Blaues Gift / Grablichter - Zwei Fälle für Pia Korittki in einem Band

von: Eva Almstädt

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2015

ISBN: 9783732511259 , 632 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 14,99 EUR

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Blaues Gift / Grablichter - Zwei Fälle für Pia Korittki in einem Band


 

1. Kapitel


Keine Unterhose? Bemerkenswert.«

»Die Bewertung dieser Tatsache überlasse ich getrost Ihnen. Es fiel mir nur auf, als ich die Temperatur der Leiche gemessen habe. Ich dachte mir aber schon, dass Sie das interessiert.«

Dr. Enno Kinneberg, der Gerichtsmediziner, stand mit dem Leichenthermometer in der Hand neben Kriminaloberkommissarin Pia Korittki. Sie wusste, er meinte das weder anzüglich noch sonst irgendwie tendenziös. Es war seine spezielle Art, mit der Polizei zu kommunizieren.

»Na und«, meinte Kriminalhauptkommissar Heinz Broders. Er hatte die Bemerkung des Gerichtsmediziners ebenfalls gehört. »Ich habe das damals auch so gemacht: mit 14, als in der Bravo stand, dass die Bay City Rollers es so halten. Das Gefühl war aber nicht so klasse.«

»Deine Gefühle in Ehren, Broders, kannst du dich nicht mal um die Leute da hinten kümmern, die gleich unsere Absperrung niedertrampeln?«, fragte Pia Korittki. Sie hatte beobachtet, wie die Schaulustigen die Hälse reckten und sich unaufhaltsam vorwärtsschoben, wohl um besser beobachten zu können, wie der Gerichtsmediziner seine Arbeit tat.

Der Grund für die ungewöhnliche Betriebsamkeit am Strand von Pelzerhaken war eine Wasserleiche. Sie war vor einer knappen Stunde von drei Wanderern bei einem Ostseespaziergang gesichtet worden. Die Entdeckung eines menschlichen Körpers, der mit dem Gesicht nach unten im Wasser trieb, sich längere Zeit über nicht selbsttätig bewegte, und das bei Wassertemperaturen, die um die neun Grad herum lagen, hatte die drei dazu veranlasst, ihren Fund der Polizei zu melden.

Zuerst war die Schutzpolizei am Strand von Pelzerhaken eingetroffen, um sich davon zu überzeugen, keinem Scherz oder Irrtum zum Opfer gefallen zu sein. Danach hatten sie die Mordkommission der Bezirkskriminalinspektion in Lübeck informiert, ein Spurensicherungsteam angefordert und auch die Wasserschutzpolizei benachrichtigt, die im nahe gelegenen Neustadt über ein Boot verfügte. Das Hafenboot der Polizei, die Habicht, lag jetzt etwa fünf Meter vor dem Strand vor Anker, die Besatzung war mit dem mitgeführten Schlauchboot an Land gekommen.

Die Mitarbeiter der Mordkommission hatten sich inzwischen fast vollzählig am Strand eingefunden. Sie waren alle aus ihren Sonntagnachmittagsbeschäftigungen gerissen worden. Pia Korittki und Heinz Broders, die als Erste zugegen gewesen waren, hatten bereits alle relevanten Fakten vom Fundort der Leiche notiert und auch skizziert. Alles Weitere in dieser Richtung war Aufgabe der Kriminaltechniker.

Pia Korittki klappte ihr Notizbuch zu und verstaute es zum Schutz gegen die Feuchtigkeit in ihrer Tasche. Sie sah sich um.

Feiner Sprühregen hüllte alles in grauen Dunst. Die Luft war so kalt, als wäre es noch März und nicht Mitte Mai. Die unvermeidlichen Schaulustigen standen jetzt, nachdem Broders sie zurechtgewiesen hatte, duldsam im feuchten Wind wie eine Schar Kühe auf der Weide. Mit beunruhigender Intensität starrten sie auf das Schauspiel, das eine angetriebene Wasserleiche und ein Tatortteam der Polizei ihnen bieten konnte. Sie warteten darauf, dass noch irgendetwas Dramatisches passierte.

Bisher war nur zu sehen gewesen, wie der Tote mit einem Leichensegel aus der Ostsee geborgen worden war. Die Wasserschutzpolizei hatte es für solche Zwecke an Bord, um bei der heiklen Arbeit an einer Wasserleiche diese nicht grob berühren zu müssen.

Aus der Entfernung sah der Tote wie ein beliebiges dunkles Bündel aus, das das Meer ausgespuckt hatte. Treibgut. Pia Korittki, die durch ihre Tatortarbeit in unmittelbare Nähe der Leiche gelangt war, hatte sich den Mann jedoch genauer angesehen: Er war mittelgroß, normalgewichtig und bis auf die fehlende Unterhose gut und teuer gekleidet. Für die Temperaturen vielleicht etwas zu sommerlich, denn er trug nur ein Sporthemd über seiner Markenjeans, keine wettertaugliche Jacke. Seine Füße waren nackt, aber das besagte nicht viel, denn Schuhe konnten leicht von der Strömung im Wasser fortgerissen worden sein. Aber die fehlende Unterhose?

Der Tote mochte so Mitte 40 sein, leicht gebräunt und mit sich am Hinterkopf lichtendem blondem Haar. Er konnte noch nicht allzu lange im Wasser gelegen haben, denn seine Gesichtszüge waren noch gut zu erkennen. An den Händen und Füßen zeigte die Leiche die typischen Schrumpfungserscheinungen in weißgrauer Färbung.

Die Kriminaltechniker neben ihr debattierten gerade, wer von ihnen in das kippelige Schlauchboot steigen durfte, um eventuell vorhandene Spuren an der Buhne zu sichern. Die drei Wanderer, die den Toten als Erste entdeckt hatten, waren inzwischen zu einer Befragung hoch zum Parkplatz geführt worden, wo ihre Aussagen in einem der Polizeibusse aufgenommen wurden.

Horst-Egon Gabler, der Leiter der Mordkommission und Pias direkter Vorgesetzter, traf als einer der Letzten am Strand ein. Mit auf dem Rücken verschränkten Händen und gesenktem Blick, um nicht vom vorgegebenen Trampelpfad abzuweichen, schritt er auf den Fundort der Leiche zu. Es ist fast so, als ob wir alle immer wieder die gleiche Filmszene aufführen, dachte Pia bei seinem Anblick, nur die Szenenbilder wechseln.

Inzwischen hatte auch der Gerichtsmediziner seine erste Untersuchung abgeschlossen. Er trat aus der Absperrung heraus und kam auf Pia Korittki und Horst-Egon Gabler zu. Dabei machte er ein für seine Verhältnisse recht zufriedenes Gesicht.

Pia kannte Enno Kinneberg schon von früheren Fällen her. Man vergaß ihn nicht so schnell, wenn man ihn einmal in Aktion erlebt hatte. Außerdem hätte sie schwören mögen, dass er wieder in demselben Aufzug erschienen war wie damals in Grevendorf, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Die schwarze Baskenmütze saß fest auf seinem fast kahlen Schädel, und seine spitze Nase zuckte, als er die Untersuchungsinstrumente wieder in seiner Arzttasche verstaute.

»Noch nicht lange tot, wie es aussieht«, bemerkte er gleichmütig. »Bei den herrschenden Wasser- und Lufttemperaturen kühlt ein Körper schnell aus. Dadurch verlangsamt sich der Eintritt der Leichenstarre … Sie wollen natürlich mal wieder eine genaue Todeszeitbestimmung, aber die unbekannte Verweildauer des Toten im Wasser erschwert die Interpretation der Totenflecken. Trotzdem denke ich, dass der Mann noch nicht viel länger als 72 Stunden tot ist. Eher 48 würde ich schätzen, aber das ist nur eine erste Vermutung.«

»Ist die Todesursache Ertrinken?«, wollte Kriminalrat Gabler wissen. Er trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Seine schicken Schuhe mit den dünnen Ledersohlen waren sicher nicht für Strandausflüge im Regen gemacht.

»Das kann man erst bei der Sektion zweifelsfrei feststellen. Ich habe bei der äußeren Besichtigung der Leiche keinerlei Spuren von Gewaltanwendung feststellen können. Der Tote hatte keinen Schaumpilz vor dem Mund, wie er bei Ertrinkenden manchmal zu beobachten ist, auch keine punktförmigen Blutungen in der Bindehaut. Aber das Fehlen dieser Merkmale schließt einen Tod durch Ertrinken noch nicht sicher aus. Der Tote hat Schlamm- und Sandablagerungen in der Mundhöhle. Sie müssen das Ergebnis der inneren Leichenschau abwarten.«

Horst-Egon Gabler wechselte einen bedeutsamen Blick mit einem Kollegen von der Wasserschutzpolizei, der sich in seinem Windschatten aufhielt. »Was kommt denn Ihrer Meinung nach sonst noch als Todesursache in Frage?«

»Ein Herzinfarkt zum Beispiel. Oder wir haben es hier mit dem so genannten Badetod zu tun. Das ist ein Reflextod, der eintreten kann, wenn zum Beispiel kaltes Wasser in den Kehlkopf eindringt.«

»Wann wissen wir Genaueres?«

»Wenn ich heute noch ein Team zusammentrommeln kann, haben Sie zu den Spätnachrichten erste Ergebnisse vorliegen«, antwortete Kinneberg.

Gabler nickte. Aus Erfahrung wusste er, dass es zwecklos war, Kinneberg zu irgendetwas zu drängen. Die Umstehenden beobachteten fasziniert, wie sich der Gerichtsmediziner der bestehenden Wetterverhältnisse zum Trotz mit großem Geschick einen Zigarillo anzündete. Der ausgeblasene Rauch wurde von den Windböen sofort davongetragen.

»Mein einziges Laster«, bemerkte Kinneberg lakonisch, als er registrierte, dass man ihn beobachtete. »Bier, Schnaps und Frauen habe ich schon aufgegeben.« Er rauchte nur wenige Züge und drückte die Glut am Absatz seines Schuhs wieder aus. Den halb aufgerauchten Stummel verstaute er in der Schachtel. Eine Leiche, ein Zigarillo, dachte Pia, der das alles makaber und gleichzeitig vertraut vorkam. Aus den Augenwinkeln heraus sah sie, dass der Leiter, Horst-Egon Gabler, und der Kollege von der Wasserschutzpolizei einander erneut ansahen. Da war etwas im Busch.

»Ich tippe, wir sind umsonst hierher gekommen«, raunte Heidmüller ihr zu und unterbrach so ihre Überlegungen. Oswald Heidmüller war ebenfalls einer von Pias Kollegen im Kommissariat 1 und seit ein paar Monaten auch Pias Zimmerkollege.

»Sieht mir mehr nach einem Unfall aus. Der Typ ist wahrscheinlich ins Wasser gefallen und ertrunken. Wäre ja nicht das erste Mal, dass so etwas vorkommt.«

»Zieh lieber keine voreiligen Schlüsse.« Der neue Fall weckte auf eine ganz besondere Art und Weise Pias Interesse. Fast bedauerte sie, dass sie ab Anfang der nächsten Woche Urlaub eingereicht hatte. Eigentlich waren die freien Tage dazu gedacht, ihre Wohnung neu zu streichen. Je näher der Termin jedoch rückte, desto weniger Lust verspürte sie, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen. Und das Wetter in Schleswig-Holstein sah bisher auch nicht gerade nach Urlaub aus. Als Pia heute Nachmittag der Anruf erreicht...