Waidwund (eBook)

von: Max Stadler

ars vivendi, 2014

ISBN: 9783869134840 , 392 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 14,99 EUR

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Waidwund (eBook)


 

 

1

Er setzte sich auf das Bett. Ein paar Krümel lagen auf dem Laken, ein Eck des Kopfkissens hatte einen Fleck. Er blickte zur Wand. Die Bilder und Fotos, die dort gehangen hatten, waren weg. Auf dem Nachttisch das Buch. Aufgeschlagen in der Mitte, wo die Worte standen, mit dickem Filzstift geschrieben: ICH WILL MORGEN NICHT MEHR AUFWACHEN. Er hob die Bettdecke an. Darunter lagen ein Bonbonpapier und eine Socke. Er nahm die Socke. Sie war blau mit zwei schwarzen Streifen. Er drückte sie an den Mund und atmete hindurch. Vom Staub und dem Fußgeruch wurde ihm schwindlig. Fast übel. Aber es war ein merkwürdig angenehmes Gefühl.

Er saß da. Während er so dasaß, ging draußen vor dem Fenster die Sonne unter, und es wurde Nacht.

Es war noch nicht so wahnsinnig lange her, da hatte er jeden Abend auf dieser Bettkante gesessen. »Papa, erzähl die Geschichte von der Prinzessin, die nicht weiß, dass sie eine Prinzessin ist, bitte!« Das war ihre gemeinsame Geschichte. Jeden Abend erfand er ein neues Kapitel im Leben der Prinzessin und spann den Faden weiter.

Er atmete durch die Socke.

 

Die Geschichte handelte von Prinzessin Alexandra, die nicht ahnt, dass sie eine Prinzessin ist, weil ihr Vater, König Karl, sie als Kind weggegeben hat, damit sie in einem anderen Land aufwächst, ohne Diener, ohne Luxus, bis sie irgendwann reif genug ist, um ihre wahre Herkunft zu erfahren. Auf diese Weise soll das Mädchen ein reines Herz und reine Gefühle entwickeln. Der Mann, bei dem König Karl seine Tochter unterbringt, ist ein ehemaliger Gärtner namens Solomir, der einst bei ihm auf dem Schloss gearbeitet hat, bevor er sich in einem Land im Süden zur Ruhe setzte. Er freut sich sehr, dass der König ihm seine Tochter anvertraut, und verspricht seinem ehemaligen Herrscher, sein Bestes zu geben, damit Alexandra ein guter Mensch wird.

Nun hat aber Solomir vor Kurzem eine neue Frau geheiratet, nachdem seine geliebte Gattin an einer schweren Krankheit verstorben ist. Diese Stiefmutter hat ein böses Herz. Weil sie selbst keine Kinder bekommen kann, will sie das Mädchen für sich allein behalten. Deshalb bittet sie einen alten Magier im Dorf, König Karl und ihren Mann Solomir zu verhexen, damit sie vergessen, wer Alexandra ist.

So kommt es, dass Vater und Tochter über Jahre hinweg weit voneinander entfernt leben und nichts voneinander wissen. Der Vater ist in seinem Herzen sehr traurig, ohne zu ahnen, was der Grund dafür ist. Also stürzt er sich in den Krieg mit anderen Völkern im Norden. Es ist eine grausame Zeit.

 

»Wie sehr traurig ist denn der König?«, hatte sie hier einmal dazwischengefragt.

Er hatte kurz nachgedacht.

»Sehr, sehr traurig. Und das Traurigsein kommt aus seinem Bauch, nachts tut ihm der Bauch so weh, dass er gar nicht schlafen kann und glaubt, es zerreißt ihn.«

 

Im Süden wächst Prinzessin Alexandra zu einer jungen Frau heran. Im Haus der Stiefmutter muss sie putzen, Wäsche waschen, bügeln, kochen und darf kaum aus dem Haus. Nur nach dem Mittagessen bietet sich die Gelegenheit, dem Gefängnis zu entfliehen, denn dann hält die Stiefmutter ihren Mittagsschlaf.

Der gute Gärtner Solomir hat einen Hund. Dieser Hund hat ein Geheimnis. Er kann nämlich sprechen und die Gedanken aller Menschen lesen. Er ist der Einzige, der das böse Spiel von Solomirs Frau durchschaut. Leider sind ihm die Pfoten gebunden, weil der alte Magier einen Fluch über ihn geworfen hat; wenn der Hund zu einem Menschen spricht, verwandelt er sich in einen Regenwurm.

Eines Tages vergisst Prinzessin Alexandra die Zeit und entfernt sich zu weit.

Irgendwann blickt sie zur Sonne und sieht, dass sie es nicht rechtzeitig zurück zum Haus schaffen wird. Verzweifelt ruft sie: »Was soll ich nur tun? Mutter wird mich ganz sicher einsperren und nie wieder einen Spaziergang machen lassen!«

Beim Anblick des weinenden Mädchens zerreißt es dem gutmütigen alten Hund fast das Herz. Er hat so lange geschwiegen, aber jetzt ist der Augenblick gekommen, in dem er die Wahrheit aussprechen muss.

Er sagt: »Liebe Alexandra, erschrick nicht, aber du bist in Wirklichkeit eine Prinzessin, und die Frau, die du für deine Mutter hältst, ist gar nicht deine Mutter, sondern nur eine böse Stiefmutter, die deinen Vater und ihren Mann, den Gärtner Solomir, verhexen ließ. Eigentlich kommst du aus einem fernen Land im Norden, das jenseits eines breiten Meeres liegt, wo blaue Fjorde ins Landesinnere reichen, die Einwohner eine holprig singende Sprache sprechen und viele Elche und Bären leben.«

Kaum hat der Hund diese Worte ausgesprochen, schrumpft sein Körper, und er wird zu einem Regenwurm. Schon will sich ein Vogel vom Himmel herab auf ihn stürzen, aber Prinzessin Alexandra hebt ihn rasch auf und steckt ihn in ein kleines Kästchen, das sie immer bei sich trägt. Sie stopft ein wenig Erde hinzu, damit der Regenwurm etwas zu fressen hat und nicht verhungert. Dann macht sie sich auf den Weg.

Sie kehrt nicht mehr zum Haus ihrer Stiefmutter zurück, sondern geht am Flussufer entlang, bis sie zu einer Brücke ­gelangt. Dort steht ein Wachposten. Er verlangt von jedem Reisenden, der auf die andere Seite möchte, drei Goldtaler.

Prinzessin Alexandra hat keine Goldtaler. Sie wartet, bis der Wachposten in sein Häuschen geht, und läuft los. Leider warten am anderen Ende noch zwei Wachposten. Ein junger und ein alter.

Der Alte packt Prinzessin Alexandra hart am Arm.

»Du kommst jetzt ins Gefängnis!«, sagt er barsch. »Wer zum anderen Ufer will, muss drei Goldtaler zahlen, so ist das Gesetz. Wer das nicht tut, muss dafür büßen!«

Er zerrt sie in einen kleinen Turm, der als Gefängnis dient.

»So! Hier wird dir der Übermut schon vergehen!« Mit diesen Worten dreht er sich um, und die Tür fällt krachend ins Schloss.

Prinzessin Alexandra sinkt zu Boden. Sehr weit ist sie nicht gekommen. Wenn ihre Stiefmutter erfährt, dass sie hier im Gefängnis sitzt, wird ihre Flucht nach nur wenigen Stunden beendet sein. Eine Träne rinnt über ihre Wange und tropft auf das kleine Kästchen. Sie öffnet es und sieht den Regenwurm, der aus seinem Erdhaufen hervorlugt. Mit einem Mal hat sie das Gefühl, dass er mit ihr spricht: Verliere den Mut nicht, scheint er zu sagen. Warte ab. Also beruhigt sie sich.

Plötzlich schreckt sie hoch. Ein Schlüssel dreht sich im Schloss. Prinzessin Alexandra kauert sich zusammen. Wer ist das? Kommt die Stiefmutter schon, um sie zu holen?

Da öffnet sich die Tür einen Spalt, und der Kopf des jungen Wachpostens taucht auf. Er winkt sie zu sich.

»Komm, schnell!«

Zögernd erhebt sie sich und geht zu ihm. Dabei bemerkt sie, dass er sich ständig umblickt. Als sie an der Tür ist, packt er sie bei der Hand und zieht sie nach draußen.

Er läuft auf einen kleinen Stall zu, der ein paar Hundert Meter vom Fluss entfernt am Wegrand steht. Die Prinzessin hört das Wiehern eines Pferdes. Ihr junger Befreier schiebt die Stalltür auf und verschwindet. Kurz darauf kehrt er zurück. Er führt ein herrliches schwarzes Pferd heraus.

»Kannst du reiten?«, fragt er.

Sie schüttelt den Kopf. Soweit sie sich erinnern kann, hat sie noch nie auf einem Pferd gesessen. Und dennoch schwingt sie sich auf den Rücken des Tieres, als hätte sie ihr Leben lang nichts anderes getan. Sanft streichelt sie dem Pferd über den Hals. Das Tier wiehert leise, als wolle es sie willkommen heißen. Als sie sich umblickt, ist der Wachposten weg.

Aus dem Stall ertönt das Wiehern eines zweiten Pferdes. Kurz darauf ist der junge Mann wieder da. Im Handumdrehen sitzt auch er im Sattel und gibt seinem Pferd kräftig die Sporen.

»Los!«

Das lässt sich Prinzessin Alexandra nicht zweimal sagen. Zusammen reiten die beiden durch Täler und über Berge, vorbei an Dörfern und größeren Siedlungen. Eine Bande Räuber will sie überfallen, aber sie können entkommen; die böse Stiefmutter schickt ihnen einen Trupp Männer hinterher, als sie erfährt, wohin Prinzessin Alexandra unterwegs ist. Mehrmals entkommen sie nur knapp, der junge Wachposten, der sich in Prinzessin Alexandra verliebt hat und Martin heißt, wird bei einem Kampf verwundet, aber auch die listigsten Hinterhalte können das Paar nicht aufhalten.

Endlich gelangen sie in das Reich von Prinzessin Alexandras Vater. Die böse Stiefmutter hat ein falsches Gerücht verbreiten lassen, wonach Martin den Thron begehrt und den König umbringen will. Die Ritter des Königs nehmen das Paar gefangen und werfen es in den Kerker. Beide werden zum Tod verurteilt. Aber als der König der Hinrichtung beiwohnt, erkennt er seine Tochter, der Zauber löst sich, und die beiden fallen sich glücklich in die Arme.

Der Tag, der um ein Haar den Tod der Prinzessin besiegelt hätte, wird zum Freudentag und später zum neuen Nationalfeiertag des Reiches. Am Abend beginnt im Schloss ein großes Fest, mit zahllosen Luftballons und viel Eiscreme.

Ganz besonders freut sich die Prinzessin, dass sich nicht nur der Zauber gegen ihren Vater aufgelöst hat, sondern auch der, der den lieben Hund in einen Regenwurm verwandelt hat. Der sprechende Hund weicht von nun an seiner Herrin nicht mehr von der Seite. Am selben Abend verloben sich Martin und Prinzessin Alexandra. Eine neue Ära hat begonnen, eine Ära voller Frieden und Glück.

Das Abenteuer endet damit, dass die Prinzessin ihren Vater, den König, fragt: »Bleibe ich jetzt bei dir?«

»Ja«, antwortet der König.

»Für immer?«

»Für...