Transnationale Nachhaltigkeitsforschung - Was wir aus den Kontroversen über Umweltflüchtlinge lernen können

von: Marie Mualem Sultan

Campus Verlag, 2015

ISBN: 9783593432601 , 403 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 34,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Transnationale Nachhaltigkeitsforschung - Was wir aus den Kontroversen über Umweltflüchtlinge lernen können


 

1 Gehört das zur Lösung oder zum Problem?
1.1 Widersprüche der Umweltmigrationsforschung
'Dieses Buch richtet sich an die politischen Entscheidungsträger und die Fachöffentlichkeit, um ihnen zu zeigen, dass die Menschen zugleich die Verursacher und die Leidtragenden der Handlungen sind, die zu Umweltzerstörung und Umweltdegradation führen.'
Mit diesen Worten erläutert der Umweltwissenschaftler Essam El-Hinnawi die Stoßrichtung seines Forschungsberichts über 'Umweltflüchtlinge', den das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) im Jahr 1985 veröffentlichte. Diese Publikation gilt als internationaler Auftakt einer breiteren wissenschaftlichen und politischen Auseinandersetzung mit den Zusammenhängen zwischen Umweltwandel und erzwungener Migration, wobei seit der Veröffentlichung des ersten Sachstandsberichts des Weltklimarats (IPCC) im Jahr 1990 immer häufiger auch der Bezug zu einem anthropogenen Klimawandel hergestellt wird. Die transnationalen Forschungskontroversen über umweltbedingte Flucht und Migration sind der Untersuchungsgegenstand dieser Studie; genauer gesagt die wissenschaftlichen Probleme dieser Umweltmigrationsforschung.
Das Eingangszitat eignet sich als Vorlage, um an die Widersprüche heranzuführen, die die vorliegende Studie dazu veranlassten, anders als geplant nicht sozialökologische Fluchtphänomene und Vertreibungen, sondern die wissenschaftliche Beschäftigung damit zu erforschen. Aber die nachstehende Skizze dieser Widersprüche erklärt nicht nur diesen Perspektivenwechsel, sondern sie trägt auch etwas zum Verständnis bei, wieso das im Anschluss zu erläuternde Untersuchungsdesign sowohl empirische als auch theoriebildende Ambitionen umfasst und wieso darin von Forschungsdispositiven und von dem Versuch die Rede sein wird, am Beispiel der Umweltmigrationsforschung ein Modell der 'nichtmodernen' Theorie und Praxis transnationaler Nachhaltigkeitsforschung zu entwickeln, das zu einem anderen Blickwinkel auf die verschiedenen darunter gefassten Forschungsgebiete beitragen soll.
Nach der Veröffentlichung von El-Hinnawis UNEP-Bericht dauerte es noch etwa bis zur UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung im Jahr 1992 in Rio de Janeiro, bis sich die wissenschaftliche Analyse von Umweltvertreibungen und durch Umweltwandel erzwungenen Migrationen als eigener Forschungsschwerpunkt etabliert hatte. Ab der zweiten Hälfte der 1990er Jahre erreicht das Publikationsaufkommen schließlich ein Niveau, das die Rede von einer transnationalen Umweltmigrationsforschung angemessen erscheinen lässt. Seither hat sich das akademische Interesse sowohl an Umweltmigration als auch an der Umweltmigrationsforschung immer weiter vergrößert, und dieser Trend scheint sich bis in die Gegenwart weiter fortzusetzen.
Immer mehr Intellektuelle veröffentlichen Beiträge über Umweltflüchtlinge und Klimamigration und über die wissenschaftlichen Debatten über Umweltflüchtlinge und Klimamigration. Allerdings ging mit diesem im-mensen wissenschaftlichen Interesse kein ebenso immenser Erkenntniszuwachs einher. Der Bestand an Forschungswissen über umweltbedingte Flucht und Migration scheint vielmehr in dem Maße zu schrumpfen, in dem sich die wissenschaftliche Aufmerksamkeit erhöht.
El-Hinnawi gab im Jahr 1985 als Zweck seines UNEP-Berichts an, Wissenschaft und Politik für die sozialökologischen Wechselwirkungen hinter der Umweltflucht interessieren zu wollen, von denen er demnach etwas zu wissen beanspruchte. Heute besteht in der Tat ein großes wissenschaftliches Interesse am Thema, aber der Tenor der State-of-the-Art-Beiträge lautet immer öfter: '?Wir wissen, dass wir nichts wissen?'. Diese eigentümliche Kluft zwischen wachsendem Interesse und schwindendem Wissen resümiert prägnant die nachstehende Darstellung aus dem Jahr 2011:
'Der Klimawandel hat sich zu einer Hauptsorge der internationalen Gemeinschaft entwickelt. Unter den diskutierten Konsequenzen erhält insbesondere die Frage nach den Auswirkungen auf Migration wachsende Aufmerksamkeit von Politikern und Wissenschaftlern. Trotzdem bleibt das Wissen auf diesem Gebiet nach wie vor begrenzt und bruchstückhaft; es besteht Unsicherheit über die beteiligten Mechanismen, die Zahl der betroffenen Menschen und darüber, welche geographischen Zonen bedroht sind'.
Wo die Kernpunkte der internationalen Diskussionen über mögliche soziale Folgelasten des Klimawandels erläutert werden, findet sich sehr häufig der auch in diesem Zitat enthaltene Widerspruch, wonach Klimamigration zugleich ein paradigmatisches Problem der Politik und ein unlösbares Rätsel der Wissenschaft sein soll. Zu erwarten wäre schließlich, dass sich beides bis zu einem gewissen Grad wechselseitig ausschließt.
Auf der einen Seite spricht das große wissenschaftliche Interesse an umweltbedingter Flucht und Migration dafür, dass es die Leidtragenden wirklich gibt, von denen El-Hinnawi bereits Mitte der 1980er Jahre berichtete und die er Umweltflüchtlinge nannte. Dies aber verträgt sich nicht gut mit der Vorstellung, dass das immense wissenschaftliche Publikationsaufkommen über die Betroffenen und ihre Situation bis heute nichts Wesentliches zutage gefördert haben soll.
Es heißt, 'die Forschung über die Beziehung zwischen Umwelt und Migration ist durchsetzt mit Kontroversen'. Wenn also das Wissen über die sozialökologischen Problemlagen hinter Umweltflucht bis heute 'begrenzt und bruchstückhaft' geblieben ist, obwohl es Umweltflucht gibt, dann stellt sich die Frage nach der Aufmerksamkeitslogik der Wissenschaften, und hier deuten sich erste Auffälligkeiten in der Tat bereits in den Reaktionen auf El-Hinnawis UNEP-Bericht an. Dem Eingangszitat nach zu urteilen wollte El-Hinnawi die Verbindung zwischen menschlichem Handeln, Umweltproblemen und menschlichem Leid aufzeigen, was den aktuellen Beschreibungen der Kernanliegen der Umweltmigrationsforschung entspricht. Diese Kontinuität erstaunt, weil El-Hinnawi der Umweltmigrationsforschung im Gedächtnis blieb als jemand, der Umweltprobleme unzulässig von sozialen Zerwürfnissen isolierte. Mitunter heißt es sogar, aus seinem Bericht spreche 'die Überzeugung, dass sich Umweltdegradation - als eine mögliche Ursache von Bevölkerungsvertreibungen - von anderen sozialen, ökonomischen oder politischen Ursachen separieren lässt'.
El-Hinnawis UNEP-Bericht gilt zwar als zeitlicher Anfangspunkt der transnationalen wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Ausmaßen und Erscheinungsformen umweltbedingter Flucht und Migration, aber inhaltlich und konzeptionell wurde und wird sein Bericht 'von der Fachwelt als unsachlich abgelehnt'. Als unverantwortlich galt vielen insbesondere seine Definition der 'Umweltflüchtlinge'. Die Verwendung des Flüchtlingsbegriffs im Zusammenhang mit Umweltproblemen begünstigte nach Auffassung einiger Kritiker die in zeitlicher Nähe einsetzenden Restriktionen der europäischen Migrations- und Asylpolitiken.
Aus der Rückschau ergibt sich aber das Problem, dass bis heute keines der konzeptionellen, definitorischen oder terminologischen Probleme gelöst wurde, durch die sich El-Hinnawi vermeintlich leichtfertig wissenschaftlich disqualifizierte. Sein UNEP-Bericht wurde zwar unter Verweis auf eine unzulässige Definition und Begrifflichkeit vollständig dekonstruiert, doch Konsens in Definitionsfragen bleibt bis heute ein Desiderat der Umweltmigrationsforschung. Auch war und ist die Rede von Umweltflüchtlingen über den gesamten Zeitraum in den Debatten präsent. Mit der Hinwendung zum Klimawandel kam der Begriff der 'Klimaflüchtlinge' neu hinzu.
Das Fehlen einer Definitionsgrundlage erachten die Beteiligten als unangemessen für ein anwendungsorientiertes Forschungsgebiet mit politischer Handlungsrelevanz. Allerdings wird nicht klar, wieso genau die Anwendungsorientierung und politische Relevanz bedeuten, dass sich ein Forschungsgebiet zur Analyse lebenspraktischer Probleme an einer gemeinsamen Arbeitsdefinition orientieren muss. Ferner gerät das erklärte Selbstverständnis als politisch relevantes und außerwissenschaftlich anwendungsorientiertes Forschungsgebiet mit der Beharrlichkeit in Konflikt, mit der Zweifel nicht nur an El-Hinnawis wissenschaftlicher Integrität bis heute auch unter Verweis auf außerwissenschaftliche Kontexte vorgetragen werden. Der Politikwissenschaftler François Gemenne wiederholt im Jahr 2011 über die Berichte von El-Hinnawi und eine zweite in diesem Sinne chronisch verdächtige Studie der Ökonomin Jodi L. Jacobson (1988):
'El-Hinnawis Bericht war eine Auftragsstudie für das Umweltprogramm der Vereinten Nationen, während Jacobson Senior Fellow am Worldwatch Institute war: Die Berichte wurden daher als Versuch wahrgenommen, erzwungene Migration zu benutzen, um die Aufmerksamkeit auf Umweltprobleme zu lenken. Die von ihnen vorgelegten Schätzungen erwiesen sich als hilfreich für entsprechende Bestrebungen.'
Es fällt schwer, für diese Darstellung eine Lesart zu finden, wonach sich die wissenschaftliche Glaubwürdigkeit eines lebenspraktischen Problems an seiner lebenspraktischen Qualität bemisst und nicht an der Glaubwürdigkeit der Institutionen oder Personen, die auf dieses Problem zuerst hinweisen. Mit dem Kriterium der außerwissenschaftlichen Zusammenarbeit bleibt in einem außerwissenschaftlich anwendungsorientierten Forschungsgebiet wie der Umweltmigrationsforschung ferner niemand übrig, der über den Verdacht erkenntnisfremder Motive erhaben wäre. Das betrifft auch das obenstehende Zitat von Gemenne. Es entstammt zwar einem auf den ersten Blick gegen Indizienprozesse abgesicherten Peer Review Journal-Artikel, doch darin kennzeichnet der Autor seinen Artikel unumwunden als das Produkt einer Auftragsstudie für das Foresight-Programm der britischen Regierung.
Solche Unstimmigkeiten und Widersprüche sowie eine dauerhafte Zerrissenheit nach innen wie außen bilden die zu wenig beachteten Alleinstellungsmerkmale der Umweltmigrationsforschung. Nirgendwo zeigt sich dies deutlicher als in Erhebungsfragen. Außerwissenschaftliche Appelle der Umweltmigrationsforschung treten hier in Personalunion mit wissenschaftlichen Warnungen vor der Umweltmigrationsforschung. Die Politik soll handeln, so der Duktus der Beiträge, aber nicht auf der Basis der vorliegenden Erkenntnisse. Im Jahr 2011 schreiben die Politikwissenschaftler Cord Jakobeit und Chris Methmann beispielsweise in einem Beitrag über den Forschungsstand:
'Die Forschung über Umweltflucht oder -migration steckt noch in ihren Anfängen. Und zum jetzigen Zeitpunkt sind die gängigen Schätzungen hunderter Millionen Menschen, die weltweit zu Klimaflüchtlingen werden können, wissenschaftlich nicht fundiert.'
Andererseits veröffentlichten dieselben Autoren im Jahr 2007 einen Beitrag zum Forschungsstand, der den Erhebungen der Umweltmigrationsforschung durchaus eine gewisse Validität und politische Aussagekraft zubilligte. Im Mittelpunkt der Erhebungsfrage standen beide Male die Daten des Umweltanalytikers Norman Myers, der im Jahr 1995 als erster eine international viel beachtete Erhebung vorlegte. Wie im Fall von El-Hinnawis Definition und Konzept der Umweltflüchtlinge zehn Jahre zuvor war das innerwissenschaftliche Echo auch diesmal vernichtend. Dennoch bleibt Myers bis heute die zentrale Referenz der Diskussionen über die weltweiten Ausmaße von Umwelt- und Klimaflucht, wobei konstruktive wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit seinen Erhebungen, die Wege zur Verbesserung aufzeigen, nach wie vor zu fehlen scheinen.