Knarrenfrauen - Ein Fall für die unwiderstehliche April Pallas

von: Daniela Schenk

Ulrike Helmer Verlag, 2016

ISBN: 9783897419919 , 336 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 14,99 EUR

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Knarrenfrauen - Ein Fall für die unwiderstehliche April Pallas


 

Nochmals Donnerstag, 11. Juni, früh


Lou betrachtete nachdenklich die Bremse am Seilgewinde. Warum hatte die versagt? Sie drehte und wendete die Konstruktion, testete sie mehrmals, jetzt funktionierte sie einwandfrei. Seltsam.

Sie zog ihren blauen Overall aus und überprüfte die schmerzenden Stellen am Körper. Nichts Schlimmes, bloß Prellungen. Dann trat sie zum Fenster, schaute auf das Lichtermeer der Stadt. Die Aussicht von ihrer Dachwohnung aus war überwältigend: Man sah einen Teil der Stadt, tagsüber die Stockhornkette und ein paar Berge des Oberlands. Die Welt schien weit weg, das mochte sie. Gespannt schüttete sie den Inhalt ihrer Tasche auf den Tisch. Wie sie diesen Moment liebte! Jetzt konnte sie in Ruhe durchsehen, was sie erbeutet hatte: Brillantsterne in seidenen Futteralen, Smaragdlibellen, Rubinfliegen, Ringe mit riesig großen Steinen, zwei Uhren von Philippe Patek, Diamant- und Saphirringe, mehrere Goldketten, diamantenbesetzte Armreifen, Brillantenohrhänger und ein Kelch aus reinem Gold, in den Edelsteine eingelassen waren. Schon wieder ein solcher Kelch! Außerdem kryptische Dokumente, die sie mitgenommen hatte, weil diese scheinbar sinnlose Aneinanderreihung von Buchstaben und Zahlen ihre Neugier weckte.

Sie füllte das Diebesgut in Tüten ab, Gleiches zu Gleichem. Danach zog sie sich um und mischte sich ihren Lieblingsdrink: zwei Teile Cynar, ein Teil süßer Wermut, etwas frisch gepressten Zitronensaft, sechs Prisen Orangebitter, garniert mit Zitronenschale und drei Eiswürfeln. Das Glas schwenkend, schlenderte sie zum Kaminbesteck, nahm den Schürhaken heraus und schraubte den Holzgriff auf. Zum Vorschein kam ein unscheinbarer Stift, der in den Stiel eingelassen war. Sie drückte darauf, der große Fernseher an der Wand glitt leise surrend nach links.

Ein Tresor wurde sichtbar, der in die Mauer eingelassen war, im oberen Bereich blinkte ein rotes Licht, darunter befand sich eine Zahlentastatur. Lou hielt ihr linkes Auge vor das Blinklicht, es wurde stärker und scannte ihr Auge, dann wechselte es auf Grün. Behände gab sie einen zehnstelligen Code ein, ein leises Klicken und der Tresor öffnete sich. Sie legte ein paar Tüten hinein, holte andere hervor und schloss die Tür wieder.

Es war ein grandioser Coup – wären da nicht die defekte Bremse und diese Frau gewesen. Diese dumme Frau. Lou fand Frauen in nuttigen Kleidern bescheuert; noch bescheuerter jedoch, um nicht zu sagen hirnrissig, fand sie es, wenn Frauen hochhackige Schuhe trugen. Warum taten sie sich freiwillig eine solche Behinderung und Tortur an?

Sie setzte sich aufs Sofa, nippte an ihrem Drink und wartete. Punkt halb vier Uhr war das Knistern und Knacken eines Feuers zu vernehmen. Lou ging zum Kamin, griff in den Rauchsammler und fischte ein Handy heraus, von dem das Knistern und Knacken ausging. Kurz prüfte sie die Nummer des Anrufers und nahm das Gespräch entgegen.

»Ich bin unten«, sagte eine Männerstimme.

»In Ordnung.«

Flugs setzte Lou braune Linsen in die Augen ein und griff nach der dunkelbraunen Perücke, dann drückte sie auf den Summer. Kurz darauf hörte sie den Aufzug heraufkommen.

Lorenz Lenz sah wie ein junger Versicherungsvertreter aus, etwas blass, glattrasiert, mit weichen, hübschen Zügen und Geheimratsecken. Er war so mittelmäßig und unauffällig gekleidet, dass man ihn erst beachtete, wenn man über ihn stolperte. Seine Augen waren wässrigblau, der Ausdruck darin unbestimmt.

Lorenz wusste alles über Schmuck und wenig über Menschen, er hatte das Asperger Syndrom, was man erst auf den zweiten Blick merkte. Lou sorgte dafür, dass die Wohnung immer gleich aussah, nichts sollte Lorenz irritieren. Sie vermied Augenkontakt mit ihm, sagte die Dinge einfach und klar, ohne Ironie, ohne Sarkasmus oder humorige Anspielungen, denn das hätte ihn nur verwirrt. Er arbeitete als Schmuckexperte für ein Auktionshaus. Sein Fachwissen war immens: Schmuck war sein Lebensinhalt, seine Passion. Lorenz brauchte in seiner Arbeit keine Pausen, er brauchte keine Freizeit, er brauchte Schmuck, den er zuordnen, bestimmen und schätzen konnte. Darum kam er liebend gern zu Lou, um das neueste Diebesgut anzuschauen und entweder zu kaufen oder den passenden Abnehmer zu vermitteln.

Lorenz setzte sich an seinen üblichen Platz, legte Juwelierlupe und Laptop auf den Tisch und wartete mit leuchtenden Augen darauf, dass ihm Lou das erste Stück vorlegte. Er studierte es liebevoll, als wäre es seine Geliebte, drehte es um, tastete es ab, hielt es gegen das Licht, betrachtete es durch die Juwelierlupe, murmelte und sah gelegentlich etwas im Laptop nach. Das ging einige Zeit so, dann wusste er, woher das Schmuckstück kam, wer es gemacht hatte oder zumindest in welchem Land, und – was für Lou am Wichtigsten war – wie viel Wert es besaß. Sie machte sich Notizen, während Lorenz mit seiner monotonen Stimme den Bericht abgab. Da er kein Detail ausließ, dauerten die Treffen lange und wenn Lou wirklich zugehört hätte, wüsste sie mittlerweile eine Menge über die verschlungenen Wege der Schmuckstücke. Aber das interessierte sie nicht, lieber erfuhr sie alles über die Wege der Zugvögel.

Es dämmerte bereits, als Lorenz sie wieder verließ. Sie trat hinaus auf die Terrasse. Manche Vögel hatten schon mit ihrem Gesang begonnen. Der Himmel färbte sich im Osten rot, die Stadt lag versunken in der Dämmerung. Lou schaute die Hauswand hinunter und dachte, dass sie eines Tages gern diese Fassade heraufklettern würde.

Es war eine lange Nacht gewesen, zuerst der Einbruch, dann dieser dumme Sturz auf den Mann und schließlich Lorenz’ Besuch. Beim Einschlafen dachte sie an die liederliche Frau mit den Absätzen. Dumm – frech – heiß, kam ihr dazu in den Sinn.

Freitag, 12. Juni 28 °C


April stand vor der Villa von Werdt und pfiff durch die Zähne. Es war ein strenges, nüchternes Sandsteingebäude aus der Patrizierzeit mit hochmodernem Anbau und großem Grundstück, von wo aus man eine wunderschöne Aussicht über Altstadt und Fluss hatte. Sie sah an sich herab und fragte sich, ob sie mit ihrer Jeans, der orangefarbenen Bluse und den schwarzen Stiefeletten vornehm genug gekleidet war, um hier eingelassen zu werden. Schon der Eingang vermittelte das Gefühl, dass man ohne elegantes Kleid und Smaragde um den Hals nicht hineinkam. Sie aß ihr Snickers fertig, wischte die Hände an der Hose ab und betrat das Auktionshaus mit der Selbstsicherheit eines Menschen, der wusste, dass er jeden (und vorzugsweise jede) um den kleinen Finger wickeln konnte.

Einmal hatte sie ein Nobelhotel im Motorradoverall betreten. (Sie ermittelte für eine eifersüchtige Ehefrau.) Als der Portier sie abfing, holte sie ein bezauberndes Lächeln hervor und zog den Reißverschluss ihres Anzugs weit genug hinunter, dass der Mann sich über den Inhalt Vorstellungen machen konnte. Glücklicherweise war der Portier heterosexuell und fiel auf die Masche herein. Danach bezirzte sie die Rezeptionistin und fand heraus, dass der untreue Gatte ein Hotelzimmer gemietet hatte. April wartete, bis er mit der Geliebten herunterkam, und erklärte ihm, dass sie im Auftrag seiner Frau ermittle. Er solle sich überlegen, was er wirklich wolle – die Ehefrau oder die Geliebte oder beide zusammen, aber dann müsse er das seiner Frau sagen. Der Mann war verblüfft, bestürzt und dankbar. Anschließend stellte ihn April zu einer Gruppe Männer und fotografierte ihn, als Beweis, dass er brav arbeitete.

»Ich werde Ihrer Frau sagen, dass ich nichts gefunden habe, was auf eine Geliebte hindeutet. Den Rest überlasse ich Ihnen. Sollte die Frau jedoch wieder Misstrauen hegen und sich bei mir melden und sollte ich herausfinden, dass Sie weiter fremdgehen, werde ich das Ihrer Frau melden. Ich bin die Letzte, die Liebeleien verurteilen würde. Was ich jedoch hasse: wenn man Menschen anlügt. Ihnen einen schönen Tag«, mit süffisantem Grinsen war April in ihrer Lederkluft aus dem Hotel spaziert.

Und trat jetzt also ins Auktionshaus. Die Empfangsdame, eine ältere Frau mit toupiertem, hellbraun gefärbtem Haar, begrüßte sie freundlich und wuchtete ihr einen Katalog in die Arme. »Schauen Sie sich ruhig um, bei Fragen wenden Sie sich an mich«, sagte sie und lächelte in gut geübter Manier. April schlenderte durch die Räume und dachte, dass dieses Haus wie ein Trödelladen der Heilsarmee wirkte, nur auf sehr viel höherem Niveau: Die Räume waren angefüllt mit antiken Möbeln, Stuhlgarnituren, Tischen, Pendeluhren, Schränken, Truhen, Sekretären, Sofas, Gemälden an der Wand und Kronleuchtern an der Decke, alles wunderschön und teuer und aus ihrer Sicht nicht zu gebrauchen. Sie begutachtete ein Sofa und kam zu dem Schluss, dass ihres um Welten gemütlicher war. Schließlich gelangte sie in die Räume, wo der Schmuck ausgestellt wurde. Ein jüngerer Mann stand über die Vitrine gebeugt und arrangierte ein Schmuckstück. Sie grüßte ihn, doch er warf ihr nur einen kurzen Seitenblick zu und widmete sich weiter...