Das Rentier in der Küche - Eine deutsch-sibirische Liebe

von: Britta Wulf

Solibro Verlag, 2016

ISBN: 9783960790167 , 224 Seiten

6. Auflage

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 16,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Das Rentier in der Küche - Eine deutsch-sibirische Liebe


 

Wir lachen viel. Am meisten lacht Anatoli, als ich versuche, mit seinem Auto zu fahren. Auf gerader Strecke funktioniert das sehr gut, aber als eine Kurve kommt merke ich, dass das Auto keine Servolenkung hat und ehrlich gesagt, Bremsen scheint das Auto auch nicht zu besitzen. Ich komme fast von der Fahrbahn ab und bevor ich das wertvolle Gefährt kaputt mache, lasse ich lieber wieder Anatoli ans Steuer. Als wir eine kleine Pause machen, um Tee zu trinken, Käse, Wurst und Brot zu essen, werden wir von Milliarden von Mücken überfallen. Ich ahne, was uns auf dem Weg durch die Taiga erwartet.

Der Empfang in Uojan ist herzlich. Vollkommen entspannt, als ob ich schon immer zur Familie gehöre, werde ich von der jüngeren Schwester Galina und ihrem Mann begrüßt. Sie leben mit ihren beiden Söhnen im ehemaligen Elternhaus der Geschwister. Hier sind sie alle groß geworden. Wie viele Menschen heute noch in dem kleinen Dorf leben, weiß ich nicht. Wenn man danach fragt, erfährt man nur, dass viele weggegangen sind. Früher gab es einen großen holzverarbeitenden Betrieb, Rentierzucht, eine Schule usw. Davon ist nicht viel übriggeblieben. Die Schule hat vor sieben Jahren geschlossen, die Betriebe gibt es nicht mehr. Die wenigen Dorfbewohner sind meist arbeitslos und helfen sich gegenseitig. Die Kinder werden mit dem Schulbus zum nächst größeren Ort Nowy Uojan gefahren.

Das alte Uojan ist malerisch gelegen. Eingebettet in eine Kulisse aus hohen Bergen. Auf den höchsten von ihnen liegt der Schnee bis in den Sommer hinein. Jetzt allerdings, Mitte August, ist Hochsommer, und da ist auch der letzte Schnee geschmolzen.

Wir trinken Tee, essen Suppe und gehen weiter, andere Familienmitglieder besuchen. Noch zwei weitere Schwestern wohnen im Ort. Hier sind die Besuche nur kurz. Wir sagen nur Hallo und sind wieder weg.

Wir machen einen Abstecher ins Kulturhaus. Ich kenne den Ort durch unsere Dreharbeiten. Wir hatten uns hier mit sechs Frauen einer ewenkischen Kulturgruppe getroffen. Sie hatten für uns traditionelle Lieder gesungen. Jetzt ist Disko im Kulturhaus. Ein Kindergeburtstag, wie sich herausstellt. Kleine Mädchen in kunterbunten Ballkleidchen und schick angezogene Jungen kommen ab und zu aus dem Saal, um draußen frische Luft zu schnappen. Anatoli geht mit mir in einen Nebenraum. Er zeigt mir Seiten aus der Schulchronik des Ortes. Im vergangenen Jahr gab es ein großes Treffen der ehemaligen Schüler des Dorfes. Jede Abschlussklasse hat ein Plakat angefertigt, immer mit der Jahreszahl, den Namen und Bildern der Absolventen. Fast die ganze Familie von Anatoli ist hier vertreten. Sie sind alle hier aufgewachsen und zur Schule gegangen.

Bei Alexander taut Tolja richtig auf. Der große Bruder, das Vorbild, der Mann, der versucht, die ewenkischen Traditionen zu erhalten. Hier in Uojan hat er ein sehr schönes Haus mit Garten. Seine Frau ist nicht zu Hause, sie besucht gerade die erwachsenen Söhne in der burjatischen Hauptstadt Ulan-Ude. Die Männer haben sich viel zu erzählen. Ich gehe schlafen und genieße die Ruhe. Nur ab und zu höre ich draußen einen Hund bellen und die Männer, wie sie in der Küche erzählen und lachen. Ich fühle mich geborgen und schlafe wunderbar bis zum nächsten Morgen.

Ich soll nur so viel in meinen Rucksack packen, wie ich selbst tragen kann. Ein weiser Rat, den ich auch artig befolge. Das denke ich jedenfalls zu diesem Zeitpunkt.

Dann fahren wir nach Nowy Uojan. Auch eine Siedlung, die in den 1970er Jahren mit dem Bau der BAM entstanden ist. An der Strecke der Eisenbahntrasse gibt es einige solcher Orte. Sie sind noch da, aber das quirlige Leben, das herrschte, als aus den verschiedenen Sowjetrepubliken junge Leute und abenteuerlustige Bauarbeiter hier gelebt und gearbeitet haben, ist längst Vergangenheit. Doch in Nowy Uojan gibt es sogar zwei Hotels. Am Hotel, mit dem deutschen Namen „Kaiser“, treffen wir Wayne.

Wayne ist nicht Amerikaner, sondern Australier, er spricht tatsächlich nur Englisch und ganze fünf Worte Russisch. Aber er hat ein englisch-russisches Wörterbuch dabei. Dazu meine genialen Sprachkenntnisse, das wird schon klappen.

Wayne macht auf mich erst einmal nicht den Eindruck eines großen Abenteurers. Er ist sehr ruhig und lässt das, was da kommt, auf sich zukommen. Ich auch. Was anderes bleibt uns auch gar nicht übrig, denn so ganz habe ich den Plan der beiden Ewenken auch nicht verstanden. Tja, Russisch müsste man können. Aber ich habe verstanden, dass wir noch in ein Geschäft gehen, um Brot zu kaufen und dass wir danach aufbrechen. Ich kann Wayne übersetzen, dass unser Ausflug mit einer Autofahrt beginnt, die uns erst einmal ca. achtzig Kilometer in die Taiga führt. Dass wir für diese Kilometer fünf Stunden brauchen werden, hat noch keiner verraten.

Wir fahren los. Alexanders Lada Niva macht einen sehr viel besseren Eindruck als Anatolis Auto. Der Weg führt an der Bahn entlang. Es ist eine unbefestigte Straße, aber wir kommen gut voran. Ich frage Wayne aus. Wie kommt ein Australier hierher?

Eigentlich arbeitet er in der Mongolei an einem Wasserprojekt. Jetzt hat er Urlaub, aber um nach Hause zu fahren war ihm die Zeit zu knapp. So hat er sich entschlossen, im benachbarten Russland auf Entdeckungstour zu gehen. In seinem Hotel in Sewerobaikalsk schlug man ihm eine Tour in ein ewenkisches Dorf vor. Er würde die Lebensweise der Ureinwohner kennenlernen. Naja, ganz falsch ist das nicht, aber ganz richtig auch nicht. Wir fahren in die absolute Einsamkeit. Die Ewenken, die er kennenlernen wird, sind Alexander und Anatoli, zumindest Halbewenken und die uralte Tradition der Rentierzucht. Ein ewenkisches Dorf gibt es hier nicht. Ich erzähle ihm von unserem Film und was wir über die Ureinwohner erfahren haben. So wird es für ihn doch noch so etwas wie Bildungsurlaub.

Ab und zu halten wir an. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Erstens rauchen. Alexander ist zwar der einzige Raucher, aber schließlich fährt er ja auch, da kann er entscheiden, wo es eine gute Stelle zum „Ausruhen“ gibt.

Dann gibt es Stopps, die Wayne und mich verwundern. Alexander hält an, Anatoli und er steigen aus. Gehen kurz in den Wald und kommen mit Brettern wieder, die hier scheinbar versteckt gewartet haben. Diese werden dann auf dem Dach des Ladas festgemacht, und die Fahrt wird fortgesetzt. Nach ungefähr zehn Minuten löst sich das Rätsel. Auf dem Weg hat sich eine riesige Pfütze gebildet. Ein Schlammloch.

Die Russen ziehen ihre Gummistiefel bis über die Knie, nutzen die Bretter, um eine Art Brücke zu bauen. Danach warden die Bretter wieder im Wald versteckt. Kommen wir an eine solche Stelle, ohne dass vorher Bretter eingesammelt wurden, verschwinden die Männer auch im Wald. Kommen mit großen Ästen und kleinen Stämmen zurück und bauen so einen Weg fürs Auto. Wayne findet das Ganze sehr spannend und hilft mit. Ich mache Fotos von den Aktionen und finde, dass Wayne vielleicht doch einen ganz guten Abenteurer abgibt.

Etwas verunsichert wirkt er allerdings, als Alexander aus einem Versteck einen kleinen Benzinkanister holt und mit Zigarette im Mund den Treibstoff in den Tank laufen lässt. Allerdings hat der Australier nicht gesehen, dass Alexander die Zigarette noch nicht angezündet hat. Vielleicht fand Alexander, dass das Ganze einfach nur cool aussieht.

Anatoli und Alexander haben sich viel zu erzählen. Eigentlich ununterbrochen reden sie miteinander. Ab und zu ahne ich, worum es geht. Zum Beispiel wird ausführlich über den Einbruch und den Diebstahl berichtet. Bis ins Detail berichtet Anatoli seinem Bruder davon. Auch wenn ich nicht alles verstehe, hier weiß ich worum es geht. Ich war ja dabei und kann Wayne meine Variante der Ereignisse berichten. So vergehen die Stunden im Auto eigentlich relativ schnell.

Zeitweise sitzt Anatoli hinten bei mir. Dann hält er meine Hand und passt auf, dass bei sehr großen Schlaglöchern mein Kopf nicht irgendwo gegenprallt. Ich finde es aufregend.

Und es ist ein gar nicht so schlechtes Gefühl, wenn man nicht ständig redet. Ich finde es gut, dass ich über jeden Satz, den ich sagen will, jede Frage, die ich stellen will, erst nachdenken muss. Ich quatsche nicht, wie sonst bei mir üblich, drauf los, sondern brauche meine Zeit, um die Worte zu finden. Oft reichen meine Sprachkenntnisse auch gar nicht aus, und die Frage, die ich stellen wollte, bleibt ungefragt. Auch nicht schlimm, denn dadurch beobachte ich viel genauer, freue mich, wenn sich Dinge von selbst erklären und genieße meine eigene Schweigsamkeit.

Wir machen Halt an einem heiligen Ort. Irgendwann hat ein Schamane festgelegt, dass hier ein wichtiger Ort ist. Ich frage, was Alexander und Anatoli über den Schamanismus denken. Ich glaube, sie verstehen meine Frage nicht. Der alte Glaube ist einfach da und wird dort, wo es möglich ist, noch gelebt. Ein solcher Ort wie hier wird verehrt, aber darüber nachgedacht, warum sie das tun, haben die beiden noch nicht. Es funktioniert und deshalb tun sie es. So legen wir gemeinsam Geld und Zigaretten für die Geister nieder und bitten um eine unfallfreie Fahrt. Am Baum hängen Patronenhülsen und eine alte Brille. Anatoli zeigt uns Kratzspuren am Baum. Hier muss ein...