Gnadensee - Ein Baden-Württemberg Krimi

von: Ingrid Zellner

Silberburg-Verlag, 2017

ISBN: 9783842517820 , 336 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Gnadensee - Ein Baden-Württemberg Krimi


 

2


Erst Stunden später kam Lona endlich wieder zu Hause auf der Reichenau an. Sie war noch immer völlig verstört von den Ereignissen des Abends, dazu müde von den Vernehmungen durch die Polizei und darüber hinaus krank vor Sorge um Dirk, von dem nach wie vor kein Lebenszeichen gekommen war.

Der Gedanke, den Rest des Abends allein in ihrer Wohnung zu verbringen, war so niederschmetternd, dass sie sogar bereit gewesen wäre, die Gesellschaft ihrer Mutter zu suchen … doch die war nach ihrer abendlichen Dosis Antidepressiva derart unzugänglich, dass Lona schon nach wenigen Minuten hinauf in ihre Wohnung flüchtete und in ihrer Verzweiflung Andrea anrief. Zum Glück reagierte ihre Jugendfreundin prompt, ließ alles stehen und liegen und kam zu ihr.

»So«, sagte sie, nachdem sie Lona lange und fest umarmt hatte, »jetzt machen wir uns erst mal einen ordentlichen Kaffee – ja, ich weiß, wie spät es ist, aber so, wie du aussiehst, kannst du ihn dringend brauchen, und ich hab ein paar Stücke Marmorkuchen von meiner Mutter abgestaubt, die schaden dir sicher auch nicht. Und dann erzählst du mir ganz genau, was los ist.«

Wenig später saßen sie vor dampfenden Kaffeetassen und Lona spürte überrascht, wie allein schon der Duft ihre Lebensgeister wieder ein wenig weckte. Sie hatte zwar auch bei der Polizei einen Kaffee bekommen, die dünne schwarze Brühe dort aber eher nebenbei und achtlos in sich hineingegossen. Jetzt, in der Gegenwart ihrer vertrauten Freundin, die gerade eine dicke Kerze auf dem Tisch entzündete, merkte sie, wie die Anspannung zumindest ansatzweise von ihr abfiel, und nach einem ersten Schluck von dem aromatischen Gebräu erzählte sie Andrea alles über die seltsame Begegnung mit dem Fremden in Dirks Wohnung.

»Da hast du aber Glück gehabt«, stellte Andrea fest, als Lona bei dem unerwarteten Rückzug des Mannes angelangt war. »Dass der Kerl urplötzlich einfach so die Flucht ergreift, meine ich. Er hätte dich ja auch ebenso gut vorher noch unschädlich machen können.«

»Ja, vielen Dank auch!«, versetzte Lona sarkastisch. »Das ist genau die Vorstellung, die ich jetzt brauche, um die Nacht ruhig und friedlich zu überstehen.«

»Entschuldige!«, erwiderte Andrea beschwichtigend und brach eine Ecke von ihrem Kuchenstück ab. »So war’s nicht gemeint. Im Übrigen … wenn du willst, dann bleib ich heute Nacht gerne hier. Damit du nicht allein bist und … ja, vielleicht fühlst du dich dann ja sicherer.«

Lona blickte in ihre Kaffeetasse hinein und atmete tief durch.

»Das ist lieb von dir«, sagte sie leise. »Vielleicht komm ich tatsächlich darauf zurück. Mal sehen, wie’s mir nachher geht.« Sie trank einen weiteren kleinen Schluck. »Und abgesehen davon – du hast ja recht. Das frag ich mich auch schon die ganze Zeit: Warum hat der Mann plötzlich Fersengeld gegeben? Bei der Polizei meinten sie, vielleicht haben meine Hilfeschreie ihn aus dem Konzept gebracht; immerhin bestand die Möglichkeit, dass Nachbarn auf uns aufmerksam werden. Und als ich dann auch noch das Handy gezückt habe, wurde es ihm zu heiß, und er ist verschwunden.«

»Möglich«, meinte Andrea nachdenklich. »Aber was, wenn er später wiederkommt? Er hatte doch einen Schlüssel, oder?«

»Ja, aber der wird ihm dann nicht mehr viel nützen«, erwiderte Lona grimmig. »Die Polizei hat mir geholfen, einen Schlüsseldienst zu finden, der das Schloss sofort ausgewechselt hat. Und sollte der Kerl auf die Idee kommen, die Tür aufzubrechen, dann wird er zumindest den Laptop nicht mitnehmen können – der ist jetzt hier bei mir. Sicher ist sicher.«

»Was uns zu der nächsten Frage bringt«, versetzte Andrea. »Wer war der Mann, und warum wollte er Dirks Laptop?«

»Und vor allem«, ergänzte Lona, »woher hatte er den Schlüssel zu Dirks Wohnung? Eigentlich … kann er ihn ja nur von Dirk selbst haben.«

Sie begann gedankenverloren, ein kleines Stück von dem Marmorkuchen auf ihrem Teller zwischen Daumen und Zeigefinger zu einem Kügelchen zu rollen.

»Und was, wenn Dirk ihm tatsächlich den Schlüssel gegeben hat, damit der Mann den Laptop holt?«, überlegte Andrea. »Du sagst, sein Auto stand vor dem Haus; das heißt, er war zu Fuß oder mit Öffis unterwegs, und dann konnte er eben nicht schnell selber losfahren, um …«

»Und wieso ruft der Kerl dann nicht einfach Dirk an, damit der mir bestätigen kann, dass alles in Ordnung ist?«, fuhr Lona ihr ins Wort. »Wieso läuft er im Haus mit Sonnenbrille rum, damit ihn ja niemand erkennt? Und warum in drei Teufels Namen behauptet er, Dirks Vater zu sein – ein Mann, der schon seit drei Jahren tot ist?«

»Vielleicht ist er ja gar nicht tot«, versetzte Andrea. »Das hört man doch öfter, dass Menschen ihren Tod nur vortäuschen, um sich abzusetzen. Oder dass sie verunglücken und ihr Gedächtnis verlieren, und dann leben sie irgendwo unerkannt, während ihre Angehörigen sie für tot halten. Wer weiß, vielleicht lebt Dirks Vater noch und ist jetzt wieder aufgetaucht und hat Dirk irgendwie um Hilfe gebeten?«

Lona legte nachdenklich das Kuchenkügelchen auf den Teller und presste es mit der Zeigefingerkuppe platt.

»Bisschen unwahrscheinlich, aber möglich wär’s«, sagte sie schließlich. »Ich hab Dirks Vater nie kennengelernt; er war schon tot, als ich Dirk begegnet bin. Wenn er denn tatsächlich tot ist.«

»Wird die Polizei da jetzt ermitteln?«

»Frag mich nicht.« Lona winkte müde ab. »Ich hab denen erst mal jede Menge Fragen beantwortet, dann durfte ich helfen, ein Phantombild von dem Typen anzufertigen, und schließlich hab ich noch offiziell Dirk als vermisst gemeldet. Aber da war mein Kopf schon so was von leer … Ich fürchte, ich hab da nicht mehr alles um mich herum richtig mitgekriegt.«

»Kein Wunder«, meinte Andrea mitfühlend. »Kann ich dir irgendwas Gutes tun, Süße?«

Lona starrte auf ihre Hände hinunter.

»Wenn ich wenigstens wüsste, wo Dirk ist«, murmelte sie. »Sein Handy ist immer noch wie tot, keine Spur von ihm – und seinen Wohnungsschlüssel hat ein Mann, der alles Mögliche sein kann.« Sie hob den Kopf und sah Andrea an. »Ich hab Angst um Dirk«, sagte sie leise. »Ich hab solche Angst.«

Wortlos erhob sich Andrea, setzte sich neben Lona und legte die Arme um sie. Lona ließ sich in ihre Umarmung hineinsinken und begann erschöpft zu weinen.

Andrea hielt ihr Versprechen und blieb die ganze Nacht über bei Lona. Ihre tröstliche Nähe gab Lona so viel Sicherheit, dass sie es irgendwann tatsächlich fertigbrachte, sich hinzulegen. Allerdings fuhr sie nur wenige Stunden später aus einem Albtraum hoch, in dem sie und ihr Vater mit ihrem Wagen ins Schleudern gerieten, weil vor ihnen plötzlich schemenhaft Dirk auf der regennassen Straße auftauchte. An Schlaf war danach nicht mehr zu denken – aber wenigstens war sie nicht allein in ihrer Wohnung, auch wenn Andrea mittlerweile friedlich auf dem Wohnzimmersofa eingeschlummert war.

Als es draußen allmählich hell wurde, kochte Lona Kaffee und weckte ihre Freundin. Sie frühstückten gemeinsam, dann verabschiedete sich Andrea, nicht ohne eine strenge Anweisung an Lona, sich sofort zu melden, wenn sie noch einmal seelischen Beistand brauchte.

Nachdem Andrea gegangen war, räumte Lona in der Küche auf und spülte das Geschirr vom Frühstück. Dabei wanderten ihre Gedanken zu dem Geschirrstapel in Dirks Wohnung, der vermutlich immer noch so schmutzig neben der Spüle stand wie am Abend zuvor. Jedenfalls war Dirk offensichtlich nicht nach Hause gekommen – da er für das neue Schloss keinen Schlüssel besaß, hätte er mit Sicherheit entweder Lona angerufen oder die Sache rechtschaffen verwundert der Polizei gemeldet. Und diese hätte wiederum ganz bestimmt Lona informiert.

Aber offenbar gab es nichts zu informieren.

Normalerweise wäre Lona an diesem Tag gegen halb zehn Uhr zu einem Seminar in die Uni gefahren. Doch schon bei der bloßen Vorstellung winkte sie innerlich müde ab. Geschichtsfakten und -daten waren das Letzte, wofür sie jetzt einen Kopf hatte.

Stattdessen fuhr sie wenig später nach Konstanz und zu Dirks Wohnung.

Sie hatte den Schlüssel bei sich, der ihr am Vorabend bei der Polizei ausgehändigt worden war. Dass niemand außer ihr das neue Schloss öffnen konnte, war ein beruhigender Gedanke; dennoch fühlte Lona sich sicherer, als sie die Wohnungstür hinter sich geschlossen und die Sicherheitskette vorgelegt hatte.

Um sie herum war es...