John Sinclair 702 - Die Nacht der bösen Frauen (3. Teil)

von: Jason Dark

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2015

ISBN: 9783838734323 , 64 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 1,99 EUR

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John Sinclair 702 - Die Nacht der bösen Frauen (3. Teil)


 

Auch mich hatte das Erscheinen dieses Tyrannen überrascht, warf sie doch all meine Bilder, die ich mir bisher von einem Dracula gemacht hatte, über den Haufen.

Da stand kein hochgewachsener, kräftiger Vampir vor mir, sondern ein relativ kleiner Mann mit einem bleichen Gesicht und einem dunklen Bart. Seine Stirn war ziemlich groß, darunter sah ich die stechenden Augen, die schon etwas Gefährliches ausstrahlten.

Was mich außerdem überraschte, war seine Kleidung.

Er trug einen dunklen Mantel, der ihm zwar passte, der aber trotzdem nicht zu ihm gehörte, denn diesen Mantel hatte ich eigentlich bei einer anderen Person vermutet.

Bei der Hexe Assunga nämlich, denn ihr waren wir auf der Spur. Suko und Marek an einer anderen Stelle als ich. Ich war im Wald zurückgeblieben, und zwar dort, wo sich die Ruinen eines kleinen Lustschlosses befanden, das einmal dem Grafen Dracula gehört hatte.

In diesem Pavillon der Ruine hatte ich auch die mit Pfählen gespickte Grube entdeckt und Bescheid gewusst. In diese Grube waren früher die Opfer hineingeworfen worden, die dann auf grausame Art und Weise ums Leben kamen.

Assunga, die Hexe!

Mit ihr und ihrer Erweckung im fernen London hatte alles begonnen. Sie lebte wieder, und sie hatte sich auf die Suche nach einem mächtigen Verbündeten gemacht, nach Dracula II alias Will Wallmann, doch sie hatte nicht ohne ein Geschenk zu ihm kommen wollen und hatte sich deshalb auf die Suche nach dem Mantel des Vlad Dracula gemacht und ihn auch gefunden.1

Dieser Mantel war etwas Besonders. Er schaffte es, seinen Träger in verschiedene Zeiten zu versetzen. Man konnte mit ihm in die Vergangenheit reisen, das hatte ich mittlerweile herausgefunden. Und man konnte auch aus der Vergangenheit wieder in die Gegenwart zurückkehren, wobei der Mantel nicht nur auf einen bestimmten Träger beschränkt blieb, wie ich hier sehr genau sah.

Diesmal trug Dracula ihn. Dass er ihn umgehängt hatte, ließ darauf schließen, dass sich die Hexe Assunga in seiner Zeit befand, wo er so grausam regiert hatte.

Aber warum hatte sie ihm den Mantel überlassen? Ich hätte gern mit Dracula einige Worte gewechselt, er aber würde kaum meine Sprache sprechen und machte auf mich auch nicht den Eindruck eines gewalttätigen Menschen.

Er stand nur da.

Ich schaute ihn an, er blickte mir ins Gesicht.

Als ich mich bewegte und Anstalten traf, wieder in die Grube zu klettern, hörte ich ihn sprechen. Einige rau klingende Worte schickte er mir entgegen, das war auch alles, was er sagte. Dabei schüttelte er den Kopf, als wollte er mich abwehren.

Ich redete ebenfalls mit ihm.

Er stampfte mit dem Fuß auf.

Dann streckte ich meinen Arm über die Grube und deutete ihm an, meine Hand zu nehmen.

Er zögerte noch. Wahrscheinlich vermisste er seine Waffen, auch seine Soldaten oder Wächter, denn allein war ein Potentat wie er nie zurechtgekommen.

Der Blutgraf fühlte sich in seiner Grube unwohl, er kam damit nicht zurecht, und er betastete schließlich die Pfähle, als wollte er ihre Haltbarkeit überprüfen.

Das Ergebnis schien ihm nicht zu gefallen, denn die alten Pfähle hatten im Laufe der Zeit gelitten. Sie waren morsch geworden. Einige von ihnen waren auch unter meinem Gewicht zerbrochen.

Noch immer zögerte ich.

Sollte ich in die Grube klettern? Sollte ich versuchen, ihn zu mir zu holen, um mit ihm zu reden? Es wäre so etwas wie eine historische Chance für mich gewesen, oder sollte ich versuchen, mit ihm zusammen und durch die Kraft des Mantels in eine andere Zeit zu reisen?

Während ich noch überlegte, ging der Graf zurück, bis er gegen eine Grubenwand stieß, dann konzentrierte er sich und war wieder weg.

Vor mir lag eine leere Grube. Ich stand an deren Rand und wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Ich starrte gegen die Pfähle, spürte im Hinterkopf ein leichtes Hämmern und fragte mich, ob ich geträumt hatte oder nicht.

Der Wolf jaulte jämmerlich. Seine Unruhe war mir jetzt verständlich geworden. Er hatte schon eher gespürt, dass etwas nicht stimmte und hatte sich deshalb so anders benommen.

Ich hatte die Chance verpasst, mit dem echten Dracula zu reden. Ich hätte mich selbst irgendwohin treten können, aber es war nicht mehr zu ändern. Ich stand allein am Rand der Blutgrube und hatte Vlad Dracula wie eine Vision erlebt.

Verflucht auch!

Ich beschimpfte mich selbst, nannte mich einen Narren und Idioten, aber es änderte nichts an der Tatsache, dass ich Dracula nicht mehr sah und ihn wahrscheinlich auch nicht mehr wiedersehen würde.

Dabei war es mir nicht einmal um ihn gegangen, sondern um die Hexe Assunga. Er war dabei so etwas wie ein Nebenprodukt geworden. Ich hätte zudem nie gedacht, dass dieser Fall derartige Kreise ziehen würde. Eigentlich war es mir darauf angekommen, Mallmanns Aufenthaltsort herauszufinden. Die Hexe hätte mich zu ihm führen können.

Aus persönlichen Gründen hatte sie eben diesen Umweg gemacht, und wir waren nun in diesen Schlamassel hineingeraten.

Eine leere Grube. Zumindest menschenleer. Der graue, struppige Wolf durchstreifte sie noch immer, als würde er irgendwo ein Stück Beute finden, an dem er sich laben konnte.

Zwei seiner Artgenossen waren tot, er hatte überlebt, nahm plötzlich Anlauf und stieß sich ab. Sein Körper schnellte wie ein grauer Schatten hoch. Die Vorderläufe erwischten den Rand, klammerten sich daran fest, hielten auch das Gewicht, und einen Moment später gelang es ihm, sich in die Höhe zu ziehen und aus der Grube zu klettern.

Ich war zurückgewichen und wartete auf die Reaktion des Tieres.

Der Wolf tat nichts.

Er blieb ruhig, er schaute mich an, dann drehte er den Kopf, als könnte er meinen Blick nicht mehr ertragen. Ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass er mich angreifen würde, aber er dachte nicht daran. Beinahe wie ein folgsamer Hund trottete er in meiner Nähe herum und war wenig später im Wald verschwunden.

Zurück blieb ich.

Allein diesmal, und ich fragte mich wieder einmal, ob es richtig gewesen war, hier oben zu warten und darauf zu hoffen, dass Assunga noch einmal zurückkehrte.

Sie hatte das Beste getan, was sie tun konnte. Mit Hilfe ihres Mantels war sie in die Vergangenheit geflohen, obwohl sie sich am selben Ort aufhalten würde, wie ich.

Hatte ich richtig gehandelt?

Ich wusste es nicht. Ich wusste im Prinzip gar nichts mehr, denn es gab auch keinen Punkt, wo ich den Hebel ansetzen konnte. Ich musste einfach warten und auf die Nacht hoffen, denn sie war schließlich die Zeit der Geister und des Umbruchs.

Meiner Ansicht nach konnte Assunga nicht mehr lange in der anderen Zeit ausharren. Sie würde einfach zurückkehren müssen. Dann war ich da, um sie zu erwarten …

*

Fast wäre der große Vlad Dracula vor die Füße der Hexe Assunga gefallen, als er plötzlich wieder aus dem Nichts erschien und seine Reise hinter sich gebracht hatte.

Er stand wieder da, wo er verschwunden war, schaute sich um, rieb über sein Gesicht, taumelte noch zur Seite und wäre beinahe in seine Blutgrube gestürzt, die wieder Nachschub bekommen hatte und in der sich der Geruch noch mehr intensiviert hatte.

Assunga hielt ihn fest.

Sie lächelte wie eine Siegerin. Es tat ihr gut zu wissen, dass sich der große Tyrann jetzt in ihren Händen befand, und das sahen auch die sechs Frauen, die sich Vlad als neue Gespielinnen ausgesucht hatte, um sich die folgenden Nächte zu verschönern. Sie begriffen kaum, dass die Gefahr für sie vorüber war, denn zwei von ihnen hatten in der Blutgrube des Wahnsinnigen landen sollen, um dort gepfählt zu werden. Das war nun vorbei.

Assunga hatte ihre Hände auf die Schultern der beinahe schmächtigen Gestalt gelegt. Sie schüttelte ihn durch, und dabei bewegte er nickend den Kopf.

»He, komm zu dir!«

Diesen Ton hätte sich niemand erlauben dürfen, aber Assunga sprach so mit ihm. Sie wusste ja, dass sie in diesem Fall wesentlich stärker war als der Blutgraf, der nicht dasselbe Schicksal erleiden wollte wie zwei seiner Soldaten. Sie waren durch die Feuerblicke der Hexe verbrannt und in die Grube auf die noch leeren Pfähle geschleudert worden. Die anderen zwei Soldaten, die Dracula noch hatten helfen wollen, waren nach dieser Tat fluchtartig verschwunden.

Assunga drehte sich. Sie hielt den Despoten noch immer fest, sodass er die Drehung mitmachte.

Er bewegte sich nicht, und er ließ es auch zu, dass Assunga die Brosche unter seinem Hals öffnete und ihm den Mantel von den Schultern nahm. Nicht einmal hastig zog sie ihn über, doch den Triumph auf ihrem Gesicht konnte sie nicht verbergen.

Sie schaute Dracula an.

Er blickte zurück und sah aus, als wollte er etwas sagen, wobei er noch nicht die richtigen Worte gefunden hatte. Sein Blick war stechend und gleichzeitig leer. Er sah aus wie jemand, der an seinen Erinnerungen zu knacken hatte.

Assunga ging zu den Frauen. Sie wollte dem Tyrannen noch Zeit lassen. Dabei fiel ihr Blick auf die Tür. In Höhe des Schlosses war von innen eine Ratte gegen das Holz genagelt worden, und ihr Blut hatte einen Weg durch das Schlüsselloch nach draußen gefunden.

Die Frauen waren der Hexe dankbar. Sie würden keine Fragen stellen, sie würden alles tun, was Assunga verlangte. Und besonders dankbar waren ihr die beiden Schwestern. Die ältere davon hieß Sena. Sie hatte es gewagt, Dracula zu widersprechen, als dieser ihre jüngere Schwester in die Grube hatte werfen wollen.

Daraufhin sollte Sena das gleiche Schicksal erleiden, doch dazu war es durch das Eingreifen der Hexe nicht gekommen. Sie beherrschte jetzt...