Moralische Grundbegriffe

von: Robert Spaemann

Verlag C.H.Beck, 2015

ISBN: 9783406686351 , 109 Seiten

9. Auflage

Format: PDF, ePUB, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 7,49 EUR

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Moralische Grundbegriffe


 

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Erziehung oder: Lustprinzip und Realitätsprinzip


Im ersten Kapitel ging es darum, etwas in Erinnerung zu rufen, was wir alle schon wissen: daß es einen Unterschied gibt zwischen besser und schlechter, zwischen gut und böse, einen Unterschied, der nicht nur relativ ist auf die Bedürfnisse einzelner, betroffener Menschen, sondern der eine absolute Wertschätzung ganz unabhängig von der jeweiligen Betroffenheit ausdrückt. Und was wir alle auch immer schon spontan wissen, ist, daß dieser Unterschied, trotz aller geschichtlichen und kulturellen Unterschiede im einzelnen, ein allgemeingültiger ist. Wir können nämlich auch die moralischen Standards verschiedener Kulturen noch einmal miteinander vergleichen. Und dabei sind wir sogar imstande, den Standards anderer ein besseres Prädikat zu geben als denen unserer eigenen Kultur.

Es ging zunächst einmal darum, dieses ursprüngliche Wissen gegen einige skeptische und relativistische Einwände zu verteidigen. Ein genaueres Verständnis dessen, was wir eigentlich meinen, wenn wir vom richtigen und falschen Leben, von gut und schlecht oder von gut und böse sprechen, setzt einige weitere Überlegungen voraus. Mit ihnen wollen wir jetzt beginnen.

Wir sind gewöhnt, sogenannte moralische Fragen mit dem Wort „sollen“ zu verknüpfen, mit dem Gedanken an Forderungen oder Gebote. Forderungen richten sich jedoch an unseren Willen. Um etwas zu tun, muß ich es wollen. Wenn wir etwas sollen, dann heißt das, wir sollen es wollen.

„Ich tue, was ich will“ ist insofern eine ganz überflüssige Redensart, denn jeder tut, was er will, das haben wir schon in Kapitel 1 gesehen. Die Frage ist nur, warum ich etwas will. Wer dem Arzt gehorcht, der ihm den Genuß von Gebratenem verbietet, tut es, weil er gesund bleiben oder werden will. Sogar wer einem Straßenräuber sein Portemonnaie aushändigt, tut es, weil er sein Leben oder seine Knochen retten will. Wer gar nichts will, an den kann man auch gar keine Forderungen richten. Im krankhaften Zustand der Willenlosigkeit, der Apathie, geht jedes Sollen ins Leere.

Als vor etwa 2500 Jahren das philosophische Nachdenken über Ethik, das heißt über das richtige Leben begann, da stand am Anfang dieser Überlegungen nicht die Frage nach dem, was wir sollen, sondern nach dem, was wir eigentlich und im Grunde wollen. Denn das meiste von dem, was wir wollen, wollen wir eigentlich nicht an sich und um seiner selbst willen, sondern weil wir etwas anderes dadurch zu erreichen streben, wie die Beispiele vom Straßenräuber oder vom Arzt zeigen. Jedes Sollen muß an irgendein schon vorhandenes Wollen anknüpfen, sonst hätten wir gar keinen Grund, uns dieses Sollen zu eigen zu machen. Hätten wir genau verstanden, was wir eigentlich und im Grunde wollen – so überlegten die Griechen – dann wüßten wir auch, was wir sollen und worin das richtige Leben besteht. Dies, was wir eigentlich und im Grunde wollen und weswegen wir alles andere wollen und tun, was wir tun, nannten die Griechen das Gute oder das höchste Gut.

Die Frage „Was ist das höchste Gut?“, um die sich die ganze antike Ethik drehte, meinte nicht: „Was ist sittlich gerechtfertigt?“, sondern „Was ist eigentlich das letzte Ziel unseres Strebens?“ Hätte man dieses erkannt, dann könnte man auch Moralen daraufhin unterscheiden, ob sie natürlich oder unnatürlich und repressiv sind. Natürlich sind sie, wenn sie uns helfen, das, was wir eigentlich und im Grunde wollen, zu erreichen; unnatürlich sind sie, wenn sie das nicht tun. Normensysteme können auf zweierlei Art unnatürlich sein: Entweder sie liefern den Menschen der Fremdbestimmung oder sie liefern ihn der eigenen Willkür aus.

Auch die Fremdbestimmung knüpft ans eigene Wollen an; aber der Machthaber kann die Erreichung unserer Wünsche davon abhängig machen, daß wir zuvor seine Wünsche erfüllen, obgleich diese den unseren eigentlich entgegengesetzt sind, so wie der Räuber, der uns das Leben nur läßt, wenn wir ihm das Portemonnaie geben. In diesem Sinne können moralische Normen, die an sich gar nicht in unserem Interesse sind, uns anerzogen werden, indem wir das, was wir eigentlich wollen, immer nur bekommen, wenn wir diese Normen erfüllen. Solche Moralen sind „verinnerlichte Herrschaft“.

Unnatürlich ist aber auch eine Moral, die uns unserer Willkür ausliefert, das heißt unseren augenblicklichen Wünschen und Launen, welche uns das, was wir eigentlich wollen, gerade verfehlen lassen, sei es durch Mangel an Wissen, sei es durch Mangel an Selbstbeherrschung.

Aber gibt es denn überhaupt ein solches Grundwollen des Menschen, an dem wir all seine einzelnen Wünsche und Bestrebungen und auch alle in einer Gesellschaft geltenden Normen messen können? Wenn ja, worin besteht es?

Die früheste Antwort, die auf diese Frage gegeben wurde und die auch heute wieder sehr verbreitet ist, lautet: Was wir eigentlich und im Grunde wollen und weshalb wir alles andere wollen, ist Lustgewinn und Unlustvermeidung, oder auch, einfacher gesprochen: wir wollen uns wohlfühlen. Gut ist, was zur Erreichung dieses Zieles beiträgt; schlecht ist, was ihm Abbruch tut. Wir nennen diese Auffassung „Hedonismus“ – vom griechischen Wort hedoné, Lust. Hedonismus ist das erste Ergebnis einer Reflexion auf den Grund unseres Handelns gewesen und damit auch das erste systematische Moralprinzip. Daß es unzureichend ist, werden wir noch sehen. Aber zunächst ist es gut, sich klarzumachen, daß es eine Entdeckung enthält. Nämlich die Entdeckung, von der ich zu Beginn sprach: ehe wir etwas sollen, müssen wir etwas wollen. Um etwas zu tun, was an sich gut ist, muß es auch in irgendeinem Sinne für mich gut sein, denn es muß für mich zum Motiv werden können, und ich muß darin auf irgendeine Weise eine Befriedigung finden, sonst würde ich es gar nicht wollen können.

Der Hedonismus interpretiert jedoch diese seine Entdeckung sogleich falsch. Aus der Tatsache, daß jede Erreichung eines Willenszieles mit irgendeiner Befriedigung verbunden ist, schließt er, diese Befriedigung sei das eigentliche Handlungsziel. Alles andere werde nur um dieses Zieles willen gewollt. Diese Behauptung aber entbehrt jeder Begründung. Natürlich macht es mir Freude, wenn es mir gelungen ist, einem Menschen das Leben zu retten, oder auch jemandem, der mir geholfen hat, meine Dankbarkeit zu zeigen, indem ich ihm eine Freude mache. Aber es ist doch ganz künstlich zu sagen, ich hätte das nur getan, um selbst eine Befriedigung zu haben. Das ist vielmehr eine nachträgliche Umdeutung durch einen äußeren Betrachter oder durch eine Reflexion, in der wir uns selbst sozusagen zu Zuschauern unseres eigenen Wollens machen, statt einfach etwas zu wollen und zu tun.

Die philosophischen Hedonisten unterlagen allerdings nicht immer diesem Irrtum. Manche von ihnen, wie zum Beispiel Epikur, wußten sehr wohl, daß es den Menschen im allgemeinen nicht um ihre eigenen Lustzustände geht, sondern um vielerlei Dinge des Lebens, wichtige und unwichtige, gute und schlechte. Er hielt das jedoch für einen Zustand der Selbstentfremdung des Menschen und außerdem für einen Zustand, in dem die Menschen sich dauernd unglücklich machen, weil sie immer wieder die Dinge nicht erreichen, die sie erreichen wollen. Er behauptete deshalb nicht, alle Menschen seien Hedonisten, sondern er empfahl, sie sollten es werden. Sie sollten lernen, daß das höchste Gut nicht in Dingen oder Menschen besteht, sondern nur in dem Vergnügen, das wir an Dingen und Menschen finden.

Wir können zwei Varianten dieses Hedonismus unterscheiden. Eine positive und eine negative. Eine, der es hauptsächlich um Lust-Maximierung, und eine andere, der es mehr um Unlust-Vermeidung geht. Die erste ist oft den herrschenden Klassen einer Gesellschaft eigen, die es sich leisten können, ihre Begierden zu vergrößern, weil sie die Mittel zu ihrer Befriedigung zu haben glauben. Die andere Variante ist eher asketisch. Sie hält die Begierden klein, um die möglichen Frustrationen von vornherein gering zu halten. Das letztere war die Position Epikurs. Sie verbindet sich meistens mit der Sorge um die Gesundheit. Langfristiger Lustgewinn setzt ja Gesundheit voraus.

Noch eine dritte Überlegung kommt hinzu. Der Grad des Glücksgefühls hängt nicht zuletzt ab vom Erwartungshorizont. Wer sich an die Befriedigung vieler und differenzierter Bedürfnisse gewöhnt hat, zieht daraus auf die Länge nicht mehr Vergnügen als der, der bescheidene Bedürfnisse besitzt. Aber seine Vergnügen sind schwieriger zu erreichen. Ihre Vorbereitung verbraucht mehr Lebenszeit, wovon ein Reicher auch nicht mehr zur Verfügung hat. Und sie sind gefährdeter. Deshalb ist es nach Ansicht Epikurs vernünftig, seine Begierden gering zu halten.

Schließlich gehören für Epikur auch Tugend, Wohlwollen, Freundschaft, Freigebigkeit zum guten Leben, weil diese Eigenschaften dem, der sie besitzt, eine Quelle der Freude sind. Der Satz Jesu ‚Geben ist seliger als nehmen‘ kann auch hedonistisch begründet werden. Der Hedonismus enthält wichtige Einsichten, die zur Lebenskunst gehören. Aber er verdirbt diese Einsichten gleich wieder, weil, wie wir noch sehen werden,...