Heimatkunde Berlin

von: Annett Gröschner

Hoffmann und Campe, 2010

ISBN: 9783455380095 , 128 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Heimatkunde Berlin


 

— 1 —

Jeder hat sein eigenes Berlin


Mein Berlin beginnt an einem Sommertag im Jahr 1983. Ein klappriger Lkw mit Magdeburger Nummer hinterlässt ein paar Pappkartons auf einem Hinterhof der Schönhauser Allee. Sie werden in eine Wohnung im ersten Stock getragen, die nur aus einem lichtarmen Berliner Zimmer und einer Küche besteht. Eine halbe Treppe tiefer gibt es noch eine Außentoilette, deren Fußboden durchgefault ist. Die Tür ist gegen die Wand gelehnt. Auch der Kachelofen funktioniert nicht, was ich erst im Spätherbst feststellen werde. Aber es gibt Strom und fließend Wasser, und gegenüber ist das U-Bahn-Klo, das länger geöffnet ist als die Kaufhalle. Als Wohnungsschlüssel dient ein Dietrich genannter, von mir zurechtgebogener Haken, zu irgendetwas mussten ja die Unterrichtstage in der Produktion gut gewesen sein.

Wir wohnen illegal, mach das

dir täglich neu bewußt, daß sonst

wir beide auf der Straße säßen,

schrieb der junge Dichter Uwe Kolbe zwei Straßen weiter östlich. Ich wohne illegal, aber geduldet. Jeden Monat überweise ich dreißig Mark Miete auf ein Konto der Kommunalen Wohnungsverwaltung. Es heißt, ab drei Mieteinzahlungen können sie einen nicht mehr so leicht raussetzen, es sei denn, man hat die falsche Wohnung besetzt – eine konspirative Wohnung der Staatssicherheit oder eine aus dem Kontingent für entlassene Strafgefangene.

So kam ich also nach Berlin und blieb. Ich habe mich in den 27 Jahren seit meiner Ankunft nicht viel mehr als zwei Kilometer um diesen Ausgangsort herum bewegt, und doch hat sich alles gründlich verändert.

Wenn man als junger Mensch Anfang der achtziger Jahre nicht in der Provinz versauern wollte, gab es drei legale Optionen: Dresden, Leipzig und Ostberlin. Letzteres lag von mir aus gesehen am nächsten, auch von der Mentalität her. Zwar existierten auch in Dresden und Leipzig Abrissgegenden, in denen Gleichgesinnte lebten und in denen es sich gut aushalten ließ, aber das Sächsische lag mir nicht. Da war noch ein Rest Preußen in mir, der wollte die Hauptstadt von Preußen. Auch wenn die längst von der Steppe aufgesogen war, wie Gottfried Benn nach dem Krieg gedichtet hatte. Das Gebilde, wo ich hinzog, hieß offiziell Hauptstadt der DDR, und es war nicht abzusehen, dass sich das je ändern würde.

Ich hatte mir in den Jahren, bevor ich volljährig wurde, ein Berliner Leben zusammengesehnt, aus Filmen wie Berlin – Ecke Schönhauser oder dem Tapferen Schulschwänzer und aus Büchern wie Berliner Mietshaus von Irina Liebmann oder Döblins Berlin Alexanderplatz. Angereichert war das Ganze mit dem Sound hinter der Mauer, jener sagenhaften zweiten Stadt, die in den Ostberliner Stadtplänen nur eine Berlin (West) genannte weiße Fläche mit grünen Flecken und breiten namenlosen Magistralen war. Westberlin kam aus dem Radio, mit Spliff, Nina Hagen und Ideal, mit SFBeat und Lord Knut, aber auch mit Lou Reed, Nick Cave und David Bowie. Ich fühl’ mich gut, ich steh’ auf Berlin!, sang Ideal, und ich sang mit, auch wenn ich nie am Bahnhof Zoo ankam wie Annette Humpe, sondern auf dem tristen Vorortbahnhof Schöneweide.

Seit ich 1980 den Film Solo Sunny von Konrad Wolf gesehen hatte, in dem es um eine unangepasste Sängerin in Prenzlauer Berg ging, hatte mein Traum von Unabhängigkeit ein Bild: eine Wohnung im vierten Stock Hinterhaus mit großem Zimmer; Blick auf einen Hof mit Klopfstange, drei grauen Mülltonnen, gurrenden Tauben und alle zehn Minuten auf eine gelb-rote S-Bahn, die in dem hellen Ausschnitt zwischen den Seitenflügeln horizontal durch das Bild fährt; mit Zetteln an der Wohnungstür, auf die Freunde und Bekannte in Ermangelung eines Telefons ihre Botschaften schreiben würden; ein großes Zimmer mit vielen Büchern, ein Schallplattenspieler, Tee in Keramiktassen, eine Schreibmaschine. Hier würde ich frei sein.

Mein Leben in Berlin war dann aber feucht, dunkel und ohne S-Bahn, das Hinterhaus angeklebt an die Flaschenbierabteilung der Schultheiss-Brauerei, die, ungenutzt, nur noch ein Gewirr von unterirdischen labyrinthischen Gängen war. Bier wurde hier schon lange nicht mehr gebraut, wie überhaupt fast alles, was es hier einmal gegeben hatte, verlassen war. Selbst auf den Friedhöfen fanden keine Beerdigungen mehr statt. Ich kam in eine Gesellschaft im Stillstand, sogar Niedergang wäre schon zu viel Bewegung gewesen, die Dichterin Elke Erb nannte es kompakt umschließende Stagnation. Die Jalousien in den Erdgeschosszonen waren heruntergelassen, nur in den Eckhäusern gab es noch die eine oder andere Kneipe, die wie ein verlängertes Wohnzimmer betrieben wurde. Ohne die wäre der Sozialismus noch weniger zu ertragen gewesen. Trotzdem fühlte ich mich hier sofort zu Hause, wie auch sechs Jahre später Kreuzberg mir gleich so vertraut war, als wäre ich nie woanders gewesen, und die Mauer ein Furz aus Beton. Einstweilen aber stand sie noch für ewig. Und kaum zweihundert Meter entfernt ich, mit meiner Räuberleiter aus Gedanken.

Es gibt ein Foto von Helga Paris aus den siebziger Jahren: eine Straße in Prenzlauer Berg, alte Leute über breite Wege aus Granitsteinen schlurfend, die man hier Schweinebäuche nennt, am Straßenrand vereinzelte Autos, die Fassaden der Gründerzeithäuser grau, grau der Himmel, die Mäntel der Leute, die Straßenschilder. Obwohl das Licht von Süden kommt, hängt ein Nebel über der Straße, der mich noch im Nachhinein frösteln lässt. So scheint es mir in der Erinnerung immer gewesen zu sein zwischen Oktober und April. Sofort habe ich den Geruch in der Nase, eine Mischung aus Kohle, Zweitaktgemisch, Pisse und abgestandenem Wasser. Im Winter froren die Toiletten ein, und wenn man versuchte, die Wäsche draußen zu trocknen, legte sich der Ruß der Kohleöfen in feinen Partikeln auf das Gewebe. Etwas Lebendiges, Unverwechselbares aber gibt es auf dem Foto: eine Taube mit weitausgebreiteten Flügeln, grau wie alles andere, aber im Anflug.

Gab es überhaupt Sommer in der Stadt? Ja, ich erinnere mich an das gleißende Licht über völlig leeren Straßen, acht Spuren für einen allein, als gäbe es keine anderen Menschen. In den Vierteln jenseits der Magistralen war der Krieg immer noch anwesend. Die Fassaden waren übersät von Einschüssen und bezeichneten den Verlauf der Front im April 1945, als um jedes Haus gekämpft wurde. Unter jeder Grasnarbe, unter jeder versiegelten Fläche konnte das Grauen verborgen sein, denn die Keller waren bei der Enttrümmerung nur zugeschüttet worden. Immer, wenn man in Prenzlauer Berg um die Ecke ging, fehlte sie, schrieb der Filmemacher Jörg Foth.

Von der DDR-Provinz aus gesehen hatte der Spruch »Stadtluft macht frei« eine ganz besondere Bedeutung. Eigentlich stammte er aus dem Mittelalter. Wenn Leibeigene es nicht mehr aushielten, setzten sie sich oft in die Städte ab, wo sie für ihre Grundherren meist unauffindbar blieben. So wurde es Rechtsbrauch, dass ein in einer Stadt wohnender Unfreier nach Jahr und Tag nicht mehr von seinem Dienstherrn zurückgefordert werden konnte und somit ein freier Bürger war.

Auch ich war, als ich nach Berlin umzog, meiner Vorstellung von Freiheit ein wenig nähergekommen. Die Staatssicherheit fand mich allerdings schon einen Monat später und holte mich zum Verhör ins Polizeipräsidium am Alexanderplatz. Man konnte sich auch in den unübersichtlichen Hinterhöfen des Prenzlauer Bergs nicht wirklich verstecken. Dennoch fühlte ich mich wohl hier, unter Gleichgesinnten. Leute, die Performances, Gedichte, Ohrringe oder einfach nur Humbug machten, die entweder auf die Ausreise nach Westberlin und ein Leben dort warteten, das sie sich wie eine einzige Kreuzberger Dauerparty vorstellten, oder die bleiben wollten, weil sie noch eine Rechnung offen hatten mit dem Land, in dem sie lebten.

Selbst Ostberlin brachte ein Maß an Toleranz auf, das sich leicht mit Gleichgültigkeit verwechseln ließ, die Anonymität war notwendig, um das Maß an Reizüberflutung, die das Leben in einer Großstadt auch in Zeiten des Stillstands mit sich brachte, zu ertragen. Die geistige Haltung der Großstädter zueinander wird man in formaler Hinsicht als Reserviertheit bezeichnen können, schrieb Georg Simmel in seinem Aufsatz Die Großstädte und das Geistesleben und meinte seine Geburtsstadt Berlin. Das galt 1908, wie es hundert Jahre später gilt. Schon Friedrich der Große hatte gefordert, dass jeder nach seiner Fasson selig sein solle. Auch wenn es Zeiten gab, wo genau das den Argwohn der Regierenden verursachte.

Ich fühlte mich, um als Berlinerin zu sprechen, sauwohl, aber Berlin Heimat zu nennen, wäre mir nicht im Traum eingefallen. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Der Begriff Heimat ist im zwanzigsten Jahrhundert so gründlich und von verschiedensten Seiten ideologisiert worden, dass er im 21. zu nicht mehr als einem Alltagswort taugt, etwas, was ich kurz denke, wenn ich dienstags von der Arbeit aus der westdeutschen Provinz kommend mit dem Zug in den Hauptbahnhof einfahre, vor mir das Panorama des Spreebogens mit den Silhouetten von Fernsehturm, Reichstag und Potsdamer Platz, und aufatme, um mich im nächsten Moment zu korrigieren: Heimat? Wie klingt das denn? Sind wir hier im Regionalfernsehen? Kannst du nicht Zuhause sagen?

Heimat meint als Begriff meist das, was man sich nicht aussuchen kann, das aber an einem klebt und aus jeder Kurzbiographie zusammen mit dem Geburtsjahr in die Welt posaunt wird. Das Grimmsche Wörterbuch sieht in der »heimat« mehr als nur den Geburtsort: patria, domicium. das land oder auch nur der landstrich, in...