Diagnostische Erhebungsverfahren

von: Franz Petermann, Monika Daseking

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2015

ISBN: 9783840921476 , 364 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 30,99 EUR

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Diagnostische Erhebungsverfahren


 

Kapitel 2 Entwicklungsdiagnostik (S. 32-33)

In diesem Kapitel werden wichtige Grundlagen und Modelle der Entwicklungsdiagnostik erläutert; es erfolgt eine Konzentration auf das Kindesalter, da dieser Altersbereich auch heute noch den zentralen Einsatzbereich der Entwicklungsdiagnostik darstellt. Nach einer Übersicht über Ziele und Aufgaben der Entwicklungsdiagnostik wird auf den Einsatz allgemeiner und spezifischer Entwicklungstests eingegangen. Das Vorgehen wird an Beispielen illustriert und die Bedeutung von Screeningverfahren im Bereich der Entwicklungsdiagnostik hervorgehoben. Die Befunde der Entwicklungsdiagnostik dienen in erster Linie Ärzten sowie Mitarbeitern verschiedener Gesundheits- und pädagogischer Berufe als Arbeitsgrundlage; einige ausgewählte Fragestellungen aus diesen Bereichen werden ausgeführt.

2.1 Historisches

Die moderne Entwicklungsdiagnostik weist zumindest zwei historische Wurzeln auf: (1) das Erstellen von Tagebüchern, die die Entwicklung von Säuglingen, Kindern und Jugendlichen nachzeichnen; (2) strukturierte und ausführlich dokumentierte Verhaltensbeobachtungen aus dem Alltag von Säuglingen. Tagebücher, bei denen Eltern und/oder Forscher über die Entstehung ihrer Kinder berichten, bilden eine wichtige Quelle moderner Entwicklungspsychologie, auch wenn solche Methoden der Datenerhebung an Reputation verloren haben (vgl. Hoppe-Graff, 1998).

Prominente und frühe Vertreter, die Babybiografien publizierten, waren Darwin (1877) oder Shinn (1900). So veröffentlichte etwa Charles Darwin (1877) eine biografische Aufzeichnung der Entwicklung seines ersten Kindes, wobei er von der Zielsetzung geleitet wurde, Aussagen über die Natur des Menschen zu treffen, bevor dieser durch die Erziehung seine Natürlichkeit verloren hat. Mit solchen Tagebüchern sollte anhand von Alltagsbeobachtungen der Entwicklungsverlauf von Kindern am Einzelfall beschrieben werden. Bei diesem Vorgehen kamen die Methoden der Fremdbeobachtung (also Eltern/Forscher berichten über ihre Kinder) und der Selbstbeobachtung (Jugendliche verfassen Tagebücher über ihr Erleben und Verhalten) zum Einsatz. So berichteten der Physiologe Wilhelm Preyer (1882) und das Psychologenehepaar William und Clara Stern (1909) über die Entwicklung ihrer eigenen Kinder. Charlotte Bühler (1922), eine Wiener Entwicklungspsychologin, legte einen Tagebuchbericht einer weiblichen Jugendlichen vor, der die „Psychologie des Jugendalters“ jahrzehntelang prägte.

Auch wenn man die Aussagen dieser subjektiven Fallberichte und den Einsatz der biografischen Methode kritisch bewerten muss, da Einzelfallaussagen nur eingeschränkt verallgemeinert werden können (vgl. zusammenfassend Thomae & Petermann, 1983), sind die Leistungen dieser Pioniere zu würdigen, welche die moderne Entwicklungs- und Kinderpsychologie eingeleitet haben. In diesem Zusammenhang sind die Beobachtungen des Genfer Kinderpsychologen Jean Piaget (1975) besonders hervorzuheben, der aus dem Entwicklungsverlauf seiner eigenen Kinder wesentliche Beiträge zur Entwicklungspsychologie, aber auch zur kognitiven Psychologie ableitete. Besondere Verdienste um die Entwicklungsdiagnostik kommen dem Kinderarzt Arnold Gesell zu, der an der Yale Clinic of Child Development arbeitete. Gesell (1925, 1928) begann in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts mit einer besonders detaillierten und objektiven Entwicklungsbeschreibung, wobei es ihm auch gelang, Altersnormen für verschiedene Entwicklungsbereiche (z.?B. Motorik, Sprache) zu erstellen.

Eine besonders extreme Form, einen Entwicklungszustand zu beschreiben, stellte die Beobachtung eines Jungen über 24 Stunden dar, die ein dickes Buch füllt (Barker & Wright, 1951). Gerade die 24-Stunden-Beobachtungsmethode inspirierte Bühler und Hetzer (1932) zur Konstruktion ihrer Kleinkindertests, die eine Altersspanne vom ersten Lebensmonat bis zum Ende des 6. Lebensjahrs umfassten. Durch sehr detaillierte Beobachtungen von Kindern wurden von Bühler und Hetzer alterstypische Verhaltensweisen bestimmt, die den Testverfahren zugrunde gelegt wurden. Die Bühler-Hetzer-Kleinkindertests differenzieren dabei nach den folgenden sechs Entwicklungsdimensionen:

• Sinnesrezeption (Stöcke reichen, lauschen, tanzende Kreisel beobachten),
• Körperbeherrschung (frei sitzen, frei gehen, auf einen Stuhl steigen usw.),
• soziales Lernen (organisiertes Spiel mit Ball, Wechselspiel mit der Uhr usw.),
• Lernen (erinnern, zwei von drei versteckten Dingen finden, Silben nachsprechen usw.),