Pogrome im Zarenreich - Dynamiken kollektiver Gewalt

von: Stefan Wiese

Hamburger Edition HIS, 2016

ISBN: 9783868546798 , 350 Seiten

Format: PDF, ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 21,99 EUR

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Pogrome im Zarenreich - Dynamiken kollektiver Gewalt


 

1 Pogrom als Improvisation


Die Geschichte der Pogrome im Russischen Reich beginnt in Neurussland, jenem im Laufe mehrerer Kriege dem Krim-Khanat und der Hohen Pforte abgerungenen Territorium an der Küste des Schwarzen und des Asowschen Meeres.1 In der bis dahin spärlich besiedelten Steppe wurden durch absolutistische Peuplierungspolitik russische und ukrainische Bauern heimisch gemacht. Privilegien für ausländische Siedler, die sogenannten Kolonisten, lockten vor allem Balkanchristen, Griechen aus dem Schwarzmeergebiet, Armenier und Deutsche in das neu zu erschließende Land.2 Ab 1764, zu einer Zeit also, als sich Juden eigentlich gar nicht in den Grenzen des Reiches niederlassen durften, wurden, um Fürst Grigorij A. Potemkin, den Günstling Katharinas II. und ersten Generalgouverneur Neurusslands, zu zitieren, »sogar« sie von staatlichen Stellen ermutigt, Neurussland zu ihrer Heimat zu machen.3 Neurussland war ein Ort rapider wirtschaftlicher Entwicklung. Innovative Anbaumethoden, günstige naturräumliche Gegebenheiten und die nahen Schwarzmeerhäfen verwandelten die Region in die Kornkammer des Reiches.4 Wenig später florierte zudem im Nordwesten die Zuckerindustrie, und im Osten wuchs ein neues Zentrum der Montanindustrie heran.5

Auftakt in Elisavetgrad


Mit seinem bunten Bevölkerungsgemisch wurde Neurussland auch zum Schauplatz der ersten Judenpogrome im Russischen Reich, die auf die Jahre 1821, 1859 und 1871 datieren. Sie alle beschränkten sich auf die Stadt Odessa. Da die Täter bis 1871 vornehmlich Griechen waren, konnten die Pogrome als Besonderheit der exotischen Stadt am Schwarzen Meer gesehen werden.6 1871 gab es dann unter den Tätern auch viele Russen, und diese Unruhen waren die ersten, die im Reich überhaupt größere Beachtung fanden.7 Wenn die Zeitgenossen in der Folge Pogrome erwarteten, dachten sie an Odessa. Sie hatten vereinzelte Vorkommnisse vor Augen, bei denen mitunter Menschen zu Tode kommen konnten, die aber keine größere Bedeutung für das Reich und seine Juden hatten. So war es auch im Frühjahr 1881. Es gab keinen Grund, mit dem zu rechnen, was kommen würde.

Im Jahr 1881 wurden Pogrome erstmals zu einer Massenerscheinung im Russischen Reich. Alles begann in Elisavetgrad, einer Kreisstadt, die ihrer Geschichte und ihrer sozioökonomischen Struktur nach beispielhaft für viele andere neurussische Städte stehen könnte. Sie ging aus einer im Jahr 1754 gegründeten, damals grenznahen Festung hervor, in deren Schutz allmählich ein regionales Zentrum für Handel und Gewerbe heranwuchs.8 Doch die Zeiten änderten sich. Mit Wehmut dachte man in den 1880er Jahren daran zurück, dass einst »selbst aus Moskau« Händler in die Stadt gekommen waren.9 Nun aber wurden die interessanten Geschäfte in Odessa abgewickelt; die einst florierenden Jahrmärkte von Elisavetgrad »überrasch[t]en durch ihre völlige Menschenleere«.10 Es waren keine guten Zeiten für Elisavetgrad, und das Jahr 1881 sollte sich als besonders schwierig erweisen. Die letzte Ernte war schlecht ausgefallen – keine Kleinigkeit für eine Region, die fast ausschließlich vom Handel mit Getreide lebte. Ein Teil der Bevölkerung litt Hunger. Das galt auch für viele der ohnehin meist armen Juden, und Juden gab es viele in Elisavetgrad: 30 Prozent der 43300 Einwohner waren mosaischen Glaubens.11 Dass in der Stadt viele Juden lebten, war im Übrigen nichts Neues. Schon 1795 wurden unter den damals 2300 Einwohnern 400 Juden gezählt (17 Prozent), im Jahr 1816 lag ihr Anteil an der Bevölkerung bereits bei 22 Prozent, um 1835 knapp 30 Prozent zu erreichen.12 In den folgenden Jahrzehnten nahm die Zahl der Juden in Elisavetgrad zwar weiter rapide zu, aber die übrige Bevölkerung wuchs im gleichen Tempo. Dennoch wurde 1881 die Zuwanderung von Juden von den Nichtjuden Elisavetgrads als Bedrohung wahrgenommen. So sah es jedenfalls Graf Pavel I. Kutajsov, von dem später noch die Rede sein wird: »In letzter Zeit überschwemmten [die Juden] die Stadt Elisavetgrad so sehr, dass es unmöglich war, unbeschwert die Straßen entlangzugehen.«13

Neben Juden lebten in Elisavetgrad hauptsächlich Russen und Ukrainer. Ihr Anteil an der Bevölkerung ist erst durch die Volkszählung von 1897 verlässlich belegt, bei der in der Stadt 61448 Menschen registriert wurden, von denen 35 Prozent Russisch, 24 Prozent Ukrainisch, 38 Prozent Jiddisch und 2 Prozent Polnisch als ihre Muttersprache angaben. Außerdem gab es einige Deutsche, Tataren und Griechen.14 Das ethnische Profil der Einwohner von Elisavetgrad entsprach damit dem Durchschnitt der Städte des Gouvernements Cherson und in etwa dem der neurussischen Städte im Allgemeinen.15 Das gilt auch für die Berufe, die Juden ausübten: Unter den Betreibern von Schankwirtschaften und Suppenküchen waren sie deutlich überrepräsentiert (61 Prozent in der Stadt und sogar 81 Prozent im Gouvernement). 75 Prozent der Geschäfte in Elisavetgrad waren in jüdischer Hand. Traditionell dominierten Juden den Handel mit Getreide und Alkohol; sie besaßen 95 Prozent der Brotgeschäfte und alle sechs großen Schnapslager. Trotz der Dominanz in einigen Branchen waren die Juden bei den Ständen der Kaufleute und Handwerker nur geringfügig überrepräsentiert (34 respektive 39 Prozent).16 Offensichtlich gab es zahlreiche Juden, die zwar ein Geschäft betrieben, sich aber den Aufstieg in die Kaufmannsgilden nicht leisten konnten – ein weiterer Hinweis auf die verbreitete Armut der jüdischen Bevölkerung.17

Als nach dem Pogrom in Elisavetgrad eine Kommission zusammenkam, um die Ursachen der Gewalt zu untersuchen, hob sie dennoch die Gefahr jüdischer Dominanz über die sogenannte »angestammte Bevölkerung« hervor. Neben der jüdischen Kontrolle über Brot und Schnaps, zwei zweifellos besonders sensiblen Gütern, wurde vor allem darauf verwiesen, dass in den Mittelschulen über zwei Drittel der Zöglinge Juden waren und dass es den jüdischen Abgeordneten der Stadtversammlung, der Duma, trotz der gesetzlichen Höchstquote von einem Drittel, oft gelinge, Entscheidungen durchzusetzen, indem sie Allianzen mit nichtjüdischen Abgeordneten schmiedeten und weit regelmäßiger als diese die Sitzungen besuchten. Der Chef der Garnison von Elisavetgrad, Andrej I. Kosič, beklagte, dass die »apathische« christliche Oberschicht den Juden die Stadt überlasse; und selbst die nicht zu freundlichen Einschätzungen der Juden neigende Kommission zur Judenfrage fasste resigniert zusammen, die Juden seien »insgesamt weiter entwickelt als die Christen«.18

Diese Einschätzung weist auch darauf hin, dass die Juden von Elisavetgrad, wie die von Neurussland überhaupt, im Vergleich zu den Juden in den an Russland gefallenen polnischen Teilungsgebieten weniger auf Traditionen beharrten. Wo es keine über lange Zeit gewachsenen Strukturen gab, waren auch in dieser Hinsicht gute Bedingungen für einen Neubeginn gegeben. Wenn etwa die Autoren des Russkij evrej nach positiven Beispielen für die Assimilationsbereitschaft der Juden suchten, verwiesen sie auf das Progymnasium von Elisavetgrad, in dem mehrheitlich Juden nach weltlicher Bildung strebten.19 Wie richtig diese Einschätzung war, zeigte sich, als der 1880 eingeführte jüdische Religionsunterricht von den Schülern abgelehnt wurde.20 Elisavetgrad war auch Ausgangspunkt einer der wichtigsten Reformbewegungen des religiösen Judentums jener Zeit, der sogenannten »Spirituellen Bibelbruderschaft«, deren Anfänge bis ins Jahr 1877 zurückreichten und die wenige Wochen vor dem Pogrom von Elisavetgrad erstmals landesweit zur Kenntnis genommen wurde.21 Dem Gründer der Bruderschaft, Jakov Gordon, ging es darum, traditionell jüdische Elemente mit jenen der evangelischen Stundisten und sozialistischen Ideen zu verbinden. Unter anderem sollten sich Juden von Kommerz und Kreditwesen ab- und »produktiver Arbeit« zuwenden. Die Bruderschaft wurde nie zur Massenbewegung, aber sie war ein weiterer Hinweis darauf, dass die Juden in Elisavetgrad und der Region im Aufbruch begriffen waren.22 Sie nutzten Chancen zu Partizipation und Aufstieg, wo sie sich boten. Traditionelle Bindekräfte waren hier schwächer ausgeprägt als in vielen anderen Teilen des Ansiedlungsrayons.23

Aus der Geschichte der Judenfeindlichkeit ist bekannt, dass ein hoher Grad von Akkulturation nicht unbedingt zu einem Abbau feindseliger Vorurteile führt, man denke etwa an das Deutsche oder das Habsburgerreich. Deshalb ist es interessant nachzuvollziehen, wie jeweils vor Ort vor Pogromen Debatten über die »jüdische Frage« geführt wurden. Als landesweit wichtige...