Rom oder Tod - Der Kampf um die italienische Hauptstadt

von: Gustav Seibt

Siedler, 2011

ISBN: 9783641037215 , 304 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 18,99 EUR

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Rom oder Tod - Der Kampf um die italienische Hauptstadt


 

EPILOG Das römische Italien 1861 – 2000 (S. 227-228)

Die Fabel der Welt


In der Enzyklika Ubi nos vom 15. Mai 1871, die das italienische Garantiegesetz zurückwies, erklärte die Kurie voller Hohn, die piemontesische Regierung beeile sich, aus Rom ein Märchen für die Welt zu machen – Urbem properat Orbi facere fabulam. Knapper lässt sich die phantasmagorische Seite des langwierigen und leidenschaftlichen italienischen Kampfes um die Hauptstadt nicht kennzeichnen.1 Die Geschichtswissenschaft hat sich seit langem darauf geeinigt, in Rom die »unvermeidliche Kapitale« zu sehen und die Entscheidung für die Ewige Stadt als alternativlos hinzustellen.

Damit folgt sie den Behauptungen Cavours und der späteren italienischen Regierungen. »Ohne Rom als Hauptstadt Italiens kann Italien sich nicht konstituieren«, erklärte der Gründer des italienischen Königreichs in seiner Parlamentsrede vom 25. März 1861. »Die Wahl der Hauptstadt ist bestimmt von großen moralischen Gründen.

Es ist die Empfindung der Völker, welche die darauf bezüglichen Entscheidungen trifft. In Rom nun kommen alle historischen, intellektuellen, moralischen Umstände zusammen, welche die Bedingungen der Hauptstadt eines großen Staates ausmachen müssen. Rom ist die einzige Stadt Italiens, die nicht ausschließlich munizipale Erinnerungen hat; die ganze römische Geschichte von der Zeit der Caesaren bis zum heutigen Tage ist die Geschichte einer Stadt, deren Bedeutung unendlich weit über die Grenzen ihres Territoriums hinausgeht, einer Stadt also, die dazu bestimmt ist, die Kapitale eines großen Staates zu werden.«

Damit verwies Cavour rein materielle Erwägungen wie Geographie, Klima und Verteidigungsfähigkeit von vornherein auf einen untergeordneten Platz. Zwei Tage später ergänzte er, wenn der Papst nicht in Rom säße, sondern an einem von historischen Erinnerungen weniger überfrachteten Ort, wie zum Beispiel Aquileia, seinen Sitz hätte, dann müsste man sein Gebiet nicht annektieren. Warum also brauchte, Cavour zufolge, Italien, damit es seine endgültige Gestalt finden könne, unbedingt Rom und darüber hinaus Rom als Hauptstadt? Aus geschichtlicher Überlieferung und wegen eines allgemeinen Konsenses. Böse könnte man sagen: Weil Rom Rom ist, und das wäre nicht weit entfernt von der päpstlichen Formulierung, die von Rom als der Fabel der Welt spricht.

Die Brisanz der Hauptstadtfrage für den Prozess der italienischen Einigung zeigt jedoch zunächst nur, dass diese Einheit in der Epoche des Risorgimento bestenfalls ein fernes Ziel war, aber nur sehr schwache Fundamente hatte. Wirtschaftlich, gesellschaftlich, kulturell, nicht zuletzt sprachlich war das Land überaus heterogen; ihm fehlte ein natürlicher, historischer oder wirtschaftlicher Schwerpunkt. Seine lokalen historischen Prägungen, seine archaischen Sozialstrukturen und seine Unwegsamkeit ließen es in zahlreiche verschiedenartige Regionen zerfallen.

Ein ausgeprägter Partikularismus hatte seit dem hohen Mittelalter lokale Identitäten erstarken lassen. Metternichs berühmter Satz aus einer Note vom 2. August 1847, dass Italien ein geographischer Name sei, muss nicht unbedingt polemisch verstanden werden.3 Es gibt viele analoge Überlegungen in den gleichzeitigen Schriften des frühen Risorgimento, und sie liegen zumal den föderalen Entwürfen der Neoguelfen zu Grunde. Es ist kein Zufall, dass die überzeugtesten Unitarier wie Mazzini und Garibaldi auch die leidenschaftlichsten Verfechter der Rom-Idee waren. Rom wurde da zum mythischen Surrogat einer noch nicht bestehenden Einheit.