Das Seehaus - Roman

von: Kate Morton

Diana Verlag, 2016

ISBN: 9783641139995 , 624 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Das Seehaus - Roman


 

3

Cornwall, 2003

Das Sonnenlicht fiel durch das Laub. Sadie rannte, bis ihre Lunge sie anflehte, stehen zu bleiben. Doch sie rannte nur noch schneller, konzentrierte sich auf das beruhigende, rhythmische Geräusch ihrer Schritte, das schwache Echo, das von der feuchten, bemoosten Erde und dem dichten Unterholz dumpf widerhallte.

Die Hunde waren schon vor einer Weile von dem schmalen Weg verschwunden. Sie glitten, die Schnauze am Boden, wie dunkelbraune Schatten durch das nassglänzende Gestrüpp zu beiden Seiten des Wegs. Vielleicht fühlten sich die Hunde noch erleichterter als sie, dass der Regen endlich aufgehört hatte. Es überraschte Sadie, wie froh sie war, die beiden bei sich zu haben. Anfangs hatte sie sich gegen den Vorschlag ihres Großvaters gesträubt. Aber Bertie hatte ziemlich argwöhnisch reagiert, als sie aus heiterem Himmel bei ihm geklingelt hatte. »Seit wann machst du Urlaub?«, hatte er gefragt und war wie immer stur geblieben. »Du bist mit der Gegend nicht vertraut. Der Wald ist an manchen Stellen sehr dicht, da kann man sich leicht verirren.« Dann fing er damit an, er könne einen der einheimischen jungen Männer bitten, sie zu begleiten. Er bedachte sie mit einem Blick, der ihr sagte, dass er drauf und dran war, Fragen zu stellen, die sie nicht beantworten wollte. Also hatte Sadie sich lieber darauf eingelassen, die Hunde mitzunehmen.

Sadie joggte immer allein. Das hatte sie schon getan, lange bevor der Fall Bailey ihr um die Ohren geflogen und ihr Leben in London in sich zusammengestürzt war. So gefiel es ihr am besten. Manche joggten, um sich fit zu halten, andere zum Vergnügen. Sadie joggte wie jemand, der seinem eigenen Tod davonlief. Das hatte ein Mann zu ihr gesagt, mit dem sie vor Jahren zusammen gewesen war. Er hatte es ihr vorgehalten, während er zusammengekrümmt mitten im Hampstead Heath stand und nach Luft rang. Sadie hatte mit den Achseln gezuckt und sich gefragt, was daran schlecht sein sollte, und im selben Moment gewusst, dass aus ihnen beiden nichts werden würde.

Ein Windstoß fuhr durch die Zweige und sprühte ihr die Regentropfen der vergangenen Nacht ins Gesicht. Sadie schüttelte den Kopf, ohne das Tempo zu verlangsamen. Am Wegesrand wuchsen Wildrosen, die wie jedes Jahr ihr Glück zwischen Farnen und umgestürzten Bäumen versuchten. Es war gut, dass es so etwas gab, der Beweis dafür, dass die Schönheit und das Gute tatsächlich auf der Welt existierten, wie Gedichte und platte Sprüche behaupteten. In ihrem Beruf konnte man das leicht vergessen.

Am Wochenende hatten die Londoner Zeitungen wieder darüber berichtet. Sadie hatte einem Mann im Hafencafé über die Schulter gesehen, während sie mit Bertie frühstückte. Oder vielmehr, während sie frühstückte und er an einem grünen Smoothie nuckelte, der nach Gras roch. Es war nur ein kurzer Artikel gewesen, eine einzige Spalte auf Seite fünf, aber der Name Maggie Bailey hatte Sadies Blick wie ein Magnet angezogen. Sie hielt mitten im Satz inne und überflog den Artikel gierig. Neues erfuhr sie nicht, was bedeutete, dass sich nichts geändert hatte. Wie auch. Der Fall war abgeschlossen. Derek Maitland hatte als Autor in der Namenszeile gestanden. Kein Wunder, dass er sich an die Geschichte klammerte wie ein Hund an einen Knochen, den man ihm wegnehmen wollte. So war er eben. Vielleicht war das einer der Gründe, warum sie sich für ihn entschieden hatte.

Sadie erschrak, als Ash mit einem Riesensatz vor ihr aus dem Gebüsch sprang und mit fliegenden Ohren und offenem, nass grinsendem Maul vor ihr herrannte. Mit geballten Fäusten und zusammengebissenen Zähnen beschleunigte sie ihr Tempo, um nicht zurückzufallen. Eigentlich sollte sie keine Zeitung lesen. Sie sollte sich eine Auszeit nehmen und abwarten, bis die Lage in London sich beruhigt hatte. Das hatte Donald ihr geraten. Er versuchte nur, sie davor zu bewahren, dass man ihr ihre eigene Dummheit unter die Nase rieb. Das war wirklich nett von ihm, aber dafür war es ein bisschen zu spät.

Alle Zeitungen hatten darüber berichtet, die Fernsehsender ebenso. In den Wochen danach war die Berichterstattung nicht weniger, sondern vielfältiger geworden und reichte von Artikeln über Sadies Kommentare und boshaften Hinweisen auf Differenzen innerhalb der Met bis hin zu Anspielungen auf Vertuschungsmanöver. Kein Wunder, dass Ashford sauer war. Der Superintendent ließ keine Gelegenheit aus, seine Meinung zum Thema Loyalität kundzutun, sich die vom Mittagessen bekleckerte Hose hochzuziehen und den versammelten Detectives eine Standpauke zu halten: »Es gibt nichts Schlimmeres als Nestbeschmutzer, verstanden? Wenn Sie sich über etwas aufregen, regeln Sie das innerhalb des Hauses. Nichts schadet dem Department mehr als Polizisten, die Interna an Außenstehende ausplaudern.« Und er vergaß nie, die verabscheuungswürdigsten unter den Außenseitern zu erwähnen, nämlich die Journalisten, die er voller Verachtung als Blutsauger bezeichnete.

Gott sei Dank wusste Ashford nicht, dass Sadie dieses spezielle Detail ausgeplaudert hatte. Donald hatte sie gedeckt, genauso wie er es bei ihren Fehlern bei der Arbeit getan hatte. »Schließlich sind wir Partner«, hatte er auf seine typische raubeinige Art geknurrt, als sie sich damals unbeholfen bei ihm bedankt hatte. Sie scherzten sonst immer über die kleinen Ausrutscher in ihrem ansonsten tadellosen Verhalten. Doch der Verstoß, den sie sich diesmal geleistet hatte, war etwas anderes. Als Vorgesetzter war Donald verantwortlich für die Handlungsweise der ihm unterstellten Polizisten. Erschien jemand ohne Notizblock zu einer Vernehmung, konnte man das mit einem gutmütigen Frotzeln abtun. Wurde aber ausgeplaudert, dass das Department eine Ermittlung vermasselt hatte, war das eine ganz andere Sache.

Als die Geschichte Schlagzeilen machte, hatte Donald gleich gewusst, dass Sadie die undichte Stelle war. Er lud sie auf ein Bier im Fox and Hounds ein und machte ihr unmissverständlich klar, dass sie aus London verschwinden müsse. Sie solle den gesamten Urlaub nehmen, der ihr zustand, und sich rarmachen, bis sie verarbeitet hatte, was ihr quer im Magen lag. Was auch immer das sein mochte. »Ich meine es ernst, Sparrow«, hatte er gesagt und sich Bierschaum aus dem grauen Schnurrbart gewischt. »Ich weiß nicht, was neuerdings in dich gefahren ist, aber Ashford ist nicht blöd, er wird ein wachsames Auge auf dich haben. Dein Großvater ist doch zurzeit in Cornwall, oder? Zu deinem eigenen Besten, zu unser beider Besten, fahr hin und bleib da, bis du dich wieder gefangen hast.«

Ein umgestürzter Baum versperrte ihr den Weg, und Sadie sprang darüber, wäre aber beinahe mit der Schuhspitze hängen geblieben. Adrenalin schoss ihr bis in die Haarspitzen wie heißer Sirup. Sie machte sich das zunutze und rannte noch schneller. Bleib da, bis du dich wieder gefangen hast. Das war leichter gesagt als getan. Donald mochte den Grund für ihre Zerstreutheit und Unbesonnenheit nicht kennen, aber sie selbst kannte ihn. Sie dachte an den Inhalt des Umschlags, den sie im Nachtschränkchen in Berties Gästezimmer versteckt hatte, an das hübsche Papier, die schnörkelige Handschrift, die schockierende Nachricht. Ihre Probleme hatten genau an dem Abend vor sechs Wochen angefangen, an dem der Brief auf der Fußmatte vor ihrer Londoner Wohnung lag. Anfangs waren es nur gelegentliche Konzentrationsstörungen gewesen, kleine Fehler, die sich leicht ausbügeln ließen, aber dann … Der Fall Bailey, das kleine, mutterlose Mädchen – da war ihr alles um die Ohren geflogen.

Mit einem letzten Energieschub zwang Sadie sich zu einem Sprint bis zu dem schwarzen Baumstumpf, an dem sie immer kehrtmachte. Taumelnd schaffte sie es, den feuchten, schartigen Stumpf mit der ausgestreckten Hand zu berühren, dann beugte sie sich keuchend vornüber, stützte sich mit den Händen auf den Knien ab und versuchte, wieder normal zu atmen. Ihr Zwerchfell hob und senkte sich, sie sah Sternchen. Ihr tat alles weh, und das war gut so. Ash lief umher und schnüffelte am Ende eines moosbedeckten Astes, der an der steilen Böschung aus dem Schlamm ragte. Sadie trank gierig aus ihrer Wasserflasche, dann sprühte sie dem Hund etwas Wasser ins offene Maul. Sie kraulte ihm den Kopf. »Wo ist dein Bruder?«, fragte sie, woraufhin Ash den Kopf schief legte und sie mit seinen klugen Augen anschaute. »Wo ist Ramsay?«

Sadie ließ den Blick über das Gestrüpp wandern. Dicke Farnbüschel sorgten für üppiges Grün. Zarte, noch zusammengerollte Wedel reckten sich zum Licht hin. Es duftete süß nach Geißblatt und regenfeuchter Erde. Sie hatte diesen Geruch seit jeher gemocht, und sie mochte ihn noch mehr, seitdem Bertie ihr erzählt hatte, dass er durch bestimmte Bakterien verursacht wurde. Das war der Beweis dafür, dass unter den richtigen Bedingungen Gutes aus Schlechtem entstehen konnte. Daran zu glauben lag in Sadies persönlichem Interesse.

Der Wald war ziemlich dicht, und während sie Ausschau nach Ramsay hielt, wurde ihr klar, dass Bertie recht hatte. Hier konnte man sich heillos verirren. Sie nicht, sie hatte ja die Hunde als Begleiter, deren Spürnasen den Heimweg finden würden. Aber jemand anders durchaus, ein unschuldiges Mädchen aus einem Märchen zum Beispiel. So ein Mädchen, den Kopf voller romantischer...