Zorn und Morgenröte

von: Renée Ahdieh

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2016

ISBN: 9783732522675 , 400 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Zorn und Morgenröte


 

Meditationen über
Spinnfäden und Gold


Sanft waren sie nicht. Wieso auch?

Schließlich erwarteten sie nicht, dass sie den nächsten Morgen überlebte.

Mit abgeklärter Ruppigkeit zogen die Hände Elfenbeinkämme durch Shahrzads hüftlanges Haar und massierten ihr Sandelholzpaste auf die bronzefarbenen Arme.

Shahrzad betrachtete eine junge Dienerin dabei, wie sie ihr die bloßen Schultern mit Goldflitter bestäubte, in dem sich das Licht der untergehenden Sonne fing.

Ein Wind strich über die hauchzarten Vorhänge, die die Wände der Kammer verhüllten. Durch die Holzläden, die zur Terrasse führten und mit Schnitzereien verziert waren, trieb ein süßer Duft nach Zitrusblüten heran und flüsterte von einer Freiheit, die nun außer Reichweite war.

Es war dein eigener Entschluss. Du darfst Shiva niemals vergessen.

»Ich trage keine Halskette«, sagte Shahrzad, als ein anderes Mädchen ihr ein juwelenbesetztes Ungetüm an die Kehle legte.

»Das ist ein Geschenk des Kalifen. Du musst es tragen, Herrin.«

Shahrzad starrte das schlanke Mädchen mit amüsiertem Unglauben an. »Und wenn ich es nicht trage? Tötet er mich dann?«

»Bitte, Herrin, ich …«

Shahrzad seufzte. »Jetzt ist wohl der falsche Moment, darauf zu bestehen.«

»Ja, Herrin.«

»Ich heiße Shahrzad.«

»Das weiß ich, Herrin.« Das Mädchen blickte voll Unbehagen weg und wandte sich ab, um bei Shahrzads goldenem Mantel zu helfen. Während die beiden Dienerinnen ihr das schwere Kleidungsstück über die funkelnden Schultern legten, musterte Shahrzad sich im Spiegel.

Die mitternachtsschwarzen Tressen schimmerten wie polierter Obsidian, ihre haselnussbraunen Augen waren mit sich abwechselnden Strichen von schwarzem Kajal und Flüssigem Gold geschminkt. Mitten auf ihrer Stirn hing ein tränenförmiger Rubin von der Größe ihres Daumens; sein Zwilling baumelte von der dünnen Kette, die um ihre nackte Taille gelegt war, und strich über die Seidenschärpe ihrer Hose. Der Mantel bestand aus hellem Damast und war mit einem komplizierten Muster aus Gold- und Silberfäden durchwirkt. Wo er sich zu ihren Füßen ausbreitete, wirkte er noch undurchschaubarer.

Ich sehe aus wie ein vergoldeter Pfau.

»Sind alle so albern zurechtgemacht?«, fragte Shahrzad.

Wieder wandten die beiden jungen Dienerinnen den Blick voll Unbehagen ab.

Ich bin sicher, Shiva hat nicht so albern ausgesehen …

Shahrzads Miene wurde hart.

Shiva hat sicherlich wunderschön ausgesehen. Wunderschön und stark.

Sie bohrte sich die Fingernägel in die Handflächen, winzige Halbmonde stählerner Entschlossenheit.

Als es leise an der Tür pochte, wandten alle drei den Kopf – und gemeinsam stockte ihnen der Atem.

Obwohl sie all ihren Mut zusammengenommen hatte, begann Shahrzads Herz heftig zu pochen.

»Darf ich hereinkommen?« Die leise Stimme ihres Vaters durchbrach das Schweigen; sie klang bittend, und eine Spur unausgesprochener Zerknirschung lag darin.

Shahrzad atmete langsam aus … vorsichtig.

»Was machst du hier, Baba?« Ihre Worte klangen geduldig, aber sie war auf der Hut.

Jahandar al-Haizuran schlurfte in die Kammer. Sein Bart und seine Schläfen zeigten graue Strähnen, und die zahllosen Farbtupfer in seinen braunen Augen schimmerten und wogten hin und her wie das Meer im Sturm.

In der Hand hielt er eine einzelne knospende Rose, die in der Mitte weiß war, während eine schöne Malvenfarbe die Spitzen der Blütenblätter säumte. Die Blume wirkte, als würde sie erröten.

»Wo ist Irsa?«, fragte Shahrzad.

Man hörte, dass sie beunruhigt war.

Ihr Vater lächelte traurig. »Sie ist zu Hause. Ich habe ihr nicht gestattet, mich zu begleiten, obwohl sie, solange es nur ging, gestritten und gewütet hat.«

Wenigstens in dieser Hinsicht hat er meine Wünsche nicht missachtet.

»Du solltest bei ihr sein. Sie braucht dich heute Nacht. Bitte, tu es für mich, Baba. So wie wir es besprochen haben?« Sie ergriff seine freie Hand und drückte sie fest, beschwor ihn mit ihrem Griff, sich an die Pläne zu halten, die sie ihm in den Tagen zuvor dargelegt hatte.

»Ich … Ich kann nicht, Kind.« Jahandar senkte den Kopf. Ein Schluchzen stieg in seiner Brust auf, und seine schmalen Schultern bebten vor Kummer. »Shahrzad …«

»Sei stark. Für Irsa. Ich verspreche dir, alles wird gut.« Shahrzad hob die Hand und wischte ihm die Tränen vom wettergegerbten Gesicht.

»Ich kann es nicht. Der Gedanke, dass heute dein letzter Sonnenuntergang sein könnte …«

»Es wird nicht der letzte sein. Ich werde auch den morgigen Abend sehen. Das schwöre ich dir.«

Jahandar nickte, auch wenn sein Elend nicht einmal annähernd besänftigt war. Er streckte die Rose vor, die er in der Hand hielt. »Die letzte aus meinem Garten; sie ist noch nicht voll erblüht, doch ich wollte dir eine Erinnerung an unser Zuhause bringen.«

Lächelnd griff sie nach der Blume. Die Liebe zwischen ihr und ihrem Vater ging über reine Dankbarkeit weit hinaus, aber trotzdem weigerte er sich, ihr die Rose zu geben. Als sie begriff, weshalb er das tat, wollte sie Einwände erheben.

»Nein. Wenigstens damit kann ich vielleicht etwas für dich tun«, brummte er, fast, als redete er mit sich selbst. Er sah die Rose an, die Stirn gefurcht, die Lippen zusammengepresst. Eine Dienerin hustete sich in die Faust, während die andere den Boden anstarrte.

Shahrzad wartete geduldig. Wissend.

Die Rose blühte auf. Ihre Blätter entrollten sich, von unsichtbarer Hand zum Leben erweckt. Ein köstlicher Duft erfüllte den Raum zwischen ihnen, süß und perfekt für einen Augenblick … doch schon wurde er unerträglich, widerlich süß. Binnen eines Lidschlags verfärbten sich die Blütenränder von einem glanzvollen tiefen Rosa zu einem düsteren Rostbraun.

Dann welkte die Blume und starb.

Entsetzt sah Jahandar zu, wie die verdorrten Blütenblätter auf den weißen Marmor zu ihren Füßen rieselten.

»Es … es tut mir leid, Shahrzad«, sagte er weinend.

»Das spielt keine Rolle. Ich werde niemals vergessen, wie schön sie in diesem einen Augenblick gewesen ist, Baba.« Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und zog ihn an sich. So leise, dass nur er sie hören konnte, flüsterte sie ihm ins Ohr: »Geh zu Tarik, wie du es versprochen hast. Nimm Irsa mit und geh.«

Er nickte, und seine Augen glänzten wieder. »Ich habe dich lieb, mein Kind.«

»Und ich habe dich lieb. Ich werde meine Versprechen halten. Alle.«

Von seinen Gefühlen überwältigt, betrachtete Jahandar seine ältere Tochter, ohne ein Wort zu sagen.

Das nächste Klopfen an der Tür verlangte Aufmerksamkeit, statt sie zu erbitten.

Shahrzad drehte den Kopf ruckartig zur Tür. Die blutroten Rubine schwangen im Takt. Sie straffte die Schultern und hob das spitze Kinn.

Jahandar trat zur Seite und barg sein Gesicht in den Händen, als seine Tochter einen Schritt nach vorne machte.

»Es tut mir leid – so leid«, flüsterte sie ihm zu, dann schritt sie über die Schwelle und folgte den Palastgardisten, die die Prozession anführten. Jahandar sank auf die Knie und schluchzte, als Shahrzad um die Ecke bog und verschwand.

Als sie die Verzweiflung ihres Vaters hörte, weigerten sich Shahrzads Füße, sie weiter durch die breiten Korridore des Palasts zu tragen. Sie blieb stehen, und ihre Knie zitterten unter der dünnen Seite ihres Sirwals, der weiten Pluderhose.

»Herrin?«, sprach ein Gardist sie in gelangweiltem Ton an.

»Er kann warten«, stieß Shahrzad hervor.

Die Gardisten tauschten Blicke.

Ihre eigenen Tränen drohten eine verräterische Spur auf Shahrzads Wangen zu zeichnen. Sie presste sich eine Hand auf die Brust. Ohne Absicht strichen ihre Fingerspitzen über den Rand des dicken goldenen Anhängers an ihrem Hals, der mit Edelsteinen unfasslicher Größe und unbeschreibbarer Vielfalt besetzt war. Der Schmuck fühlte sich schwer an … erstickend. Wie eine juwelengespickte Fessel. Sie gestattete ihren Fingern, sich um die unerwünschte Kette zu schließen, und überlegte einen Augenblick lang, sie sich vom Leib zu reißen.

Die Wut war tröstlich. Wie eine freundliche Erinnerung.

Shiva.

Ihre beste Freundin. Ihre engste Vertraute.

Sie krümmte die Zehen in ihren Sandalen aus geflochtenen Silber- und Goldfäden und zog die Schultern einmal mehr zurück. Ohne ein Wort ging sie weiter.

Erneut blickten die Gardisten einander kurz an.

Als sie die breite Tür mit den beiden schweren Flügeln erreichte, die zum Thronsaal führte, schlug Shahrzads Herz doppelt so schnell wie sonst. Mit einem gedehnten Ächzen schwangen die Türflügel auf, und sie konzentrierte sich ganz auf ihr Ziel, hatte keine Augen für irgendetwas ringsum.

Am anderen Ende des gewaltigen Saales stand Chalid Ibn al-Rashid, der Kalif von Chorasan.

Der König der Könige.

Das Ungeheuer aus meinen Albträumen.

Mit jedem Schritt, den sie machte, steigerte sich der Hass in Shahrzad, und in gleichem Maße sah sie ihr Ziel immer klarer vor sich. Ihr Blick blieb fest, während sie ihn anstarrte. Mit seiner stolzen Haltung stach Chalid zwischen den Männern seines Gefolges...