Die Betrogene - Kriminalroman

von: Charlotte Link

Blanvalet, 2015

ISBN: 9783641132477 , 640 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 10,99 EUR

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Die Betrogene - Kriminalroman


 

SAMSTAG, 22. FEBRUAR 2014

Es hätte eine gute Chance gegeben, mit heiler Haut davonzukommen.

Richard Linvilles Schlafzimmer befand sich unter dem Dach des Hauses, es verfügte über eine abschließbare Tür und über einen Telefonanschluss. Als er in den frühen Morgenstunden dieser kalten und nebligen Februarnacht aus dem Schlaf schreckte und sicher war, ein Geräusch gehört zu haben, das er nicht einordnen konnte, das aber verdächtig wie das Splittern einer Glasscheibe klang, hätte er mit einem Sprung aus dem Bett und bei der Tür sein, diese verschließen und sodann die Polizei anrufen können.

Aber er war nicht der Mann, der sofort um Hilfe rief, nur weil er etwas Seltsames in der Nacht wahrgenommen hatte, was genauso gut eine Täuschung sein konnte. Vor seiner Pensionierung war er Detective Chief Inspector bei der North Yorkshire Police gewesen, und er ließ sich nicht so leicht einschüchtern.

Befremdlichen Dingen ging er zunächst einmal selbst auf den Grund.

Lautlos und zudem für sein Alter erstaunlich leichtfüßig, schwang er sich aus dem Bett, tastete im Dunkeln nach der obersten Schublade seines Nachttisches, zog sie auf und nahm die Pistole heraus, die ganz hinten unter einem Stapel Stofftaschentücher lag. Im Dienst hatte er keine Waffe getragen, aber als ehemaliger Kriminalbeamter wusste er, dass er auch im Ruhestand eine gewisse Gefährdung seiner Person nicht ausschließen konnte. Er hatte zu viele Menschen gejagt, geschnappt und vor den Richter gebracht, und natürlich hatte er Feinde. Mancher hatte seinetwegen jahrelang hinter Gittern gesessen. Er hatte sich eine Pistole angeschafft, und es war eine reine Vorsichtsmaßnahme, dass er nachts nicht schlafen wollte, ohne sie in griffbereiter Nähe zu haben.

Er schlich aus dem Zimmer, blieb auf dem Treppenabsatz stehen und lauschte nach unten. Nichts war zu hören außer dem leisen Blubbern des Wassers in den Heizungsrohren. Kein ungewöhnliches Knarren oder Quietschen, nichts mehr, was auf gesplittertes Glas hindeutete. Wahrscheinlich hatte er sich geirrt, oder er hatte geträumt. Wie gut, dass er sich nicht lächerlich gemacht und nach den Kollegen von einst gerufen hatte.

Dennoch, bevor er ins Bett zurückkehrte, wollte er sich vergewissern.

Geschmeidig und ohne ein Geräusch zu verursachen, bewegte er sich die Treppe hinunter. Er würde im März einundsiebzig Jahre alt werden, und er war stolz darauf, dass sein Körper noch kaum Alterserscheinungen zeigte. Er führte das darauf zurück, dass er immer viel Sport getrieben hatte, auch heute noch jeden Tag bei Wind und Wetter große Strecken lief und seine nicht allzu gesunden Ernährungsvorlieben zumindest mit dem völligen Verzicht auf Zigaretten und dem weitgehenden Verzicht auf Alkohol kompensierte. Die meisten Menschen, die ihn trafen, hielten ihn für jünger, als er war, und bei vielen Frauen hätte er noch immer gute Chancen gehabt. Ihm lag bloß nichts daran. Brenda, die Frau, mit der er einundvierzig Jahre lang verheiratet gewesen war, war drei Jahre zuvor nach endlosen Kämpfen an Krebs gestorben.

Er war unten angekommen. Rechts von ihm befand sich die Haustür, die er wie jeden Abend sorgfältig verschlossen hatte. Vor ihm lag das Wohnzimmer, dessen Erkerfenster nach vorne zur Straße hinausging. Richard spähte hinein. Alles still, dunkel, leer. Die Vorhänge waren nicht zugezogen. Nächte sind nie ganz schwarz, und für gewöhnlich konnte man auch nachts die Kirche von Scalby sehen, die sich am Ende der Straße auf einem baumbestandenen Hügel erhob. Heute jedoch war der Nebel zu dicht. Er lag wie ein Berg aus dicker Watte über den Straßen und verhinderte sogar den Blick auf das gegenüberliegende Haus. Einen kurzen Moment lang hatte Richard den gespenstischen Eindruck, ganz alleine und von allem und jedem verlassen auf der Welt zu sein. Aber dann rief er sich zur Ordnung: Blödsinn. Alles war wie immer. Es lag nur am Nebel.

Gerade als er sich umwandte, vernahm er erneut ein Geräusch. Es klang wie ein leises Knirschen und war ganz und gar nicht in die üblichen Geräusche des nächtlichen Hauses einzuordnen. Es schien aus der Küche zu kommen und hörte sich an, als sei jemand auf Glassplitter getreten. Was zu dem Klirren von Glas passen würde, das irgendwie in Richards Schlaf gedrungen war.

Er entsicherte seine Waffe und bewegte sich den Flur entlang auf die Küchentür zu. Ihm war klar, dass er im Begriff stand, genau das zu tun, wovon die Polizei den Menschen dringend abriet, wovon auch er selbst immer wieder abgeraten hatte: Wenn Sie glauben, dass Einbrecher in Ihrem Haus sind, dann versuchen Sie bloß nicht, auf eigene Faust zu handeln. Bringen Sie sich in Sicherheit, indem Sie entweder das Haus verlassen oder sich irgendwo einschließen, und rufen Sie dann telefonisch Hilfe herbei. Verhalten Sie sich dabei so leise und unauffällig wie möglich. Den Tätern sollte nicht klar werden, dass sie bemerkt worden sind.

Aber das galt natürlich nicht für ihn. Er war die Polizei, auch wenn er nicht mehr im Berufsleben stand. Außerdem hatte er eine Waffe und konnte ausgezeichnet damit umgehen. Das unterschied ihn von den meisten anderen Bürgern.

Er hatte die Küchentür erreicht. Sie war geschlossen, das war sie in Winternächten immer. Die Tür, die von der Küche in den Garten führte, war alt und ließ viel zu viel Kälte hinein, die dann wenigstens nicht in den Rest des Hauses dringen sollte. Richard wusste, dass sie längst ausgetauscht gehörte. Schon Brenda hatte deswegen oft gejammert. Wegen der Kälte – aber auch wegen des Sicherheitsrisikos. Im Unterschied zu der sehr stabilen Haustür war diese Gartentür ziemlich leicht zu knacken.

Er lauschte. Er hielt die Pistole schussbereit. Er konnte seinen eigenen Atem hören.

Sonst nichts.

Aber da war etwas. Da war jemand. Er wusste es. Er wäre als Polizist nicht so erfolgreich gewesen, hätte er nicht im Laufe der Jahre dieses untrügliche Gespür für drohende Gefahren entwickelt.

Jemand war in der Küche.

Spätestens jetzt hätte er sich um Hilfe bemühen müssen. Denn er hatte keine Ahnung, um wie viele Personen es sich bei den Einbrechern handelte. Womöglich stand er einem einzigen Mann gegenüber. Vielleicht hatte er es aber mit zwei oder drei Leuten zu tun, und dann würde ihm selbst sein Vorteil, bewaffnet zu sein, sehr schnell nichts mehr nützen. Er hätte später nicht zu sagen gewusst, weshalb er alle Vorschriften in den Wind schlug und sich einem unkalkulierbaren Risiko aussetzte. Altersstarrsinn? Selbstüberschätzung? Oder wollte er sich irgendetwas beweisen?

Tatsächlich sollte ihm nicht mehr allzu viel Zeit bleiben, diese Frage zu klären.

Beides geschah nun absolut zeitgleich: Er wollte vorsichtig die Klinke der Küchentür hinunterdrücken. Und im selben Moment spürte er unmittelbar neben sich, aus dem in tiefer Dunkelheit liegenden Esszimmer heraus, eine Bewegung und dann einen so heftigen Schlag auf den Arm, dass er einen Schmerzenslaut ausstieß. Verzweifelt versuchte er noch, seine Pistole festzuhalten, aber der Schlag hatte einen Nerv getroffen, auf eine Art, dass sekundenlang alle Muskeln gelähmt waren. Die Waffe fiel zu Boden und rutschte scheppernd in das Esszimmer hinein. Richard machte eine Bewegung zur Seite, wollte hinterher, obwohl er wusste, wie zwecklos dieses Ansinnen war: Sein Feind befand sich ja genau dort, im Esszimmer, und ihm ging auf, dass sein allergrößter Fehler während der letzten Minuten darin bestanden hatte, es als gegeben anzunehmen, dass der oder die Einbrecher durch die Küche ins Haus eingedrungen waren – weil sich dort die unsicherste Stelle befand. Aber auch das Esszimmer hatte eine Tür, die zum Garten hinausführte, und offensichtlich hatte man dort die Scheibe eingeschlagen. Richard hatte während seiner Dienstjahre viele junge Polizisten ausgebildet, und das erste Credo, das er ihnen vermittelte, hatte stets gelautet: Nehmt nichts jemals als gegeben hin. Alles muss überprüft werden, jede nur denkbare Option. Euer Leben und das anderer Menschen können davon abhängen.

Er konnte es nicht fassen, dass er in dieser Nacht gegen nahezu jeden seiner Grundsätze verstoßen hatte.

Dann ließ ihn auch schon ein kräftiger Schlag in den Magen in den Knien einknicken, und gleich darauf krachte eine Faust gegen seine Schläfe. Ihm wurde schwarz vor Augen, nur einen Moment lang, aber das reichte, um ihn zu Boden kippen zu lassen. Er verlor nicht die Besinnung, obwohl sich die Welt plötzlich rasant drehte und ein Schwindelgefühl in auf- und abschwellenden Wellen über ihn hinweglief. Er versuchte, auf die Beine zu kommen, aber ein Tritt in seine Rippen ließ ihn auf den Boden fallen. Gleich darauf fühlte er sich von kräftigen Händen gepackt und nach oben gezogen.

Dieser Gegner war sehr stark. Und sehr entschlossen.

Die Küchentür wurde aufgestoßen, das Licht eingeschaltet und Richard in die Küche geschoben. Mit der einen Hand hielt ihn der Einbrecher fest, mit der anderen zog er einen Stuhl unter dem Tisch hervor, stellte ihn in die Mitte des Raums. Richard blinzelte geblendet. Im nächsten Moment schon saß er auf dem Stuhl, noch immer um Atem ringend, denn vor allem der letzte Tritt in seine Rippen hatte ihm vorübergehend die Luft genommen. Er spürte, dass sein linkes Auge zuschwoll und dass eine klebrige Flüssigkeit, vermutlich Blut, aus seiner Nase floss. Er konnte so schnell kaum denken, wie die Dinge mit ihm geschahen, geschweige denn, dass er irgendetwas zu seiner Verteidigung hätte unternehmen können.

Seine Arme wurden grob hinter die Stuhllehne gezerrt, seine Handgelenke gefesselt. So brutal und so eng, dass sie sich fast...