Brennender Midi - Ein Provence-Krimi mit Capitaine Roger Blanc

von: Cay Rademacher

DuMont Buchverlag , 2016

ISBN: 9783832189044 , 304 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Brennender Midi - Ein Provence-Krimi mit Capitaine Roger Blanc


 

Der gefallene Engel

Capitaine Roger Blanc hatte noch nie eine Hexe gesehen. Und er hatte auch noch nie einen lachenden Toten gesehen. Das änderte sich in jener Nacht, in der ihn Lieutenant Marius Tonon anrief und lauter als notwendig sagte: »Wir haben hier einen Haufen Scheiße, den du dir ansehen musst.«

Es war Sonntag, kurz nach 22.00 Uhr. Blanc saß im Büro der kleinen Gendarmeriestation von Gadet und tippte mit tauben Fingern unzählige Meldungen in seinen antiquierten Dienstcomputer. Morgen war der erste Montag im September, la rentrée, das Ende der endlosen Sommerferien. Der Tag, an dem die Nation mit einem ordentlichen Kater aus ihrem langen Mittagssschlaf erwachte.

Nachtdienst vor la rentrée war wie einst Nachsitzen in der Schule: Stunden öder Arbeit und zwischendurch den Müll vom Pausenhof aufsammeln. Denn dann kehrten die Familien zurück, die ihre Ferien bis zur letzten Stunde ausgequetscht hatten. Tausende an 364 Tagen im Jahr ganz normale Franzosen boxten sich in dieser finalen Sommernacht gegenseitig mit ihren Renaults und Peugeots von den Straßen und kämpften auf den Rastplätzen mit blanken Fäusten um die Plastikbecher der Espresso-Automaten. Blanc ahnte, dass ihm sein Commandant diesen Nachtdienst aufgebrummt hatte, weil er nicht gerade der Liebling der Brigade war. Seine Aufgabe war es, missgelaunte Uniformierte mal zu einer Péage-Station, mal zu einem Kreisverkehr zu schicken. Wenn die Kollegen von ihren Einsätzen zurückgekehrt waren, musste Blanc Berichte über eingedrückte Kotflügel und aufgeplatzte Oberlippen in einer Computerdatei speichern, die wahrscheinlich nie wieder jemand öffnen würde.

Sein Freund Tonon war einer jener Gendarmen, die in die Nacht ausgeschwärmt waren. Es hatte eine ebenso vage wie hysterisch klingende Meldung eines Anwohners gegeben, der in der Nähe von Lançon einen »grauenhaften Unfall« gesehen haben wollte.

Tonon meldete sich nie per Funk, weil er in seiner Ausbildung den Funkunterricht verschlafen und es in dreißig Dienstjahren nicht für nötig gehalten hatte, diese Wissenslücke zu schließen. Blanc erkannte Tonons Namen auf dem Display seines Nokias.

»Sag mir nicht, dass ich für deinen Haufen Scheiße eine Route nationale sperren muss«, erwiderte Blanc jetzt seufzend. »Dafür müsste ich Verstärkung anfordern.«

»Der Unfall blockiert nicht einen Zentimeter Asphalt. Wir haben einen Toten in einem Olivenhain.«

»Merde. Wer ist so bescheuert und fährt mitten in der Nacht zwischen Olivenbäumen herum?«

»Unser Toter ist nicht gefahren. Er ist geflogen.«

Blanc brauchte zwei Sekunden, bis er das begriffen hatte. »Ein Flugzeugabsturz? Sag nicht, dass …«

»Keine Sorge, es ist kein deutscher Airbus.« Tonon lachte freudlos. »Bloß eine kleine Propellermaschine, die auf einen Hain bei Lançon niedergegangen ist, neben der Route départementale 113. Ein toter Pilot, ein toter Olivenbaum. Keine nationale Katastrophe, aber spektakulärer als die verbeulten Familienkombis am Straßenrand. Das wird es morgen bis auf die Seiten von La Provence schaffen, die ersten Reporter sind schon hier. Ich halte sie von der Unfallstelle fern, aber wir sollten zeigen, dass wir uns angemessen um den Vorfall kümmern.«

»Wie viele Leute hast du vor Ort?«

»Die Besatzung von drei Streifenwagen. Jemand hat schon bei der Gerichtsmedizin angerufen. Und wahrscheinlich werden Flugunfall-Experten kommen. Und ganz sicher ein Offizier der Luftwaffe.«

»Ein Militär? Du hast gesagt, es sei bloß eine Propellermaschine!«

»Komm es dir einfach ansehen.«

Lançon thronte sechs Kilometer von Gadet entfernt auf einem Hügel und wirkte, als hätte sich der Kulissendesigner eines Historienfilms hier einmal richtig austoben dürfen. Verborgene Scheinwerfer strahlten eine Burg an, die nur aus wuchtigen Außenmauern zu bestehen schien. Das Licht flackerte gelbrot über die schrundige Festung, als würden plündernde Horden irgendwo in den Gassen unterhalb der Wälle Fackeln entzünden. Die Dächer der mittelalterlichen Häuser darunter waren nur zu erahnen. In den Steinwänden waren Türen und Fensterläden verrammelt. Blanc war in den wenigen Wochen, die er schon in der Provence lebte, noch nie dort gewesen.

Zwischen Lançon und der Route départementale standen Olivenbäume in Reihen wie Kreuze auf einem Soldatenfriedhof. Ein Turm leuchtete im Lichtkegel der Autoscheinwerfer auf, ein zehn Meter hoher Zylinder mit schrägem Dach und glasierten Fliesen, die in das Mauerwerk eingelassen waren. Blanc fragte sich flüchtig, was dieses filigrane Monument wohl sein mochte, wie ein Wehrturm sah es nicht aus. Er bremste seinen alten Espace ab, in dessen Amaturenbrett seit drei Tagen eine Warnleuchte blinkte, deren Bedeutung er nicht kannte. Es waren bereits alle Streifenwagen im Einsatz gewesen, also hatte er sein Privatauto genommen. Er bog nach links ab. Über den von Traktorenreifen zerschundenen Asphalt eines Feldwegs steuerte er vorsichtig zu jenem kleinen Zelt aus Licht, das zwei mobile Scheinwerfer der Gendarmerie über die Unfallstelle gebreitet hatten.

Ein qualmendes Flugzeugwrack, noch vierzig Meter entfernt und bloß undeutlich auszumachen. Etwa zwei Dutzend cavaliers jaunes sprenkelten schon den Boden – »gelbe Ritter« nannten die Flics jene mit Ziffern versehenen Plastikhütchen, die dort aufgestellt worden waren, wo Wrackstücke oder andere Spuren lagen. Blanc hatte seit seinem Abschluss der Gendarmerieschule in Melun zwanzig Jahre zuvor kaum je eine dieser Markierungen angefasst, weil er die meiste Zeit bis zu seiner Versetzung als Aktenfresser verbracht hatte.

Rot-weiße Plastikbänder waren von Olivenbaum zu Olivenbaum in einem weiten Kreis um die Unfallstelle gespannt worden. Mehrere, zumeist verbeulte Wagen parkten an der Absperrung, ihre Fahrer waren in der windstillen Nacht ausgestiegen und wurden von einem müden Brigadier überwacht. Manche Journalisten rauchten, andere hielten Spiegelreflexkameras oder Digicams in die Höhe. Blanc bezweifelte, dass die Medienleute auf diese Entfernung brauchbare Bilder des abgestürzten Flugzeugs zustande bringen würden. Er erkannte Gerard Paulmier wieder. Der schmächtige Reporter war eigentlich schon Rentner, doch schrieb er weiterhin als freier Mitarbeiter für La Provence. Blanc war ihm bei seinem ersten Fall im Midi begegnet, wo Paulmiers alter Toyota von einem flüchtenden Mörder zu Schrott gefahren worden war. Nun lehnte er, ein wenig abseits der Kollegen, an der Motorhaube eines hochbeinigen Dacia Dusters, dessen Silberlack noch glänzte wie aus dem Prospekt. Er hatte als Einziger Blancs heranrollenden Minivan erblickt und setzte sich langsam zu ihm in Bewegung, unbeachtet von den anderen Journalisten.

Blanc stoppte weit vor dem Plastikband, neben einem Olivenbaum, dessen Laubkrone den Lichtschimmer der mobilen Scheinwerfer schluckte, sodass man den Wagen kaum noch sah. Er trug keine Uniform und nicht einmal die Armbinde mit der Aufschrift »Gendarmerie« über dem Ärmel seines T-Shirts. Blanc hoffte, dass ihn außer Paulmier kein weiterer Journalist erkennen würde. Er wollte sich lieber zunächst ungestört umsehen, bevor er vor die Presse treten musste.

Paulmiers graue Haare hatten die Länge von jemandem, der sich seit Wochen sagte, dass er eigentlich mal wieder zum Friseur gehen müsste. Sein verwaschenes Hemd und seine Stoffhose undefinierbarer Farbe hatten mal einem Mann gehört, dessen Körper größere Muskeln modelliert hatten. Ein süßlicher Tabakhauch umhüllte ihn.

»Ich weiß weniger als nichts«, begrüßte ihn Blanc und schüttelte ihm die Hand.

»Das hört man nicht oft von einem Flic.« Der alte Reporter lächelte milde. »Reden wir miteinander, wenn Sie mehr wissen?«

»Es könnte ein, zwei Stunden dauern, bis ich Zeit für Sie habe.«

»Ich bin Rentner«, erwiderte Paulmier und zog eine Pfeife aus der Hosentasche. »Ich warte auf Sie und auf den Tod. Wenn der liebe Gott es so einrichtet, dann in dieser Reihenfolge.« Blanc blieb stehen, bis Paulmier zu seinem Dacia zurückgekehrt war. Dann trat er vom Feldweg ins Dunkle und näherte sich unter den Laubschirmen der Olivenbäume der Unfallstelle. Der geharkte Boden krümelte unter seinen Sohlen wie Mürbeteig. Die Äste wanden sich aus verknoteten Stämmen. Blanc war fast zwei Meter groß und musste sich gelegentlich ducken, um sich nicht an einem von ihnen die Stirn zu stoßen. Zum Glück schimmerten die Blätter im schwachen Mondlicht wie abgegriffene Silbermünzen. Irgendwo stieß eine Eule ihren hohen Jagdruf aus. Blanc wandte den Kopf.

Da erblindete er.

Ein Schlag traf ihn, nicht wie von einer Faust, sondern eher wie eine Schaufel voll Sand, die ihm ins Gesicht geschleudert worden war. Seine Augen brannten. Er taumelte, riss die Hände hoch. Zu spät. Salz. Er spürte das Brennen, fühlte den Geschmack auf der Zunge. Er hörte Schritte auf dem trockenen sandigen Boden. Versuchte verzweifelt, irgendetwas zu fokussieren.

»Madame, beruhigen Sie sich. Der Monsieur hier gehört zu uns.« Tonons Bass.

Blanc tastete durch die Luft, suchte vergebens nach einer vertrauten Form. »Merde, Marius, was geht hier vor?«

»Ich habe eine Flasche Vittel dabei. Gleich ist wieder alles gut.«

Blanc bekam einen zweiten Schlag ins Gesicht, diesmal ein Schwall lauwarmen Wassers.

»Putain.« Er rieb sich die Augen. Durch einen Schleier hindurch sah er nun den älteren Lieutenant, die geöffnete Plastikflasche noch in der Hand, so, als wollte er ihm eine zweite Dusche verpassen. »Schon gut«, keuchte Blanc.

»Du siehst aus wie ein...