Sind dann mal weg - Roman

von: Simone Veenstra

Heyne, 2017

ISBN: 9783641196516 , 400 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Sind dann mal weg - Roman


 

Prolog

49°46’40.5‘‘N

»Okey-dokey, Granny, dann bis nächste Woche – same time, same game.« Tinas Enkel Adrian winkte fröhlich in die Kamera.

Same game. Granny und okey-dokey.

Adrian hatte schon immer ein Faible für amerikanische Ausdrücke und coole Floskeln gehabt. Aber seit dem Umzug vor ein paar Jahren nach New York war dies in ungeahnte Höhen geschossen. Manchmal wurde es schwer, ihn zu verstehen. Mit same time, same game allerdings traf er den Nagel auf den Kopf!

Seit Tina in das Seniorenwohnheim Schafweide gezogen war, verschmolzen ihre Tage zu einem gleichmäßigen, farblosen Brei von Aus-dem-Fenster-Gucken, Fernsehen und prothesenfreundlichem Essen in der als Speisesaal getarnten Seniorenfütterungsstelle. Gäbe es nicht den Kalender an dem besten Platz überhaupt – direkt neben der Toilette –, hätte sie längst den Überblick verloren. Wie die meisten hier.

Doch seit vierundvierzig Tagen, seit sie hier eingezogen war, bestand ihre erste Tat des Morgens darin, den roten Plastikrahmen ein Kästchen weiter zu rücken. Vierundvierzig Tage, etwas über sechs Wochen. Eine zähflüssige Ewigkeit.

»Jetzt musst selbst du dir eingestehen, dass du allein nicht mehr zurechtkommst!«, hatte ihre Tochter Laura vor knapp zwei Monaten behauptet, als sie Tina im Krankenhaus anrief. Nur wenig später hatte Laura von Amerika aus bereits alles organisiert und kündigte Tina, keine Widerrede duldend, den Besuch eines Heimmitarbeiters an. Und schob vorwurfsvoll hinterher: »Wie konntest du nur vergessen, den Gashahn abzudrehen, Mutter?«

Ja, wie konnte sie nur?! Im Grunde war es ganz einfach gewesen: Von Feuerwaffen hatte Tina nie viel gehalten und ihren Fingern nach der Diagnose des beidseitigen Karpaltunnelsyndroms keinen ordentlichen Knoten mehr zugetraut. Der Herd schien die sauberste Lösung: Hahn auf und warten, bis es keinen weiteren Morgen mehr gab, an dem sie in dem leeren Häuschen aufwachen musste. Ihr Haus, in dem schon viel zu lange niemand mehr fröhlich gelacht hatte, in dem es nur Stille gab und ein weißes Rauschen, das jeden klaren Gedanken unter sich begrub – außer einem: Das will ich nicht. Nicht so. Nicht mehr.

Aber anstatt ihre Tochter mit der Wahrheit zu erschrecken, hatte Tina die Antwort geschickt verhüstelt. Lauras Frage war sowieso rhetorisch gewesen und Tinas Vergiftung nur eine leichte. Einer der Jungs, die Geld für die Renovierung der Kirchenbänke sammelten, hatte durch das Küchenfenster geblickt und sie zusammengesunken auf dem Stuhl vor dem Herd entdeckt. Daran, die Vorhänge zuzuziehen, hatte sie nicht gedacht. Dumm von ihr.

Der Umzug ins Heim war schneller gegangen als das Kofferpacken nach ihrer Entlassung aus dem Spital. Seitdem diktierten andere Regeln ihren Tagesablauf, ein gut gemeinter Rhythmus, der verhindern sollte, dass sich die hier zusammengewürfelten Anwesenden aus Versehen selbst aus dem Leben beförderten. Er sorgte dafür, dass Tina sich derart fremdbestimmt durch die Stunden quälte, wie sie es nie hatte wollen.

Früher, als der »Herbst des Lebens« noch so weit entfernt gewesen war, dass diese schönfärberische Formulierung glaubhaft klang, hatte sie ihn sich anders vorgestellt: voller Hochbeete und pflegeleichter Wiesenblumen, ein bisschen langsamer als bisher natürlich, womöglich nicht ganz schmerzfrei, auch das, aber zumindest umgeben von Freunden und Bekannten und ihrer Familie. Doch Ersteren war es nach und nach ergangen wie ihr selbst, Letztere hatte ja wegen Lauras Karriere unbedingt auf die andere Seite der Welt ziehen müssen. Und eine knorrige Konifere wie sie in ein anderes Land verpflanzen … selbst wenn sie gewollt hätte, im Haus ihrer Tochter war sie von Anfang an nicht eingeplant gewesen.

Stattdessen hatte ihr Schwiegersohn alles versucht, um ihr den Aufenthalt im Seniorenheim Schafweide schmackhaft zu machen. »Die sind echt super ausgestattet – Mal-, Bewegungstherapie, Seniorenschwimmen, bunte Abende: Du wirst massenhaft neue Freunde finden«, hatte er ihr so begeistert vorgeschwärmt, dass sie ihm am liebsten vorgeschlagen hätte, doch selbst einzuziehen. Maltherapie, neue Freunde – wen dachte er vor sich zu haben? Eine Viertklässlerin am ersten Tag in einer neuen Schule??

Nein, Freundschaften würde sie hier nicht schließen, das war ihr schon während des ersten Essens im Speisesaal klar geworden. Seitdem begegnete sie dem immer gleichen Seufzen ihrer Tischnachbarn über Verdauungsschwierigkeiten, Inflation und andere Ärgernisse, gegen die nichts zu tun war, mit dem Abstellen ihres Hörgerätes. Niemanden gab es hier, mit dem man diskutieren konnte, niemanden, der auch mal einen intelligenten Witz riss … und falls doch, schienen sich diese besonderen Exemplare gut zu verstecken.

In die Schwimmgruppe war Tina ein einziges Mal gegangen. Allerdings nicht ins Wasser. Das penetrant fröhliche »Na, Schätzchen, neu hier?« der Therapeutin hatte ihr schon vor dem Beginn der Stunde den Rest gegeben. Einmal in der Woche lieh sich Tina einige Bücher aus der Heim-Bibliothek und legte auf dem Rückweg in ihr Zimmer eine kleine Pause vor dem Gemeinschaftszimmer im Erdgeschoss ein. Es war das Höchstmaß an Zugehörigkeit, das sie ertrug. Unsichtbar lehnte sie dann am Türrahmen und beobachtete ihre Mitinsassen beim Damespielen mit den bunten Steinen des Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiels, beim Streiten um die Fernbedienung des Flachbildfernsehers, beim Austausch von Pralinen und Lästereien: Frau Doktor aus dem Erdgeschoss bestand auf einen männlichen Friseur, der Dicke aus dem zweiten glaubte, er sei Elvis Presley. Der Mann von Oberschwester Ursula hatte sie neulich wegen einer Jüngeren verlassen. Und der Dauerbrenner unter den anwesenden Damen war die Frage, welche von ihnen wohl am ehesten Chancen bei Ole Erickson habe. Tina hätte es ihnen beantworten können: keine. Der alte Kapitän aus dem Zimmer ihr gegenüber war zu allen gleich freundlich, das schien in seiner Natur zu liegen. Doch sämtliche privaten bis intimen Fragen prallten von ihm ab. Es schien ihm wie ihr selbst zu gehen, auch Tina blieb lieber für sich. Ein Hoch auf Lektüre in Großbuchstaben, den Fernseher in ihrem Zimmer und das Leben aus zweiter Hand!

»Also hören wir uns nächsten Samstag wieder?« Tina schreckte aus ihren Gedanken. Adrian beugte sich fragend vor, die Webkamera verzerrte sein Gesicht zu etwas Fischigem. Dabei sah der Junge eigentlich nicht schlecht aus.

»Wenn ich dann noch da bin …« Tina biss sich auf die Zunge. Jetzt hatte sie es schon wieder gesagt!

Adrian winkte lachend ab. »Aber natürlich bist du das. Du wirst mindestens hundert!«

Bloß das nicht! »Das Herz eines Bullen«, erklärte der Heimarzt nach jedem ihrer wöchentlichen Checks fröhlich. Als wäre das etwas Gutes. Jedes Mal wünschte sich Tina, es wäre andersherum: Knochen und Gelenke eines jungen Mädchens und ein Herz, das mitleidig aufgab, bevor sich das änderte.

Sie zwang sich zu einem Lächeln, winkte und spitzte die Lippen kokett zu einem Luftkuss. Das brachte Adrian immer zum Lachen. So sollte er sie in Erinnerung halten. Exakt so.

Seine Gestalt auf dem Monitor, eben noch so lebendig, fror ein. Es folgte dieser unnatürliche Ton, als versuchte jemand, ein Meerschweinchen in der Gießkanne zu ertränken, und es schnellte wider Erwarten zurück an die Oberfläche. Wooohooop! Tina kniff die Augen zusammen und sah sich um. Von hier aus waren die Baumwipfel durch ihre Fenster nur schemenhaft zu erkennen. In der letzten halben Stunde war es dunkel geworden. Die Pflegerin der Nachschicht hatte die Tabletten verteilt.

Entschlossen löste sie den farbenfrohen Schal um ihren Hals, der ihr für heute gewähltes schwarzes Wollkostüm vervollständigte, und drückte den Aufwärtsknopf des Hightech-Sessels. Eine der vielen Erleichterungen für das Alter, die sich in ihr Leben geschlichen hatten. Erst kaum merklich, dann immer schneller.

Entschlossen stand sie auf und schritt auf das Fenster zu. Im Vorbeigehen warf sie den Schal über die noch immer blinkende Webcam. Seit Adrian ihr erzählt hatte, dass wer auch immer aus welchem Grund auch immer dafür sorgen konnte, dass diese Kameras weiter aufnahmen, obwohl sie scheinbar ausgestellt waren, ging sie auf Nummer sicher. Herr Wer-auch-immer würde sie nicht dabei erwischen, wie sie in Stützstrümpfen einen Fenstersprung hinlegte. Diesmal würde sie niemand rechtzeitig entdecken. Diesmal musste es klappen!

Die Straßenlampe blinkte kurz, dann ging sie aus. Tina öffnete das Fenster. Einen Moment sammelte sie sich, dann schob sie den Stuhl dicht davor und stieg vorsichtig darauf. Seit sechs Wochen stellten die viel zu jungen Pflegerhelferinnen ihn morgens zurück in die Küchenzeile. Jeden Nachmittag bugsierte Tina ihn wieder zu seiner Ausgangsposition. Sechs Wochen, in denen sie nicht genug Mut aufgebracht hatte – oder aber womöglich auf Besserung gehofft? In ihrem Alter! Absurd! Wie sehr, das hatte sie seit heute schriftlich: Nur noch eine Frage von Wochen würde es sein, bis sie selbst nicht mehr die Klettverschlüsse der Schuhe öffnen konnte. Von Schnürsenkeln war schon seit Langem nicht mehr die Rede.

»Ganz normal für Ihr Lebensalter«, hatte der Heimarzt betont fröhlich abgewunken. »Verschleißerscheinungen.« Als wäre irgendetwas normal daran, dass einem der eigene Körper nicht mehr gehorchte. Dass es nicht mehr besser wurde. »Aber«, hatte er sie breit angelächelt, »es gibt inzwischen sehr gute Schmerzmedikation!« Toller Vorschlag: sich Tag für Tag zuzudröhnen, um bewegungslos im Sessel dahinzuvegetieren?! Nein, danke. Nicht mit ihr!

Als sie beherzt...