Schlachtvieh / Kalte Zeiten

von: Christian Geissler

Verbrecher Verlag, 2014

ISBN: 9783957320919 , 260 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 16,99 EUR

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Schlachtvieh / Kalte Zeiten


 

Fahrgastraum


HARTMANN Hier im Zug sind ein paar kleine, unübersichtliche Dinge passiert. Uns allen ist nicht recht wohl bei der Sache. Aber: Dürfen wir deshalb schon eingreifen?

HANSEN Schon?

HUBER Ein bisschen mehr Vertrauen bitte.

HARTMANN Richtig. Alles andere ist allzu bald Anmaßung. Ich darf Sie zum Beispiel an das Mädchen erinnern …

HUBER Verhetzt natürlich. Unter günstigen Bedingungen fügt sich jeder normale Mensch.

HANSEN Und was sind »günstige Bedingungen«?

HUBER Ordnung, Sicherheit, Vergnügen im privaten Raum – vor allem das – und das Gleiche draußen am Arbeitsplatz.

HANSEN Wie machen Sie »Vergnügen am Arbeitsplatz«?

HUBER Meine Güte, uralte Sachen. Bunte Kittel, bunte Wände, kleine innerbetriebliche Wettkämpfe mit Abstimmung und Preisverteilung, hier ein kleiner Quizabend, da mal ein Betriebsausflug, für den Ehrgeizigen kleine Abendkurse über Jazz, Foto, sonst was – alles in allem schrecklich einfache Dinge. Ein bisschen Menschlichkeit und Pipapo, und schon strengt man sich wieder an, bleibt munter, ist beschäftigt, ist zufrieden. Im Grunde ist es völlig wurscht, was Sie machen – es klappt immer. Natürlich muss man den einfachen Mann überhaupt erst einmal ernst nehmen!

HARTMANN Eben! Und wenn Sie mir mal ein Wort von meinem Standpunkt aus erlauben, vom Theologischen her: Gott liebt den einfachen Menschen. Das geht durch die gesamte Heilsgeschichte.

HANSEN Solange einer schläft und er träumt herrliche heile Sachen – alles okay. Aber irgendwann wird’s ja auch mal hell. Hat er bei Nacht gelernt, was am Tage dran ist?

HUBER Was am Tage dran ist – das zu wissen, sind erfahrungsgemäß immer nur wenige befugt.

HANSEN Und wer fügt so was? Der Chef? Wer ist das zum Beispiel in unserem Fall?

HARTMANN Ihre Nachdenklichkeit in Ehren, aber wir sind jedenfalls nicht befugt, über die Vorgänge in diesem Zug zu befinden. Wo kämen wir hin, wenn jeder x-beliebige …

HUBER Viel einfacher: Wir haben bezahlt, wir haben einen Platz gekauft, und damit geht die Verantwortung an den Lieferanten unserer Plätze, an die Bahndirektion. Der Zugführer ist von unserem Fahrgeld gekauft. Da wären wir ja schwachsinnig, wenn wir ihm nicht seine Arbeit überließen. Sonst noch was?

HANSEN Man wird neugierig. Das Mädchen eben …

HARTMANN Haben Sie ihren Blick beobachtet? Sie kann einen nicht gerade ansehen. Achten Sie mal darauf …

HERR VON AASENSTEIN Ich wollte eben in den Waschraum – aber man hat von hinten ein Fenster eingeschlagen – und auf den Spiegel hat man ein Zeichen geschrieben, mit einer Faust.

HARTMANN Von hinten? Wieso denn? Was soll denn das?

HUBER ganz Tatmensch, steht auf Nachsehen. Ich hole den Schaffner.

Er geht eilig hinaus. In der gegenüberliegenden Tür erscheinen das Schreibabteilmädchen und Fuchs. Nach kurzer Zeit kommt Huber mit dem Schaffner zurück. Die beiden durchqueren, ohne ein Wort zu sagen, den Fahrgastraum und gehen auf der anderen Seite, an dem Mädchen und an Fuchs vorbei, wieder ­hinaus. Nach einer neuen kurzen Pause kommen sie von dort ­zurück.

SCHAFFNER Das Fenster ist kaputt, und jemand hat was auf den Spiegel gemalt.

HANSEN Das »Zeichen« ist ein kleines Mondgesicht – und der Mond hat eine kleine Faust – eine Lippenstiftfaust übrigens.

HUBER mit Würde Nein, also bitte, hier hört der Witz denn doch auf!

ENGEL In der Tat. Denn wo gibt es heute noch Leute bei uns, die eine Faust machen.

HARTMANN Es kommt darauf an, wer die Faust macht.

SCHREIBABTEILMÄDCHEN Gefällt Ihnen das Mondgesicht nicht, Hochwürden?

HARTMANN als hätte er sie ertappt Na also!

SCHAFFNER zum Schreibabteilmädchen Was ist mit dem Fenster?

SCHREIBABTEILMÄDCHEN Ich habe auf den Spiegel gemalt, nicht aufs Fenster.

HANSEN Ich habe die Scheibe eingeschlagen, nicht sie.

HARTMANN Sie?

HANSEN Tut mir leid. Ich wollte wissen, was los ist. Es ist nichts. Ich habe mich getäuscht. Baut sich vor dem Schaffner auf Bitte, nehmen Sie meine Personalien auf.

HARTMANN stellt sich zu Hansen und legt ihm beide Hände auf die Schultern Und wir fangen schon an, uns aufzuregen. Junge! Soldat! Wer wird denn gleich …  Zum Schaffner Das hat Zeit.  Zu allen Ich denke, wir verbürgen uns für diesen Mann.

Er zieht ihn lächelnd wieder auf den Sitz zurück.

ENGEL Aber Hochwürden! Kann man denn für einen Mann bürgen, der wissen möchte, was los ist?

HANSEN zum Schaffner Ich fahre bis zum Zielbahnhof mit. Ich komme dann zu Ihnen.

Der Schaffner steckt sein Notizbuch wieder weg und geht hinaus.

FRAU VON AASENSTEIN Irgendwie ist das alles unheimlich.

HARTMANN mit Bezug auf Frau von Aasenstein zum Schreibabteilmädchen Da haben Sie’s! Aber reden wir doch mal darüber. ­Setzen Sie sich, in Ihrem Abteil können Sie ohne Telefon ja sowie­so nicht viel anrichten – pardon, ausrichten.

HUBER Was ist mit dem Telefon?

FUCHS unsicher Kaputt. Blockiert.

ENGEL in das Schweigen, tantenhaft Ei-ei-ei.

HARTMANN zum Schreibabteilmädchen Also bitte, setzen wir uns doch. Rauchen Sie? – Hören Sie. Sie haben uns vorhin auf diese komische Lautsprecherei aufmerksam gemacht. Warum? War das für irgendjemanden hier bestimmt?

SCHREIBABTEILMÄDCHEN Aber für wen?

HARTMANN Wir müssen nicht alles wissen.

SCHREIBABTEILMÄDCHEN Nur das, was grad dran ist.

FUCHS Mädchen! Wenn ich im Studio jede technische Störung ­sofort auf ihr Woher und Wohin prüfen wollte! Auch in der Technik ist nicht alles vollkommen.

HARTMANN zu Fuchs Danke! An alle Der Glaube an die Perfektion der Technik grenzt bei manchen Menschen an Aberwitz! Mit ­Genuss Auch die Wissenschaft hat nun mal ihre Grenzen.

ENGEL wieder »Tante« Gottlob!

SCHREIBABTEILMÄDCHEN Ich habe nichts gegen technische Störungen. Ich will nur wissen, ob’s eine ist oder nicht.

HARTMANN Warum?

SCHREIBABTEILMÄDCHEN Warum nicht?

FUCHS Was wollen Sie eigentlich?

SCHREIBABTEILMÄDCHEN Sie wollen Ihre Ruhe, klar.

HARTMANN Und Sie Unruhe. Sie müssen sich einmal vorstellen, wie gefährlich das ist.

SCHREIBABTEILMÄDCHEN Für wen? – Außerdem: Meine Ohren haben was gehört, und mein Kopf will wissen, was.

ENGEL pastoral Aber selig sind, die nichts wissen und doch alles glauben.

HARTMANN dreht sich, etwas böse, zu Engel um Das war unter Niveau.

ENGEL Gewiss, Hochwürden – aber unter meinem.

Engel zwinkert dem Mädchen zu. Das zwinkert aber nicht zurück. Es mustert Hartmann, lange. Dann setzt es sich Hartmann gegenüber auf die Sitzbank.

SCHREIBABTEILMÄDCHEN Darf ich mal was fragen.

HARTMANN Bitte, wir wollen ja miteinander reden.

SCHREIBABTEILMÄDCHEN Glauben sie an Gott?

HARTMANN Ja.

SCHREIBABTEILMÄDCHEN Ist Gott lebendig?

HARTMANN Ja.

SCHREIBABTEILMÄDCHEN Kann man Gott töten?

HARTMANN Nein.

SCHREIBABTEILMÄDCHEN Dann ist er anders lebendig, als wir lebendig sind.

HARTMANN Auch wir werden eines Tages die Lebendigkeit Gottes haben.

SCHREIBABTEILMÄDCHEN Wann?

HARTMANNNach dem Tode.

SCHREIBABTEILMÄDCHENWeil Sie das glauben, haben Sie keine Angst.

HARTMANN Vielleicht.

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