Die Weichmacher - Das süße Gift der Harmoniekultur

von: Thomas Vasek

Carl Hanser Fachbuchverlag, 2011

ISBN: 9783446427433 , 218 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 17,90 EUR

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Die Weichmacher - Das süße Gift der Harmoniekultur


 

"9 Gegen den Strom oder: Wie Querdenker die Harmonie stören (S. 131-132)

Mabel Yu glaubte kein Wort. Irgendetwas stimmte nicht an den Zahlen. Sie waren einfach zu gut. Viel zu gut, um wahr zu sein. Yu arbeitete 2006 als Analystin bei der Vanguard Group, einem Finanzunternehmen in Pennsylvania, das Investmentfonds im Wert von einer Billion Dollar verwaltete. Eines Tages tauchten Händler bei ihr auf und wollten sie vom Kauf eines neuen Wertpapiers überzeugen, das durch Haushypotheken abgesichert war. Die Papiere seien risikolos, versicherte man ihr. Die Ratingagentur Standard & Poor’s habe sie mit »AAA« bewertet – das höchste Rating. Doch Yu blieb skeptisch.

»Es gab nichts, was diese Ratings unterstützte«, sagte sie dem USMagazin »Ode«: »Sie haben nicht alle wirtschaftlichen Szenarien berechnet. Ich verbrachte Nächte damit, das zu verstehen. Und egal welche Frage ich den Verkäufern stellte – ich bekam darauf keine Antwort.« Stattdessen warfen sie Yu vor, unnötig Probleme zu machen. Die Händler beschwerten sich bei Yus Vorgesetzten über ihre angebliche Unprofessionalität. Der Immobilienmarkt boomte zu dieser Zeit – was sollte da schon schiefgehen?

»Es gab so viel Druck, es war so aufreibend, physisch und mental«, sagt Yu. Die Händler legten ihr nahe, sie solle sich einfach entspannen – und ihnen vertrauen. Doch Yu blieb hartnäckig. Schließlich weigerte sie sich, die aus ihrer Sicht fragwürdigen Papiere zu empfehlen. Und sie sollte recht behalten: Der SubprimeMarkt brach zusammen – der Beginn der weltweiten Finanzkrise. Mit ihrer Standhaftigkeit hatte Yu ihrem Unternehmen einen Millionenverlust erspart. Yu wurde eingeladen, vor dem USKongress über die Vorgänge des Jahres 2006 auszusagen. Yu war eine Abweichlerin. Sie scherte aus jenem irra tionalen Optimismus aus, der die Finanzbranche zu immer wahnwitzigeren Geschäften trieb – und damit die Welt schließ lich in die Rezession stürzte.

Yus Zweifel entstanden nicht im Grup penBrainstorming. Es war kein harmonisches, »emotional intelligentes« Team, das vor den Risiken warnte. Es war ein Individuum. Eine Querdenkerin. Nur wenige stellten sich dem Konsens entgegen. Und wer es dennoch wagte, wurde dafür verhöhnt. Der Ökonom Nouriel Roubini etwa befürchtete schon 2006, die Immobilienblase in den USA könnte platzen. Seine Kollegen gaben ihm dafür den Spottnamen »Dr. Doom« – Doktor Untergang. Querdenker stören die Harmonie. Sie durchbrechen den Kon sens, stellen Gewissheiten infrage und verändern Perspektiven.

Mit ihren Ideen stoßen sie oft auf taube Ohren. Und nicht immer haben sie recht. Doch wenn sie recht haben, dann oft richtig. Mitte des 19. Jahrhunderts behauptete der Arzt Ignaz Semmelweis, dass das gefürchtete Kindbettfieber auf mangelnde Hygiene bei der Geburtshilfe zurückgehe. Semmelweis forderte die Gynäkologen auf, sich die Hände zu waschen, bevor sie bei einer Entbindung assistierten. In seiner Klinik sank dadurch die Müttersterblichkeit bei der Geburt von zwölf auf zwei Prozent. Was uns heute selbstverständlich erscheint, stieß damals unter den Ärzten auf heftigen Widerstand. Die Kollegenschaft überzog Semmelweis mit Spott: Die Mediziner wollten einfach nicht glauben, dass sie selbst die Krankheit verursachten. Im Jahr 1984 behauptete der australische Arzt Barry Marshall, dass Magengeschwüre nicht durch Stress entstehen – sondern durch bestimmte Bakterien. Seine Zunft hielt das für Unfug."