinzu kam das tägliche Einerlei auf dem Schiff, das sich nicht viel von einem Hotel auf dem Festland unterschied.

Wo waren sie, die weißen Flecken auf den Karten, die großen ungelösten Rätsel? Wo auch immer sie warteten – an Bord eines Kreuzfahrtschiffes jedenfalls nicht. Dessen Kiel durchschnitt Saison für Saison das ewiggleiche Fahrwasser. Da blieb kein Raum für Fremdes, für Faszinierendes mehr.

Dabei hatte es viele Wochen gedauert, ehe sie sich in diesem architektonischen Labyrinth zurechtgefunden hatte, das aus dreizehn Decks, vier Restaurants, drei Kinos, einem Theater und über tausendachthundert Kabinen bestand, die Platz für mehr als viertausend Menschen boten. Hin und wieder, wenn sie an ihrem Arbeitsplatz vom Laptop aufschaute, fiel ihr Blick auf zerklüftete Fjorde, Küstenstreifen und Häfen. Die meiste Zeit über sah sie jedoch durchs Fenster auf eine endlose blaue, dunkelgrüne oder graue Wasserödnis hinaus, auf gischtbesetzte Wellenkämme, auf Öltanker, Container-Frachter und Patrouillenkreuzer der Küstenwache, die in der Ferne den Kurs kreuzten.

Das Schiff war...