Die Kinder - Thriller

von: Wulf Dorn

Heyne, 2017

ISBN: 9783641196813 , 320 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 13,99 EUR

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Die Kinder - Thriller


 

I. Die Tankstelle. Sturmfahrt. Der Fund.

I.

Die Tankstelle. Sturmfahrt. Der Fund.

Noch bevor der zweite Signalton für die Kurzmitteilung verstummt war, hatte sich Patrick Landers bereits das Handy gegriffen.

Endlich!

Doch statt Sus Foto erschien auf dem Display nur das Logo seines Mobilfunkanbieters. Die Nachricht darunter warb für extra günstige Herbsttarife.

»Verdammt!«

Er ließ das Telefon zurück auf den Beifahrersitz fallen. Vor ihm lag noch ein gutes Stück Fahrt, und der Himmel verdunkelte sich wie ein unheilvolles Omen. Er erhöhte das Tempo und sah in den Rückspiegel, als könne er dort die Gesichter zu den Stimmen sehen, die ihn in seinen Gedanken verfolgten.

»… spricht kaum noch ein Wort …«

»… wie ein völlig anderer Mensch …«

»… hat sich plötzlich verändert …«

»… verhält sich merkwürdig, irgendwie … Wie soll ich sagen? Unheimlich. Ja, unheimlich!«

»Sie mögen mich für verrückt halten, Doktor, aber ich fürchte mich vor ihr.«

Und schließlich die Worte seines Doktorvaters: »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, Patrick. Ich bin ebenso ratlos wie du. In meinen zwanzig Berufsjahren ist mir so etwas noch nie untergekommen.«

Diese Worte wogen für Patrick am schwersten von allen. Gleich nach diesem Telefonat war er aufgebrochen, und seither bereute er, nicht schon viel früher losgefahren zu sein. Warum, zum Teufel, hatte er eine weitere Nacht verstreichen lassen?

Die Landstraße machte eine Linkskurve, vorbei an den heruntergekommenen Gebäuden einer längst aufgegebenen Molkerei, und dann endlich war der Pass ausgeschildert. Niemand kam ihm entgegen, und auch hinter ihm blieb die Straße leer. Seit er von der Autobahn abgefahren war und wenig später die Bundesstraße verlassen hatte, war er kaum noch einem anderen Fahrzeug begegnet, und seit einer knappen halben Stunde war er nun schon allein unterwegs. Das würde sich erst wieder zur Frühlingssaison ändern, wenn sich die Wohnmobile der Touristen über die schmale Strecke quälten, um in der abgelegenen Berggegend einen Wanderurlaub oder ein paar Tage beim Paragliding zu verbringen.

Falls dann überhaupt noch jemand hierherkommt.

Vor ihm verschwand nun auch das letzte Abendlicht unter der dicken schwarzen Wolkendecke, die nichts Gutes verhieß. Seit dem Nachmittag hatte der Wetterdienst vor orkanartigen Böen und starken Regenfällen in den höheren Lagen gewarnt. Ein Herbststurm konnte auf diesen engen, kurvenreichen Bergstraßen besonders gefährlich werden.

Doch noch mehr als das Wetter sorgte Patrick das, was ihn möglicherweise an seinem Ziel erwartete. Die Angst, er könnte mit seiner Vermutung richtigliegen, ließ ihm keine Ruhe mehr.

Vor Jahren hatte Su ihm ein T-Shirt mit dem Aufdruck Take it easy or easy takes you geschenkt. »Das passt zu dir«, hatte sie gesagt, und keiner, der Patrick auch nur ein wenig kannte, hätte ihr widersprochen. Patrick Landers war niemand, der sich schnell aus der Ruhe bringen ließ. Zwar hatte sich seither vieles verändert – Su und er waren nun schon eine ganze Weile nicht mehr zusammen und das inzwischen abgetragene T-Shirt wartete längst in irgendeiner Ecke seines Schlafzimmerschranks auf die Altkleidersammlung –, aber der Spruch traf es immer noch. Je älter Patrick wurde, desto mehr. In den fünfunddreißig Jahren seines Lebens hatte er gelernt, dass sich die meisten Dinge als harmloser erwiesen, als sie auf den ersten Blick schienen. Vorausgesetzt, man ging sie mit Bedacht und der nötigen Gelassenheit an.

Doch diesmal hatte er die Situation unterschätzt. Su hatte versprochen, sich bei ihm zu melden. In all den Jahren, die sie sich kannten, hatte sie ihre Versprechen stets gehalten. Aber nun waren schon drei Tage vergangen, ohne eine Nachricht von ihr. Kein Rückruf, keine SMS, nichts. Grund genug, ernsthaft besorgt zu sein und davon auszugehen, dass etwas passiert war. Etwas, das er vielleicht hätte verhindern können.

Verdammt, warum hatte er nur so lange gezögert? Statt nur etliche Male vergeblich bei ihr anzurufen und darauf zu warten, dass sie sich bei ihm meldete, hätte er sich längst schon auf den Weg machen sollen. Denn falls sich seine Vermutung bewahrheitete, die sich mehr und mehr in ihm ausgebreitet hatte und mittlerweile fast schon Gewissheit war, durfte er keine Zeit mehr verlieren.

Was, wenn ich zu spät komme?

Er verscheuchte den Gedanken, der ihn wieder und wieder befiel wie ein lästiges Insekt, und rieb sich die brennenden Augen. Er war erschöpft von der langen Fahrt und einer unruhigen Nacht davor. Einer Nacht, in der er sich im Bett gewälzt hatte und von jenen Stimmen geplagt worden war, die ihn jetzt verfolgten.

»… hat sich plötzlich verändert …«

»… verhält sich merkwürdig …«

» … unheimlich!«

Er hätte jetzt viel für einen starken Kaffee gegeben. Außerdem näherte sich die Tankanzeige dem Reservebereich. Er konnte es noch bis zum Ziel schaffen, schätzte er, aber es würde knapp werden.

Schließlich siegte die Vernunft über die Ungeduld, und er hielt an einer Tankstelle, die mit einer großen Tafel an der Einfahrt darauf hinwies, dass sich die Nächste Tankstelle in 30 km Entfernung befand.

Die Tafel entpuppte sich jedoch als ein schlechter Scherz des Schicksals. Denn als er eilig ausstieg und den Zapfstutzen in die Tanköffnung steckte, zeigte die Zapfsäule keine Reaktion. Sie war abgeschaltet, ebenso wie die Lichter in dem abgelegenen Tankstellengebäude. Dann erst fiel ihm auf, dass auch im angrenzenden Wohnhaus alles dunkel war.

Wie um die Schilder, die für Täglich frische Croissants, Coffee to go und Gratis Reifencheck – Fragen Sie an der Kasse warben, Lügen zu strafen, klebte ein Zettel an der Eingangstür, auf den jemand in krakeliger Handschrift Vorübergehend geschlossen geschrieben hatte.

Für einen Augenblick blieb Patrick vor der Tür stehen. Etwas an dieser Nachricht irritierte ihn. Etwas, das er sich selbst nicht erklären konnte und das sich wohl am ehesten als Intuition beschreiben ließ. Die Augen lassen sich täuschen, das Bauchgefühl nicht, hatte man ihm im Medizinstudium eingetrichtert – und das Leben hatte ihn gelehrt, dass dieser Satz nicht nur auf die medizinische Diagnostik zutraf.

Vielleicht lag es an der Art, wie dieser Zettel geschrieben worden war. Eilig hingekritzelt, als habe der Inhaber den Laden geradezu fluchtartig verlassen.

Der Wind wurde allmählich stärker und trug den Geruch von Regen vor sich her. Donner grollte, gewaltig und bedrohlich nah.

Patrick wandte sich von der merkwürdigen Notiz ab und eilte zu seinem Wagen zurück. Er hatte hier bereits viel zu viel Zeit verplempert. Er setzte zurück auf die Straße, wobei er seine Tankanzeige ignorierte, und fuhr weiter.

Bald darauf waren die verlassenen Gebäude mit den dunklen Fenstern aus seinem Rückspiegel verschwunden. Die Schar Fliegen, die sich gegen eines dieser Fenster drängte, hatte er nicht bemerkt.

Es waren nur noch wenige Kilometer bis zur Passstraße, als der Sturm schließlich losbrach. Die dunkle Wolkenwand hatte den Abendhimmel nun völlig verschlungen und hielt ihr finsteres Versprechen. Der Wind wuchs zum Getöse an und rüttelte so heftig an dem Mercedes, dass Patrick Mühe hatte, die Spur zu halten.

Dicke Regentropfen klatschten gegen die Windschutzscheibe. Mit jeder Sekunde wurden es mehr, bis schließlich ein wahrer Sturzbach niederging und die Straße durch die Wasserschleier kaum noch zu erkennen war.

Patrick blieb keine andere Wahl, als das Tempo zu verlangsamen. Fluchend schaltete er einen Gang zurück.

Während er die Serpentinen hochfuhr und mühsam versuchte, etwas durch den Wasserfall auf seiner Windschutzscheibe zu erkennen, musste er immer wieder an den handgeschriebenen Zettel denken. An diese seltsame, beunruhigende Intuition. Als gäbe es einen Zusammenhang zwischen seinen Befürchtungen und der verlassenen Tankstelle.

Das war natürlich Unsinn. Er redete sich das nur ein, weil er müde, überspannt und aufgewühlt war. Bei Erschöpfung und in Stresssituationen konnte man durchaus paranoid werden.

Obwohl die Wischanlage jetzt auf höchster Stufe lief und die Scheibenwischer hektisch hin und her zuckten, vermochten sie kaum noch etwas gegen die Wassermassen auszurichten. Ausgerechnet jetzt, wo die Straße anstieg und zunehmend kurviger wurde.

Ungeduldig hieb er auf das Lenkrad, nur um sich gleich darauf wieder zur Ordnung zu rufen. Er musste dem Drang widerstehen, aufs Gaspedal zu treten und die nächste Kurve schneller zu nehmen. Bei solchem Wetter überhaupt auf dieser Strecke unterwegs zu sein, war schon gefährlich genug. Er sah kaum etwas vor sich. Hinter jeder Biegung konnte rutschiges Herbstlaub lauern. Oder Geröll, das der Sturm von den Felshängen gelöst hatte.

Er rieb sich wieder die Augen und warf einen raschen Blick in den Rückspiegel. Er war weiterhin allein unterwegs. Im Dämmerlicht der Armaturenbeleuchtung sahen seine Augen wie die eines Hauptdarstellers in einem Horrorfilm aus. Wie Dr. Jekyll, nachdem er sich in Mr. Hyde verwandelt hatte.

Er versuchte, sich mit dem Gedanken zu beruhigen, dass er bald den Scheitel der Passstraße erreicht haben...