Rente mit 70 - Ein Schwarzbuch

von: Annelie Buntenbach, Markus Hofmann, Ingo Schäfer

Ch. Links Verlag, 2017

ISBN: 9783862843978 , 192 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 4,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Rente mit 70 - Ein Schwarzbuch


 

Arbeiten bis zum Tod oder Warum die Rente mit 70 keine Option ist


Warum braucht es ein Schwarzbuch Rente mit 70? Wir finden, ein Blick in die tägliche Arbeitsrealität ist überfällig: Damit wird plastisch greifbar, warum für viele Beschäftigte die Rente mit 70 geradezu eine Bedrohung darstellt. Aber das darauf abzielende Dauerfeuer aus der immer gleichen Richtung nimmt zu. Die zentrale Forderung: das gesetzliche Renteneintrittsalter immer weiter anzuheben, z. B. nach 2029 das Rentenalter über 67 hinaus (automatisch) weiter steigen zu lassen.

Solche Vorschläge sind allein darauf ausgerichtet, die Rentenausgaben zu kürzen. Es soll weniger Rente gezahlt werden, um den Beitragssatz für die Arbeitgeber senken zu können. Dabei sind die ständigen Rufe nach einer weiteren Erhöhung des Renteneintrittsalters gefährliche Brandbeschleuniger. Sie zerstören gezielt die Leistungsfähigkeit und Akzeptanz der gesetzlichen Rentenversicherung. Am Ende steht ein höheres Rentenalter bei niedrigerem Rentenniveau und groteskerweise dennoch höheren Beiträgen; in jedem Fall auf der Seite der Arbeitnehmer, denen neben den höheren Beitragssätzen zur gesetzlichen Rentenversicherung die Kosten für die dann notwendige zusätzliche Altersvorsorge privat aufgeladen werden. Den Schaden davon haben alle Beschäftigten, gerade auch die jüngeren, denn für sie sollen die Altersgrenzen steigen.

Die Befürworter höherer Altersgrenzen sind, neben einschlägig bekannten Professoren, Arbeitgeber und ihre Lobbyorganisationen sowie wirtschaftsnahe Politiker. Gemeinsam ist allen, dass sie Gesellschaft und Solidargemeinschaft von den Gewinninteressen der Unternehmen und der Wirtschaft aus betrachten. Sie malen Schreckgespenster an die Wand, um die Debatte um ein höheres Rentenniveau möglichst auszuhebeln.

Die Forderung nach höheren Altersgrenzen ist nicht nur der Versuch, die Rentenzahlungen zu kürzen, sondern damit sollen auch Forderungen nach einem Kurswechsel in der Rentenpolitik, die auf eine Stärkung der gesetzlichen Rente abzielen, ausgehebelt werden. Vorgegaukelt wird, dies sei eine »schonendere« Lösung der demografischen Herausforderungen, als es zum Beispiel die Vorschläge der Gewerkschaften vorsehen. Dass dieser Vorschlag der Rente mit 70 alles andere als »schonend« für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist, dies zeigen die in diesem Buch versammelten Porträts von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern.

Worin besteht der alternative Ansatz der Gewerkschaften? Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und Einzelgewerkschaften fordern einen Kurswechsel in der Rentenpolitik und wollen die gesetzliche Rentenversicherung stärken. Die Leistungsfähigkeit und Leistungsgerechtigkeit der gesetzlichen Rente muss für alle Generationen gesichert werden. Die gesetzliche Rentenversicherung muss ein Leben in Würde im Alter ermöglichen. Aus Sicht der Gewerkschaften ist dazu das Rentenniveau zu stabilisieren und im weiteren Schritt anzuheben, etwa auf 50 Prozent. Damit wären die Renten im Jahr 2045 rund 20 Prozent höher als nach geltendem Recht. Um die Leistungsseite zu stärken und das Sicherungsziel der gesetzlichen Rente zu erreichen, gehören zudem die Abschläge bei Renten wegen Erwerbsminderung abgeschafft. Die Mütterrente ist voll aus Steuern zu finanzieren, die gesetzliche Rentenversicherung muss langfristig zu einer Erwerbstätigenversicherung weiterentwickelt werden und die ganze Gesellschaft, insbesondere die Bestverdiener und Vermögenden, muss sich mit einem »demografischen Bundeszuschuss« an der Finanzierung der Rentenversicherung beteiligen. Am Ende müsste der Beitragssatz für die Beschäftigten bis zum Jahr 2045 um nur 0,8 Prozent stärker steigen als jetzt bei sinkendem Rentenniveau vorgesehen – dafür aber mit rund 20 Prozent höheren Renten.

Im Durchschnitt steigt die Lebenserwartung. Aber mit der Lebenserwartung verhält es sich wie mit dem Einkommen: Im Schnitt steigt sie an, aber die Ungleichheit nimmt dabei immer weiter zu. Auch sagt die steigende Lebenserwartung nichts darüber aus, ob und bei wie vielen Beschäftigten dieser Anstieg mit gesunden und arbeitsfähigen Jahren einhergeht. Wer die Altersgrenze mit der durchschnittlichen Lebenserwartung anhebt – ein Vorschlag, den nicht nur die EU forciert – nimmt sehenden Auges in Kauf, dass eine wachsende Gruppe das Rentenalter nicht oder nicht gesund erreichen wird. Und wer es noch bis zur Altersgrenze schafft, bekommt weniger Jahre lang eine Rente ausgezahlt! Diese Verkürzung der Rentenzahlung wirkt sich auf verschiedene Gruppen völlig unterschiedlich aus und geht gerade zulasten derjenigen, die nach einem harten und langen Arbeitsleben mit oft niedrigeren Einkommen auskommen müssen. Ein Beispiel: Steigt das Rentenalter von 65 auf 67 Jahre, bedeutet das für jemanden, der mit 75 Jahren stirbt, eine Kürzung der Zeit des Rentenbezugs um 20 Prozent, steigt das Rentenalter gar auf 70, wäre es eine Halbierung (!) der Rentendauer. Wer 85 wird, hätte nur eine 10 Prozent kürzere Rentenbezugszeit – bei einer Altersgrenze von 70 würde die Rente so um ein Viertel gekürzt. Menschen mit geringem Einkommen sterben im Schnitt früher als jene mit höherem Einkommen. Steigende Altersgrenzen kürzen also besonders die Renten der Ärmeren und der oftmals am Arbeitsmarkt schlechter gestellten Gruppen. Auch ist der frühestmögliche Rentenbeginn gerade erst angehoben und damit die Dauer des Rentenbezugs regelmäßig um drei Jahre gekürzt worden. Ab Jahrgang 1952 können die Beschäftigten grundsätzlich erst mit 63 Jahren, also drei Jahre später als bisher, eine Rente beziehen.1 Wer arbeitslos oder angeschlagen ist, muss sich also drei Jahre länger durchschlagen. Die Lücke zwischen Erwerbsaustritt und Rentenbeginn wächst tendenziell wieder.

Wenn ein wachsender Teil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer das gesetzliche Rentenalter nicht gesund und in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung erreicht, hilft es nicht, wenn der Beitragssatz niedriger ausfällt. Dann verfehlt die Rentenversicherung ihren sozialpolitischen Auftrag, den wohlverdienten Ruhestand zu sichern, da dieser gar nicht mehr erreicht wird. Und die Zeit des auskömmlichen Ruhestandes zu einem üblicherweise erreichbaren Zeitpunkt darf man zu einer zentralen zivilisatorischen Errungenschaft unserer aufgeklärten, demokratischen Arbeitsgesellschaft rechnen.

Hinzu kommt, dass die Diskussion über das Rentenalter nicht unabhängig von der realen Arbeitsmarktlage geführt werden kann. Ziel nicht allein der Rentenpolitik, sondern auch der Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik wie des Arbeits- und Gesundheitsschutzes muss es sein, sicherzustellen, dass die überwiegende Mehrheit ein versicherungspflichtiges, gut bezahltes und nicht krank machendes Arbeitsverhältnis bis zum Rentenbeginn hat. Für all diejenigen, die aufgrund individueller Gesundheit, aber auch der allgemeinen Arbeitsmarktlage keine Möglichkeit bekommen, bis zum Rentenalter einen guten und vor allem gut bezahlten Arbeitsplatz zu haben, sind daher Angebote und Möglichkeiten für einen abgesicherten Übergang von der Arbeit in die Rente nötig. Zur Gestaltung gelungener Übergänge bedarf es schon heute guter Instrumente. Das zielt auf eine Stärkung und Ausweitung der medizinischen und beruflichen Rehabilitation ab. Dazu gehört auch, den Budgetdeckel für Rehabilitation in der Rentenversicherung zu streichen und den Grundsatz »Reha vor Rente« auch finanziell zu bekräftigen. Wir brauchen finanzielle Angebote, wenn im Alter ein reduzierter Stundenumfang zur Erhaltung der Gesundheit und des Arbeitsplatzes notwendig ist. Hierzu zählen Vorschläge wie die geförderte Altersteilzeit, die Teilrente ab dem 60. Lebensjahr oder auch das Altersflexigeld.

Studien2 zeigen, dass viele Beschäftigte die steigenden Altersgrenzen durch einen längeren Verbleib im Beruf nachvollziehen können. Die Zahl der Erwerbstätigen ist insgesamt gestiegen und mit ihr steigt auch die Zahl an Kolleginnen und Kollegen, die jenseits der 60 noch ihren Beruf ausüben. Dabei bleibt offen, ob und wie lange sie arbeiten wollen. Oder ob sie es, aufgrund fehlender Alternativen, müssen, unter Umständen sogar trotz erheblicher gesundheitlicher Einschränkungen zu Lasten ihrer Gesundheit, mit der Folge, gegebenenfalls häufigere und längere Krankheitszeiten in Kauf zu nehmen. Es wächst aber auch die Zahl derjenigen, die in diesem Alter nur einen Minijob haben, oftmals schlecht abgesichert und ergänzend zur Rente oder anderem Einkommen. Auch verbringt eine große Gruppe den Übergang in jahrelanger Arbeitslosigkeit, auch hier oftmals, weil sie aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen von keinem Arbeitgeber mehr eingestellt werden, aber sie noch zu gesund sind für eine Erwerbsminderungsrente. Es gibt also eine große Gruppe an Beschäftigten, die schon die bisherigen Altersgrenzen nicht erreichen können, geschweige denn realistische Aussichten haben, dies zukünftig bei steigenden Altersgrenzen zu schaffen.

Sozialpolitik muss stets die Realität zum Ausgangspunkt nehmen. Es geht nicht um simple betriebswirtschaftliche Effizienz oder Gewinnmaximierung, sondern um die Vielfalt und die Eröffnung echter Möglichkeiten für alle. Teilhabe an der Gesellschaft in allen Lebenslagen zu gewährleisten, muss dabei der Anspruch sein. Besonders gefährlich sind daher Vorstöße, den weiteren Anstieg der Altersgrenzen in einen dauerhaften Automatismus zu übersetzen. Ein solcher Versuch, die Kürzungslogik als Regelzustand zu verankern, bedeutet eine Entpolitisierung des Prozesses. Gerade was die Frage des Übergangs anbelangt, sind langfristige Trends...