Hannibal - Roman

von: Thomas Harris

Heyne, 2016

ISBN: 9783641191818 , 560 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Hannibal - Roman


 

1


Man sollte annehmen, daß solch ein Tag
förmlich danach fiebert anzubrechen …

Clarice Starlings Mustang röhrte die Auffahrt des Bureau of Alcohol, Tobacco and Firearms in der Massachusetts Avenue hoch, ein Hauptquartier, das man aus Sparsamkeitsgründen von Reverend Sun Myung Moon angemietet hatte.

Die Wagenkolonne der Einsatzgruppe, mit einem zerbeulten Undercover-Lieferwagen an der Spitze und zwei schwarzen SWAT-Vans dahinter, stand mit laufenden Motoren in der Tiefgarage des Gebäudes.

Starling wuchtete die Tasche mit ihrer Ausrüstung aus dem Mustang und hastete zum Führungsfahrzeug hinüber, einem schmutzigweißen, geschlossenen Lieferwagen, der an den Seiten die Aufschrift »Marcell’s Gourmet-Krabben« trug.

Durch die geöffneten Hecktüren beobachteten vier Männer Starlings Auftritt. Der Kampfanzug ließ sie schmal wirken. Trotz des Gewichts der Ausrüstung bewegte sie sich rasch und behende. Ihr Haar glänzte in dem gespenstischen Neonlicht.

»Frauen und Pünktlichkeit«, knurrte ein Officer.

BATF Special Agent John Brigham, für den Einsatz verantwortlich, erstickte jede Diskussion im Keim.

»Sie ist nicht zu spät – ich habe sie erst gerufen, als wir von unserem Informanten grünes Licht hatten«, sagte Brigham. »Sie mußte sich erst mal aus Quantico loseisen. – Hey, Starling, hier herüber mit der Tasche.«

»Gimme five, John«, begrüßte ihn Starling.

Ein kurzer Wortwechsel Brighams mit dem heruntergekommenen Undercover-Agenten, der am Steuer saß, und der Lieferwagen fuhr los, bevor die Hecktüren geschlossen waren, hinaus in den freundlichen Herbstnachmittag.

Clarice Starling, die in ihrem Agentinnenleben mehr als genug Überwachungswagen kennengelernt hatte, tauchte unter dem Okular des Periskops hinweg und suchte sich im hinteren Teil des Wagens einen Platz, möglichst nahe den 150 Pfund Trockeneis, die als Kühlung würden herhalten müssen, wenn sie mit abgestelltem Motor auf der Lauer lagen.

Der alte Lieferwagen verströmte diesen Ziegenstallgeruch aus Angst und Schweiß, dem mit keiner Putzaktion mehr beizukommen ist. Er hatte über die Jahre hinweg unzählige Firmenaufdrucke über sich ergehen lassen müssen. Die leicht angeschmutzten, verblassenden Schilder waren keine halbe Stunde alt. Die verspachtelten Einschußlöcher waren älter.

Die Rückfenster funktionierten gut getarnt wie Einwegspiegel.

Starling konnte die großen schwarzen SWAT-Vans, die ihnen folgten, gut sehen. Sie hoffte, daß sie nicht länger als absolut nötig in den Wagen zubringen mußten. Immer dann, wenn sie ihr Gesicht dem Fenster zuwandte, musterten ihre männlichen Kollegen sie mit verstohlenem Blick.

FBI Special Agent Clarice Starling machte, wie bisher noch in jedem Alter, eine gute Figur mit ihren zweiunddreißig Jahren, sogar im Kampfanzug.

Brigham griff sich seinen Klemmblock vom Beifahrersitz.

»Wie kommt es eigentlich, Starling, daß du immer wieder in so einer Scheiße landest?« fragte er sie lächelnd.

»Weil du mich immer wieder anforderst«, antwortete sie.

»Für das hier brauche ich dich wirklich. Aber ich sehe doch, daß du mit den Greifern Haftbefehle vollstrecken mußt. Ohne dir zu nahe treten zu wollen, aber irgendwer in Buzzards Point muß dich hassen. Komm zu mir. Arbeite mit mir. Darf ich dir meine Leute vorstellen? Das hier sind Agent Marquez Burke und John Hare, und dort drüben sitzt Officer Bolton vom Washingtoner Police Department.«

Mehr oder weniger bunt zusammengewürfelte Einsatzgruppen aus Leuten vom Bureau of Alcohol, Tobacco and Firearms, der DEA und dem FBI waren Ausdruck der angespannten Haushaltslage in einer Zeit, wo sogar die FBI-Akademie wegen Geldmangels ihre Pforten schließen mußte.

Burke und Hare sahen wie Agenten aus. Officer Bolton machte eher den Eindruck eines Vollzugsbeamten. Er war ungefähr fünfundvierzig, übergewichtig und wirkte leicht aufgedunsen.

Der Bürgermeister von Washington, nach seiner Verurteilung wegen Drogenbesitzes sorgsam darauf bedacht, sich als Mann der harten Hand zu profilieren, legte größten Wert darauf, daß Washingtons Polizei bei jeder größeren Drogenrazzia ihren Anteil am Erfolg abbekam. Darum also Bolton.

»Die Drumgo-Clique kocht heute«, sagte Brigham.

»Evelda Drumgo, als ob ich es nicht geahnt hätte«, sagte Starling, nicht sonderlich erbaut.

Brigham nickte. »Sie betreibt unten am Fluß in der Nähe des Feliciana-Fischmarkts ein Labor. Unserem Informanten zufolge hat sie heute eine Wagenladung ›Ice‹ in Arbeit. Und sie hat für heute abend Flugtickets zu den Cayman Islands gebucht. Wir haben keine Zeit zu verlieren.«

Methamphetamin in kristalliner Form, Straßenname »Ice«, garantiert einen kurzen, heftigen Kick und macht auf der Stelle abhängig.

»Der Stoff ist Sache der DEA. Wir sind einzig und allein an Evelda und ihren illegalen Waffentransporten interessiert. Der Haftbefehl führt halbautomatische Berettas und einige MAC 10s auf, und sie weiß, wo noch mehr davon lagert. Ich will, daß du dich auf Evelda konzentrierst, Starling. Du kennst sie. Meine Leute werden dir den Rücken freihalten.«

»Wenn’s weiter nichts ist«, warf Officer Bolton mit einem zufriedenen Unterton in der Stimme ein.

»Ich glaube, du solltest den Jungs noch ein paar Hintergrundinformationen zu Evelda mit auf den Weg geben, Starling«, sagte Brigham.

Starling antwortete nicht sofort, da der Lieferwagen gerade über Bahngleise rumpelte.

»Die Frau ist brandgefährlich«, sagte sie. »Sie sieht zwar nicht danach aus – schließlich war sie in ihrem früheren Leben Model –, sie wird euch aber bis aufs Blut bekämpfen. Witwe von Dijon Drumgo. Ich habe sie bereits zweimal wegen Verdachts auf Verstoß gegen das RICO verhaftet. Das erstemal zusammen mit Dijon.

Das letztemal kam sie mit einer 9-Millimeter und drei Magazinen an. Als ob das nicht gereicht hätte, hatte sie Tränengas in ihrer Handtasche und ein Butterfly-Messer in ihrem BH. Keine Ahnung, was sie heute so alles mit sich herumschleppt.

Bei der zweiten Verhaftung habe ich sie höflich aufgefordert, sich zu ergeben, was sie auch tat. In der Untersuchungshaft tötete sie eine Mitgefangene namens Marsha Valentine mit einem Löffelstiel. Man kann also nie wissen … Die Frau ist schwer zu durchschauen. Die Grand Jury erkannte auf Notwehr.

Die Anklagen wegen Verstoßes gegen das Rauschmittelgesetz hat sie abgewehrt. Einige Anklagen wegen Waffenhandels wurden fallengelassen, da sie minderjährige Kinder hat und ihr Ehemann gerade bei einem drive-by in der Pleasant Avenue ums Leben gekommen war. Möglicherweise ging letzteres auf das Konto der Spliffs.

Ich werde sie auffordern, die Waffen zu strecken. Ich hoffe, daß sie das tun wird – wir geben ihr in jedem Fall Gelegenheit dazu. Aber – und nun hören Sie mir gut zu – sollten wir gezwungen sein, Evelda Drumgo zu überwältigen, dann will ich von Ihnen Einsatz sehen. Glauben Sie bloß nicht, meine Herren, Sie könnten Evelda und mich in einem Schlammringkampf bewundern.«

Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte Starling sich diesen Männern untergeordnet. Nun hörten sie zwar nicht gern, was sie sagte, aber sie hatte zuviel erlebt, um sich darum zu scheren.

»Evelda Drumgo ist durch Dijon den Trey-Eight Crips verbunden«, sagte Brigham. »Sie steht unter dem Schutz der Crips, sagt unser Informant. Die Crips sind für die Verteilung der Ware entlang der Küste verantwortlich. Das Engagement der Crips richtet sich in allererster Linie gegen die Spliffs. Ich weiß nicht, wie sich die Crips verhalten werden, wenn sie uns sehen. Sie gehen Zusammenstößen mit uns für gewöhnlich aus dem Weg.«

»Eines sollten Sie noch wissen – Evelda ist HIV-positiv«, sagte Starling. »Das hat sie Dijon zu verdanken, mit dem sie sich die Nadel teilte. Als sie es in der Untersuchungshaft herausfand, rastete sie aus. An diesem Tag hat sie auch Marsha Valentine getötet und die Wachen angegriffen. Sollte sie nicht bewaffnet sein und trotzdem kämpfen, dann stellen Sie sich darauf ein, daß sie versuchen wird, Sie mit jeder Körperflüssigkeit, die sie absondern kann, in Berührung zu bringen. Sie wird spucken und beißen und nicht zögern, Sie anzupissen oder zuzuscheißen, wenn Sie sie in Gewahrsam nehmen wollen. Aus diesem Grund sind Handschuhe und Masken Pflicht. Falls Sie sie in einem Streifenwagen unterbringen wollen und ihr die Hand auf den Kopf legen, achten Sie auf mögliche Haarnadeln, und sorgen Sie dafür, daß ihr Fußfesseln angelegt werden.«

Burke und Hare machten sehr lange Gesichter. Officer Bolton schien irgendwie unglücklich zu sein. Mit seinem stoppeligen Kinn wies er auf Starlings Waffe, einen.45er Colt, dem man den häufigen Gebrauch förmlich ansah. Der Griff der Waffe war mit Gaffertape umwickelt. Starling trug sie in einem Yaqui-Holster hinten rechts an der Hüfte. »Laufen Sie die ganze Zeit mit gespannter Waffe rum?«

»Gespannt und verriegelt jede Minute des Tages«, sagte Starling.

»Nicht ganz ungefährlich«, sagte Bolton.

»Kommen Sie mit auf den Schießstand, und ich zeige es Ihnen, Officer.«

Brigham ging dazwischen. »Bolton, ich war Starlings Ausbilder, als sie bei den Interservice-Meisterschaften drei Jahre in Folge Champion im Pistolenschießen wurde. Starlings Waffe ist das letzte, worum Sie sich hier Sorgen...