Public Health - Kompakte Einführung und Prüfungsvorbereitung für alle interdisziplinären Studienfächer

von: Lotte Hebermann-Horstmeier

Hogrefe AG, 2016

ISBN: 9783456957067 , 160 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 16,99 EUR

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Public Health - Kompakte Einführung und Prüfungsvorbereitung für alle interdisziplinären Studienfächer


 

2 Public Health oder Gesundheitswissenschaften?


2.1 Public Health im deutschen Sprachraum


Der Begriff der „Gesundheitswissenschaften“ (engl.: Health Sciences) wurde zu Beginn der 1980er Jahre in Deutschland geprägt. Er wird häufig synonym zum Begriff „Public Health“ verwendet, was jedoch nicht ganz korrekt ist. Beide Begriffe bezeichnen nicht exakt dasselbe. Gegenstand der Gesundheitswissenschaften sind die körperlichen, psychischen und sozialen Bedingungen von Gesundheit und Krankheit innerhalb einer Gesellschaft. Sozial- und geisteswissenschaftliche Fächer spielen daher bei den Gesundheitswissenschaften eine besonders große Rolle.

In Deutschland gibt es – anders als z.B. in der Schweiz – zahlreiche renommierte Vertreter in diesem Bereich, die sich für die Verwendung des Begriffs „Gesundheitswissenschaften“ anstatt „Public Health“ einsetzen. Hierzu gehören etwa Klaus Hurrelmann und Oliver Razum (im Handbuch der Gesundheitswissenschaften, 5. Aufl. 2012). Sie betonen dabei, dass es – ganz im Sinne von „Public Health“ – auch bei den Gesundheitswissenschaften vor allem darum geht, die Gesundheit der Bevölkerung durch Krankheitsverhütung und Gesundheitsförderung zu verbessern.

Doch weshalb gibt es überhaupt diese beiden unterschiedlichen Begriffe für einen Wissenschaftsbereich? Der Begriff „Public Health“ kommt aus dem englischen Sprachraum. Das Fach kann dort bereits auf eine mehr als 100-jährige Tradition zurück blicken (s. Kap. 2.2). Anders dagegen im deutschen Sprachraum. Hier wurde eine ähnliche Entwicklung, der Aufbau der „Sozialhygiene“ (s. Kap. 2.3), abrupt durch den Nationalsozialismus unterbrochen. Nach dem zweiten Weltkrieg dauerte es bis in die 1980er Jahre, bis Wissenschaftler in der Bundesrepublik Deutschland versuchten, an diese alte Tradition anzuknüpfen und dabei auch neuere Erkenntnisse aus anderen Ländern zu berücksichtigen. Sie prägten dann den Begriff „Gesundheitswissenschaften“. Ganz unterschiedlich verlief dagegen die Entwicklung in der DDR, in Österreich oder in der Schweiz.

2.2 Die angelsächsische Tradition


Anders als im deutschen Sprachraum, kann Public Health im angelsächsischen Sprachraum auf eine mehr als 100-jährige Tradition zurückblicken. Zu den weltweit führenden Public-Health-Forschungs- und Ausbildungszentren gehören heute etwa die London School of Hygiene & Tropical Medicine (s. Abbildung 2-1) und die John Hopkins Bloomberg School of Public Health in Baltimore (USA).

Abbildung 2-1: Logo der London School of Hygiene & Tropical Medicine. Quelle: Mit freundlicher Genehmigung der London School of Hygiene & Tropical Medicine vom 07. April 2014.

Die Entstehung von Public Health, so wie der Begriff im englischen Sprachraum heute verstanden wird, ist eng mit der prekären sozialen Lage der Arbeiterfamilien im industriellen England des 19. Jahrhunderts verbunden. In dieser Zeit entstanden soziale Reformbewegungen, die versuchten, die Situation der Arbeiter und ihrer Familien zu verbessern. Überlange Arbeitszeiten, Kinderarbeit, schwerste körperliche Arbeit, Arbeit und Leben unter Tage sowie furchtbare Wohnverhältnisse (s. Abbildung 2-2) führten dazu, dass immer wieder Epidemien wie die Londoner Choleraepidemien von 1832, 1849 und 1853/54 ausbrachen. Auch litt die Arbeiterschaft unter Tuberkulose und chronischen Krankheiten wie der Rachitis – letztere wurde daher in Deutschland auch als Englische Krankheit bezeichnet. Erste Public-Health-Bestrebungen im England des 19. Jahrhunderts zielten deshalb auf eine Verbesserung der sanitären Bedingungen in den Städten und der Verhältnisse an den Arbeitsplätzen. So förderte man mit dem Public Health Act von 1848 den Bau von Wasserleitungen und Kanalisationsanlagen. Darüber hinaus wurde die Kanalisation nun regelmäßig kontrolliert, die Straßen wurden gereinigt, das Betreiben von Schlachthöfen reglementiert und die ordnungsgemäße Versorgung der Bevölkerung mit Wasser sichergestellt. Man setzte also mit gesundheitspolitischen Maßnahmen an den Bedingungen an, in denen Menschen leben.

Abbildung 2-2: Die engen Wohnverhältnisse in einem „Lodging House“ im London des 19. Jahrhunderts. Quelle: s. Linkverzeichnis [2] in Kap. 11.

Später, gegen Ende des 19. Jahrhunderts, schickte man in Großbritannien dann v.a. Frauen als staatlich geprüfte „Women Sanitary Inspectors“ in Schulen (s. Abbildung 2-3) und in die Häuser der ärmeren Bevölkerung, um dort die hygienischen Bedingungen zu überprüfen. Eine weitere Aufgabe dieser Frauen war es, Familien in gesundheitlicher Hinsicht zu schulen und junge Mütter in Säuglingspflege zu unterrichten.

Abbildung 2-3: Women Sanitary Inspectors suchen in den Haaren der Mädchen einer britischen Schule nach Läusen. Quelle: s. Linkverzeichnis [3] in Kap. 11.

Ähnliche Aufgaben übernahmen die „Public Health Nurses“ gegen Ende des 19. Jahrhunderts in den USA. Sie überwachten öffentliche und kirchliche Schulen in gesundheitlicher Hinsicht, betreuten werdende Mütter vor der Geburt und unterrichteten in Säuglingspflege. Darüber hinaus kümmerten sie sich um Menschen mit übertragbaren Krankheiten – insbesondere um Personen, die an Tuberkulose erkrankt waren – und sorgten bei ihnen für bessere Lebensbedingungen (Abbildung 2-4).

Abbildung 2-4: Eine Public Health Nurse bei ihrer Tätigkeit im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe in den USA der 1930er Jahre. Quelle: s. Linkverzeichnis [4] in Kap. 11.

In der Folgezeit waren es neben besseren hygienischen Bedingungen v.a. Impfprogramme und die effektive Bekämpfung von Infektionskrankheiten wie Poliomyelitis (Kinderlähmung, s. Abbildung 2-5), Diphtherie, Gelbfieber und Pocken, die dazu führten, dass die Lebenserwartung der Menschen stieg. Vor allem die Säuglingssterblichkeit wurde erheblich reduziert. Der Fokus von Public Health richtete sich daher etwa ab der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts verstärkt auf die nun häufiger werdenden chronischen Erkrankungen (epidemiologische Transition, s. Kap. 7.2). Nun wurden z.B. Maßnahmen und Programme zur Tabakkontrolle entwickelt. Darüber hinaus suchte man bei den betroffenen Menschen, in ihrem Lebensstil und ihrer Umwelt intensiv nach weiteren Faktoren, die das Risiko für chronische Erkrankungen erhöhen könnten. Aber auch Familienplanung, Arbeitssicherheit und die Sicherheit im Straßenverkehr wurden nun zu wichtigen Public-Health-Themen.

Abbildung 2-5: Zeitungsschlagzeilen in US-Zeitschriften zur erfolgreichen Testung der Polio-Impfung am 13. April 1955. Quelle: s. Linkverzeichnis [5] in Kap. 11.

Aufgabe 2

  1. Welche Bedeutung haben die im 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts im englischen Sprachraum so wichtigen Public-Health-Themen „öffentliche Hygiene“ (z.B. Wasserreinhaltung, Abwasser etc.), „persönliche Hygiene“, Betreuung von Schwangeren und Säuglingen sowie Bekämpfung von Infektionskrankheiten (z.B. durch Impfungen) in unserer heutigen Gesellschaft? Sammeln Sie hierzu aktuelle Informationen aus Tageszeitungen oder von Nachrichtenseiten aus dem Internet und kommentieren Sie die so gewonnenen Informationen im Hinblick auf diese Fragestellung.
  2. Beziehen Sie Frage 1 auf Ihren Arbeits- oder Studienbereich. Sind die genannten Themen dort von Bedeutung? Werden hier entsprechende gesundheitsfördernde bzw. krankheitspräventive Maßnahmen durchgeführt?

2.3 Die Bedeutung von Sozialhygiene und Nationalsozialismus für die deutsche Tradition


Auch in Deutschland entwickelten sich im 19. und frühen 20. Jh. verschiedene Strömungen, die u.a. die Bedingungen, in denen Menschen leben mussten, mit dem Auftreten bestimmter Erkrankungen in Verbindung brachten. So ist etwa Konzept der Sozialhygiene eng mit den sozialreformerischen Ansätzen des 19. Jh. verbunden, deren Ziel es war, die prekäre soziale Lage der Arbeiterfamilien zu verbessern.

2.3.1 Allgemeine Hygiene


Den Begriff der „sozialen Hygiene“ verwendete jedoch vermutlich erstmals Max von Pettenkofer (1818–1901) Anfang der 1870er Jahre. Von Pettenkofer war wie Rudolf Virchow (1821–1902) eigentlich ein Vertreter der „allgemeinen Hygiene“. Leitwissenschaft dieses Krankheitskonzeptes war die sich gerade neu entwickelnde Bakteriologie. Sie erlebte in den Jahren zwischen 1870 und 1910 nicht nur in Deutschland einen großen Aufschwung. Ursache hierfür waren die Entdeckungen zahlreicher krankheitserregender Bakterien (z.B. durch Robert Koch [1843–1910] und Friedrich Loeffler [1852–1915]) und die Beachtung dieser Entdeckungen in Politik und Gesellschaft. Das Krankheitskonzept der „allgemeinen Hygiene“ betrachtete dabei in erster Linie den einzelnen kranken Menschen sowie den jeweiligen Erreger einer bestimmten Erkrankung und schaute nicht oder kaum auf die Verhältnisse, in denen die erkrankten Menschen lebten.

2.3.2 Der Beginn der Sozialhygiene


Es gab jedoch etwa zur gleichen Zeit auch Ärzte wie den sozialdemokratischen Arzt Alfred Grotjahn (1869–1931), die sich mit den...