Weihnachten mit einem Engel?

Weihnachten mit einem Engel?

von: Carol Marinelli

CORA Verlag, 2010

ISBN: 9783862950348 , 144 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 2,49 EUR

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Weihnachten mit einem Engel?


 

1. KAPITEL

Wohin nur? Wohin?

Eingezwängt zwischen den vielen Pendlern, die gerade nach Hause fuhren, stand Ashley in der Londoner U-Bahn. Sie brauchte sich nicht einmal mehr festzuhalten, so voll war der Zug. Inständig hoffte sie, dass ihr Rucksack, den sie neben der Tür an die Wand gelehnt hatte, noch da war. Aber das war noch ihre geringste Sorge. Weitaus mehr beschäftigte sie die Frage, wohin sie jetzt gehen sollte.

Natürlich konnte sie ins „Earl’s Court“ fahren, das Hostel, in dem alle australischen Rucksacktouristen abstiegen.

Das Problem war nur: Sie war keine Touristin, sondern nach London gekommen, um sich Arbeit zu suchen. Und das war ihr auch gelungen. Doch nach drei Monaten hatte sie die Stelle verloren.

Sie strich sich eine feuchte Strähne ihres dichten blonden Haares aus dem Gesicht – auf dem Weg zur U-Bahn war sie in einen Regenschauer geraten – und bemerkte dabei, dass ihr förmlich der Angstschweiß auf der Stirn stand.

Mein Gott, was soll ich jetzt nur tun?, überlegte sie fieberhaft.

Natürlich hatte sie ein paar Freundinnen. Genauer gesagt, andere Kindermädchen, die sie auf dem Spielplatz oder in Kinderspielgruppen kennengelernt hatte, und mit denen sie manchmal ausgegangen war.

Kolleginnen, die nun ganz sicher zusammen in einem Pub saßen und sich die Münder darüber zerrissen, dass sie, Ashley, gefeuert worden war, weil sie ihre Arbeitgeber bestohlen haben sollte. Ob sie das nun glaubten oder nicht, war völlig unerheblich. Keine von ihnen konnte sich erlauben, eine angebliche Diebin bei sich aufzunehmen. Schließlich verkehrten ihre Arbeitgeber in denselben Kreisen wie die von Ashley.

„Scusi“, murmelte jemand mit sonorer Stimme hinter ihr, als die U-Bahn unerwartet bremste und dieser Mann mitsamt einem schlafenden Baby auf dem Arm gegen Ashley gedrückt wurde.

„Kein Problem“, antwortete Ashley, ohne aufzublicken. Instinktiv versuchte sie, ihm ein wenig Platz zu machen, damit das Kind nicht aufwachte, aber die Menschen standen viel zu dicht. Plötzlich hielt die Bahn mitten im Tunnel zwischen zwei Haltestellen.

Meine Güte, ist das heiß!, stöhnte Ashley innerlich.

Draußen herrschte zwar eisige Dezemberkälte, aber hier drinnen war die Wärme fast unerträglich. Hunderte von Menschen waren auf engstem Raum zusammengepfercht. Ihre vom Regen feuchten Mäntel und Schals verwandelten den Waggon in eine Art Sauna. Dankbar holte Ashley tief Luft, als jemand eine Belüftungsklappe öffnete.

Aus den Augenwinkeln warf sie einen Blick auf das Baby. So eingepackt, mit seinem warmen Mäntelchen, den Handschuhen und einer Mütze mit Ohrenklappen musste das Kind schwitzen. Das schien ihm aber nichts auszumachen, denn es schlief seelenruhig.

Wie süß, dachte sie kurz, aber sofort kamen ihr die Tränen, weil die Erinnerung an Jack und Sophie, ihre beiden Schützlinge, in ihr aufstieg. Man hatte ihr nicht einmal gestattet, sich von den beiden zu verabschieden.

„Verzeihung!“, murmelte sie nun ihrerseits, als sie im Gedränge gegen das Kind stieß, dessen Gesicht sich verzog, als ob es gleich weinen wolle. Hilflos versuchte sie erneut, etwas zurückzuweichen, aber es war unmöglich. Entschuldigend sah sie den Mann an, der das Baby auf dem Arm hielt. Nur kurz begegneten sich ihre Blicke, aber sie war auf der Stelle verloren.

Noch nie hatte sie so markante Gesichtszüge gesehen, noch nie in so tiefblaue Augen geschaut. Er hatte dieselben langen dunklen Wimpern wie sein Sohn, und ein paar Strähnen seines dichten schwarzen Haares hingen ihm verwegen in die Stirn. Besorgt sah er das Kind an, das sich jetzt unruhig in seinen Armen wand. Er redete ihm beruhigend zu, aber es half alles nichts. Das Kind starrte ihn mit seinen blauen Augen an, als sähe es einen Fremden, und sein leises Wimmern steigerte sich zu lautem Protestgeschrei. Einige Reisende drehten sich bereits neugierig nach ihnen um.

„Psst, Guido, alles wird gut.“ Der Mann sprach Englisch mit dem Kleinen, allerdings mit starkem italienischen Akzent. Nun, da er sich mit dem Kind beschäftigte, hatte Ashley Gelegenheit, ihn genauer zu betrachten. Er wirkte völlig erschöpft, war sehr bleich und hatte tiefe Augenringe.

„Guido, bitte, es ist doch alles in Ordnung“, versuchte er erneut, das Kind zu beruhigen – diesmal mit lauterer Stimme, um die Fahrgeräusche der anfahrenden Bahn zu übertönen. Jedoch vergeblich. Das Kind schrie nur umso heftiger. Es strampelte mit Armen und Beinen, sodass der Vater es kaum festhalten konnte. Erneut wurde es gegen Ashley gepresst.

„Macht nichts“, murmelte sie automatisch, als der Mann sich bei ihr entschuldigte und das Baby fest an seine Brust drückte. Aber Ashley bemerkte die Panik im Gesicht des Kindes. Instinktiv streckte sie die Hand aus und legte sie auf die Stirn des Kleinen.

„Mein Gott, der Junge glüht ja!“ Erschrocken blickte sie den Mann an. „Er hat Fieber!“

„Ja. Er ist krank …“, setzte dieser an. Im selben Moment hielt die U-Bahn, und durch die einsteigenden Fahrgäste wurden Ashley und der Mann getrennt.

Damit hätte die Angelegenheit eigentlich für sie erledigt sein können. Sie hatte weiß Gott genügend Sorgen, zum Beispiel die, wohin sie jetzt gehen und wie sie ohne Referenzen einen neuen Job finden sollte. Wie sie die gegen sie erhobenen Anschuldigungen aus der Welt schaffen und vor allem das Ganze ihrer Mutter erklären sollte. Trotzdem klang ihr das Schreien des Kindes noch immer in den Ohren, und das erschöpfte Gesicht des Vaters ging ihr nicht aus dem Sinn. Unter dem schweren grauen Mantel, den er trug, waren Anzug und Krawatte zu sehen gewesen. Vielleicht hat er das Kind aus der Krippe abgeholt, überlegte sie, oder die beiden kamen gerade vom Arzt?

Das kann mir ja eigentlich völlig egal sein, sagte sich Ashley, als der Zug in die Station Earl’s Court einfuhr.

Ihrem Reiseführer zufolge war das die Haltestelle für Australier in London. Jetzt musste sie nur noch das gleichnamige Hostel finden. Nachdem sie sich langsam durch die Menschenmenge im Wagen geschoben hatte, griff sie erleichtert nach ihrem Rucksack, der noch an seinem Platz stand, und trat auf den Bahnsteig hinaus.

Plötzlich klingelte ihr Handy, und als sie sah, dass es Angus war, ihr ehemaliger Arbeitgeber, setzte sie sich mit zitternden Knien auf eine Bank. Einem Gespräch mit ihm fühlte sie sich jetzt nicht gewachsen und wartete deshalb, bis ihr das Display anzeigte, dass er auf den Anrufbeantworter gesprochen hatte.

Angus Maitlin war nicht nur ein berühmter Chirurg für die Reichen und Schönen, der regelmäßig in Zeitschriften und im Fernsehen zu sehen war, er war auch ein engagierter und gefragter Mann in der Notaufnahme. Nicht zuletzt war er ein äußerst kluger und scharfsinniger Mensch. In den drei Monaten, die sie für ihn gearbeitet hatte, war Ashley das mehr als deutlich geworden. Und immer hatte er sie zum Lachen bringen können.

Aber jetzt war ihr alles andere als zum Lachen zumute. Wie sollte sie es nur übers Herz bringen, diesen klugen und liebenswürdigen Mann zu belügen?

Entschlossen hörte sie den Anrufbeantworter ab.

„Ashley, ich bin es, Angus. Gemma hat mir gerade erzählt, was vorgefallen ist. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Aber ich mache mir Sorgen um dich. Du hast doch gar kein Geld … Ich hoffe, du bist bei Freunden untergekommen. Wenn du dich doch nur an mich gewandt hättest, wir hätten bestimmt eine Lösung gefunden. Heute werde ich bis spät in die Nacht arbeiten, aber ich rufe dich morgen noch mal an …“

Offensichtlich war Angus der Anruf schwergefallen, das hörte Ashley seiner Stimme an. Plötzlich stiegen ihr die Tränen in die Augen und liefen die Wangen hinunter. Zum ersten Mal seit dem schrecklichen Ereignis. Das Herz wurde ihr schwer, als ihr klar wurde, dass Angus sie für schuldig hielt. Die Enttäuschung in seiner Stimme war mehr, als sie ertragen konnte.

Aber selbstverständlich glaubte er Gemma, seiner Frau. Einer Frau, die ihrem Mann erzählte, seit Ashley bei ihnen arbeitete, sei ein Teil ihres Schmucks verschwunden. Einer Frau, die behauptete, sie hätte Ashley auf frischer Tat ertappt und ihren Schmuck im Nachtkästchen des Kindermädchens gefunden. Und die das aus gutem Grund tat …, sonst hätte sie nämlich zugeben müssen, dass Ashley sie auf frischer Tat ertappt hatte.

Und zwar in flagranti – im Bett mit ihrem Liebhaber, als Ashley unerwartet früh mit den Kindern zurückgekommen war.

Bei der Erinnerung daran flossen Ashleys Tränen erst recht. Schwere Schluchzer erschütterten ihren Körper. Sie hatte so sehr mit dem Weihnachtsgeld gerechnet. Sie brauchte es so dringend, und das nur, weil Nick sie zu Hause in eine verzweifelte Situation gebracht hatte. Zum ersten Mal erlaubte Ashley sich den Luxus, über den Brief zu weinen, den sie vor zwei Wochen von ihrer Bank erhalten hatte. Darin informierte man sie, dass ihr Exfreund einen Kredit auf ihrer beider Namen aufgenommen hatte. Und das ganz ohne ihr Wissen! Dieser Betrug schmerzte noch mehr als die finanziellen Folgen. Immer heftiger flossen die Tränen. Bald war Weihnachten … welch eine Ironie des Schicksals! Mitten in der Menschenmenge fühlte sich Ashley, als sei sie ganz allein auf der Welt.

Aus der Entfernung hörte sie wieder das Schreien des Kindes.

...