Brunnen der Vergangenheit - Roman

von: Victor Gardon

Unionsverlag, 2016

ISBN: 9783293309517 , 496 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 14,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Brunnen der Vergangenheit - Roman


 

Der Sturm bricht los


Die Türken waren da, und alles ist entsetzt.

Chios, das Traubenland, ist eine Trümmer jetzt,

Chios, bedacht von Buchenzweigen,

Chios, das in den Well’n die Wälder spiegelte,

Paläste und, wenn sich der Abend rötete

Der jungen Dirnen muntere Reigen.

Öd ist es rings:

doch nein, auf schwarzem Mauerstein

Saß ein blauäugig Kind,

ein Griechenkind, allein.

Was willst du?

Blume – Frucht – den Vogel wunderbar?

»Freund«, sagt das Griechenkind,

das Kind mit blondem Haar,

»du musst mir Blei und Pulver geben.«

Victor Hugo

Der Salon war festlich herausgeputzt und bereitete sich vor, eine Menge Gäste zu empfangen. Man hatte hier alle Stühle aufgestellt, die gewöhnlich auf dem oberen Flur standen. Wahram zählte fünfundzwanzig Stück. Wenn man die achtzehn Plätze auf den beiden Sofas und die anderen Stühle dazurechnete, würden achtundvierzig Personen sitzen können, und da mindestens fünfundzwanzig weitere Personen sich im Schneidersitz auf dem Teppich niederlassen konnten, kam man auf rund siebzig Menschen. Eine stattliche Anzahl! Aber seit Harutiun nach seiner Rückkehr aus Konstantinopel von seinen Unterhaltungen mit Enver Pascha, Talaat Pascha und dem Patriarchen Zawin erzählt hatte – er hatte mit jedem von ihnen persönlich gesprochen! –, konnte nichts mehr Wahram verblüffen. Und wenn die ganze Stadt sich hier im Salon eingefunden hätte, er wäre nicht überrascht gewesen.

»Dir vertraue ich die Rolle des Pförtners an, Wahram«, sagte sein Vater zu ihm. »Du stellst dich an die Tür und zeigst den Besuchern den Weg in den Salon.«

»Kann ich nicht auch hineinkommen?«

»Du wirst deine Aufgaben lernen.«

»Die kann ich schon. Welche soll ich dir – «

»Wahram, jetzt ist nicht der rechte Augenblick, den Dummkopf zu spielen. Halt den Mund.«

»Aber Väterchen, wenn ich ein Dummkopf bin, wie kann ich dann den Pförtner machen?«

»Lieber Gott«, seufzte Harutiun, »schneid diesem Kind ein Stück von seiner Zunge ab, damit wir endlich Ruhe haben!«

»Väterchen, du sagtest aber doch, dass meine Zunge – «

»Nicht heute, Wahram. Heute möchte ich dich einmal stumm sehen.«

Schon klopfte es an die Tür, und Wahram lief öffnen. Es war Jegarian mit seinem dunklen Gesicht, den lachenden Augen, dem rauchgeschwärzten Schnurrbart, den blitzenden Zähnen und dem gutmütigen Lächeln. »Ach, du bist in Van, Armenag Agha?«, sagte Wahram. »Großma hat erzählt, du reistest durch Persien.«

»Ich bin eigens zurückgekommen, um dich zu sehen.«

»Oh«, sagte Wahram verlegen. Dann fasste er sich: »Du weißt genau, dass du lügst. Du bist wegen Väterchen zurückgekommen. Geh in den Salon.« So empfing er nacheinander alle Kameraden seines Vaters. Einige von ihnen waren ihm bekannt und sogar vertraut, andere hingegen hatte er noch nie gesehen.

Brennende Neugier erfüllte ihn; der Salon lockte unwiderstehlich. Er rief Wartkes herbei, der eben in den Garten gehen wollte. »Wartkes«, sagte er, »willst du auch einmal Pförtner sein? Du musst die Tür öffnen, wenn es klopft, und den Gästen sagen, sie sollen in den Salon hinaufgehen. Und wenn sie den Weg nicht wissen, musst du ihn ihnen zeigen.« Und schon stürzte er hinauf zum Schauplatz der Versammlung.

Die Männer bestürmten Harutiun mit Fragen. Er war so beschäftigt, dass er gar nicht bemerkte, wie Wahram sich rasch zum Sofa schlich.

Plötzlich verstummten alle. Ein hochgewachsener Mann trat ein, nach Pariser Mode gekleidet, wie Sirarpi gesagt hätte – doch woher wusste sie solche Dinge? Wahram bewunderte die Bügelfalten in seiner Hose, die so scharf und gerade waren wie die Klinge eines Säbels, seine blaue Krawatte, seine glatten, glänzenden Haare und seine königliche Haltung. Wirklich, Wahram beneidete den Mann um sein Aussehen! Der Ankömmling, der Direktor des Lehrerseminars, war viel gereist und hatte lange in Paris gelebt. Er sprach französisch, »wie man Wasser trinkt«, und war auf eine Pariser Zeitung abonniert.

Howsep nahm in dem großen Sessel vor dem Tisch Platz, den Rücken dem Wandschrank mit der Geheimtür zugewendet, über dem das Bild Sebuhs mit nachdenklichem Blick die Versammlung zu mustern schien. »Meine lieben Freunde«, sagte er. »Wir sind hier zusammengekommen, um den Bericht unseres verehrten Präsidenten Harutiun zu hören, der, wie ihr alle wisst, an dem Parteikongress in Konstantinopel teilgenommen hat.«

»Einen Augenblick«, fiel Tigran ein. »Wahram, geh hinaus.«

»Nein«, widersprach Wahram und klammerte sich mit beiden Händen an die Armlehne des Sofas.

»Los, sei nicht eigensinnig! Schämst du dich gar nicht, vor all den Herren hier so ungezogen zu sein? Du gehörst nicht hierher. Geh und mach deine Schularbeiten oder spiele im Garten. Hier gibt es nichts Interessantes für dich.«

»Ich will aber zuhören.«

»Das ist nichts für Kinder.«

»Schön, ich habe noch keinen Schnurrbart und bin noch ein bisschen klein, aber ich bin kein Kind mehr. Ich bin stark und kräftig.«

»Mein Gott!«, rief Tigran ungeduldig. »Entschuldigt bitte, aber dieser Junge ist ein Büffelkopf.«

»Geh hinaus, Wahram, mein Sohn«, fiel Harutiun begütigend ein. »Du bist noch nicht alt genug, um dabei zu sein, wenn Erwachsene etwas zu besprechen haben. Geh in den Garten und lies die Ilias, die ich dir aus Konstantinopel mitgebracht habe.«

»Die habe ich schon gelesen. Ich will hierbleiben.«

In diesem Augenblick stürzte Tigran sich auf Wahram und riss ihn von seinem Sitz los, an den er sich mit aller Kraft festklammerte. Ein Krachen … und schon fühlte sich Wahram, der noch immer die Sofalehne umklammerte, in die Luft geschleudert.

»Jetzt hast du das österreichische Sofa kaputt gemacht«, rief Tigran wütend. »Schämst du dich nicht?«

»Nein, das war ich nicht. Du hast es kaputt gemacht.«

Tigran setzte seinen Neffen im Hof ab. Aber das Kind rannte in großen Sprüngen die Treppe wieder hinauf, lief ins Zimmer und setzte sich auf seinen alten Platz, der frei geblieben war. Als Tigran ihn dort sah, wurde er röter als die schönste Rose von Kabul. Gulohlian, ein alter Lehrer, legte sich ins Mittel: »Lass dieses Kind hier. Ich bewundere seine Wissbegier. Er wird unser Zeuge für künftige Tage sein.«

Wahram betrachtete die vom unterdrückten Lachen geschwollenen Gesichter ringsum, ließ sich jedoch dadurch nicht stören. Hauptsache, er blieb hier, dann mochte seinetwegen die Welt einstürzen.

»Gut«, sagte Howsep lächelnd, »nun, da dieses kleine Zwischenspiel vorüber ist, möchte ich der Hoffnung Ausdruck verleihen, dass unsere ›reiche und mächtige‹ Partei den Schaden bezahlt, den dieses Sofa erlitten hat, und Harutiun bitten, mit seinem Bericht zu beginnen.«

»Zunächst fordere ich den Schwur«, sagte Harutiun.

Alle erhoben sich schweigend, und auf ein Zeichen von Howsep sprachen sie mit lauter Stimme: »Mögen wir gehängt werden, aber das Volk soll leben. Ich schwöre, das, was ich hier hören werde, für mich zu behalten.«

Nun begann Harutiun zu sprechen. »Meine lieben Freunde, ich weiß meine Worte nicht kunstvoll zu setzen und mit schönen Ideen auszuschmücken. Ich bin nur ein einfacher Handwerker, und in Konstantinopel habe ich gemerkt, dass man mich für einen Bauern hielt.

Wie soll ich euch also erklären, was ich empfunden habe? Wenn ich mich abmühe, ein schwieriges Stück zu vergolden, vertiefe ich mich so in diese Arbeit, dass man meinen ganzen Laden ausrauben könnte, ohne dass ich es bemerken würde.

Unsere Anführer dort in Konstantinopel sind so betört von den Worten ›Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit‹ und von dem Gedanken an eine einheitliche osmanische Nation, dass nicht einmal die Explosion eines Arsenals sie aus ihrer fixen Idee reißen könnte. Unsere Führer wissen über alles Bescheid, nur nicht über die Erfordernisse des Landes und die elenden Lebensbedingungen seiner Bewohner. Sie haben Konstantinopel stets nur verlassen, um nach Paris oder in die Schweiz zu fahren. Und wenn sie von diesen Reisen zurückkehren, sind ihre Augen weit aufgerissen vor Staunen und ihre Wünsche bis ins Maßlose gesteigert. Sie bilden sich ein, dass unser Land von heute auf morgen ein zweites Frankreich oder eine zweite Schweiz werden kann. Da Enver Pascha, Talaat Pascha und Dschemal Pascha ihnen, wie sie sagen, ihr Vertrauen geschenkt haben, glauben unsere Leute, das Ideal der Freiheit, der Gleichheit und der Brüderlichkeit sei bereits verwirklicht.

Natürlich wird man, um eine große Türkei aufzubauen, ein mächtiges Heer, also sehr viel Geld benötigen, und den Steuern werden keine Grenzen mehr gesetzt sein. Ist es etwa nicht unsere Pflicht, ›uns‹ zu opfern, damit die Türkei Baku und seine Petroleumquellen, Persien, Afghanistan, Belutschistan, Turkestan, Dagestan, Kirgistan und die Mongolei erobern kann und damit wir schließlich bis nach China vordringen und Samarkand...