Wenn der Sommer stirbt - Roman

von: C. L. Wilson

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2015

ISBN: 9783732507191 , 415 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Wenn der Sommer stirbt - Roman


 

Kapitel 14


Die Gnade der Berge


Warme Sonnenstrahlen fielen Chamsin ins Gesicht und weckten das vertraute, belebende Kribbeln von Magie in ihren Adern. Sie war noch gänzlich versunken in wohlige Träume. Ihr Zuhause in Sommergrund. Ihr Bruder Milan hatte sich in den Himmelsgarten geschlichen, um spielerische Schwertkämpfe mit ihr auszutragen. Er …

Schlaftrunken drehte sie sich um. Sie wollte noch nicht ins Bewusstsein zurückkehren. Doch der Traum verblasste trotz ihrer angestrengten Bemühungen, ihn festzuhalten.

Chamsin reckte sich – und atmete zischend ein, als Schmerz wie ein Dutzend winziger Nadelstiche in ihren Unterleib fuhr. Blinzelnd öffnete sie die Augen. Sie starrte auf den Baldachin aus silberblauem Satin über sich und setzte sich auf.

Sie befand sich in ihren Gemächern in Gildenheim, ihrer neuen Heimat, dem Palast ihres Gemahls Wynter Atrialan, des Königs von Winterfels. Sie konnte spüren, dass die Sonne hoch am Himmel stand. Verwirrt runzelte sie die Stirn. Es war bereits Mittag, und sie lag immer noch im Bett?

Das Flüstern von Stoff und ein kühler Lufthauch veranlassten sie, zur Tür des Schlafzimmers zu blicken. Lady Galacia Frey betrat den Raum.

»Ah, Ihr seid endlich aufgewacht! Gut. Wie fühlt Ihr Euch?«, erkundigte sich die Hohepriesterin der Wyrn kühl.

Cham hob verwundert die Brauen. Wie sie sich fühlte?

»Ihr habt ziemlich viel Blut verloren. Das und die heilenden Kräuter, die ich Euch verabreicht habe, könnten bewirken, dass Ihr Euch noch ein wenig … desorientiert fühlt.«

Allmählich kehrte die Erinnerung zurück. Der Besuch in Konundal. Grausame, krampfartige Schmerzen. Leuchtend rotes Blut, so viel, dass es die Luft mit seinem süßlichen, metallischen Gestank erfüllte. Ihre eigenen heiseren Schreie, als sie sich vor Pein gekrümmt hatte. Das Gefühl, dass ihr Leib innerlich zerriss.

»Ihr hattet sehr viel Glück, Sommerländerin! Wynter war so geistesgegenwärtig, Euch schnellstens in den Palast zurückzubringen, und er hat dafür gesorgt, dass ich bereits alarmiert war und Euch erwartete. Hätte er das nicht getan – und wenn Eure eigene von der Sonne gespeiste Macht nicht so hart dafür gekämpft hätte, Euch zu heilen –, dann wärt Ihr nicht mehr am Leben.«

»Was ist passiert?«

»Ihr wurdet vergiftet«, antwortete Lady Frey mit einem kleinen, eleganten Schulterzucken. »Eine der Schankfrauen der Taverne unten im Dorf hat gestanden, Euch Jungfernröte ins Essen gemischt zu haben, ein Kraut, das hier bei uns heimisch ist. Sie hat ihren Ehemann, ihren Vater und drei ihrer Brüder im Krieg zwischen Sommergrund und Winterfels verloren. Und als sie Eure Bemerkung hörte, Sommergrund habe stärker unter dem Krieg gelitten als Winterfels, verwandelte sich ihr Kummer in Wahnsinn.«

»Sie hat versucht, mich umzubringen?«

»Jungfernröte ist normalerweise nicht tödlich. Es beschleunigt den Pulsschlag und verdünnt das Blut, das dann viel schneller durch die Adern fließt. So verleiht es den Damen, die das Kraut einnehmen, anmutig gerötete Wangen – daher der Name. In größerer Dosis wirkt es als Brechmittel, und die Frau behauptet, sie habe nur gewollt, dass Euch übel wird. Allerdings muss sie weit großzügiger damit umgegangen sein, als sie zugibt. Denn als Ihr bei der Festnahme dieses diebischen Waisenjungen im Gerangel am Bauch getroffen wurdet, muss er mit seinem Tritt ein Blutgefäß in Eurem Schoß verletzt haben – und durch die Jungfernröte in Eurem Kreislauf bekamt Ihr starke Blutungen. Glücklicherweise hat Wynter Euer Blut mit seinem magischen Eisblick abgekühlt und so Euren Herzschlag verlangsamt. Sonst wärt Ihr verblutet, bevor ich die Ursache Eurer Erkrankung bestimmen und Euch ein Gegenmittel hätte verabreichen können.«

»Wo ist Wynter jetzt?«

Lady Frey wandte sich zu einem kleinen Nachttisch, auf dem mehrere kleine Fläschchen standen. »Er kümmert sich um wichtige Staatsangelegenheiten.« Sie entkorkte eine silberblaue Flasche und goss einen dünnen Strahl einer Flüssigkeit in ein Kristallglas, dann fügte sie eine hellgrüne Flüssigkeit aus einer kleinen grünen Phiole und ein Pulver aus einem dritten, verschlossenen Töpfchen hinzu. Sie verrührte das Gebräu mit einem langen, dünnen Silberstab, dann reichte sie es Chamsin. »Hier! Trinkt das. Es ist ein Stärkungsmittel, das Euch helfen wird, wieder zu Kräften zu kommen. Trinkt!«, wiederholte sie, als Chamsin zögerte. Ein Lächeln spielte um Lady Freys blasse Lippen. »Es ist kein Gift, das verspreche ich.«

Cham nahm das Glas und schnupperte verhalten daran. Es roch nach Eisenkraut und nach etwas anderem, das sie nicht erkannte. Zu dem Schluss kommend, dass sie bereits tot wäre, falls Lady Frey ihr tatsächlich übelwollte, setzte sie das Glas an die Lippen und trank. Die Flüssigkeit hatte die leicht eingedickte Konsistenz von warmem Honig und einen scharfen Nachgeschmack, den das zitronige Aroma des Eisenkrauts nicht überdecken konnte. Sie verzog das Gesicht und gab Lady Frey das Glas zurück.

»Gift vielleicht nicht, aber ich denke, das nächste Mal nehme ich einfach nur Brühe oder borgan.« Ihr Magen zog sich bei dem Gedanken an das hiesige Gericht aus unterschiedlichen Fleischsorten, Zwiebeln und Beeren schmerzhaft zusammen.

Die Priesterin lachte leise. »Wynter ist von meinen Tränken auch nicht begeistert. Wenn etwas nicht geschlachtet und gebraten werden kann, will er nichts davon wissen.«

»Hört sich gut an.« Chamsin setzte sich auf und schlug die Bettdecke zurück. Ein Schwindelanfall brachte sie ins Wanken, doch sie kämpfte ihn nieder.

»Wo wollt Ihr denn hin?«

Überrascht sah sie die Priesterin an. »Ich bin wach. Ich stehe auf.«

»Auf gar keinen Fall! Ich verbiete es. Ihr wärt beinahe verblutet. Tatsächlich blutet Ihr noch immer, und das wahrscheinlich noch ein oder zwei Wochen lang, bis Euer Schoß wieder geheilt ist. Ihr habt zwei Tage lang keine Nahrung zu Euch gen…«

»Zwei Tage?!«, rief Cham aus.

Lady Frey verzog ungeduldig das Gesicht, erklärte dann aber: »Es war lebensnotwendig, dass Ihr so reglos wie möglich bliebt, während wir versucht haben, den Blutverlust zu stillen, deshalb habe ich Euch neben dem Gegenmittel auch noch ein Schlafmittel verabreicht. Ihr seid nur deshalb wach, weil die schlimmste Blutung überstanden ist und weil ich es nicht wagte, Euch noch länger ohne Nahrung zu belassen. Ihr bleibt, wo Ihr seid. Ihr verlasst dieses Bett noch mindestens einen weiteren Tag lang nicht.« Sie wandte den Kopf und bellte einen Befehl über die Schulter. »Junge!«

Ein kleiner, weißblonder Kopf lugte zur Tür herein.

»Ist die Zofe der Königin schon aus der Küche zurückgekommen?«

»Nein, Ma’am. Noch nicht.«

Cham starrte das Kind an. Etwas an ihm kam ihr bekannt vor. Der Junge warf einen schüchternen, zögernden Blick in ihre Richtung, und als seine silberblauen Augen ihren begegneten, dämmerte die Erinnerung. Der Junge. Der kleine Taschendieb vom Festplatz in Konundal, dem Dorf am Fuß des Berges von Gildenheim. Wie war noch gleich sein Name?

»Krysti?«

Der Junge schrak zusammen, als wäre soeben ein Gespenst mit lautem »Buh!« aus dem Bett gesprungen, dann machte er hastig eine ungelenke Verbeugung. »Euer Gnaden.«

Jemand hatte ihn von Kopf bis Fuß saubergeschrubbt und seine schäbigen Lumpen durch makellose, gut geschnittene Kleider ersetzt. Sein Gesicht war klein und schmal, mit einem spitzen Kinn, geschwungenen Augenbrauen und silbergrauen Sommersprossen, die wie verstreute Schneeflocken auf seinem Nasenrücken tanzten. Seine Augen standen schräg, und die Ohren, die aus den dichten, hellen Zotteln auf seinem Kopf ragten, liefen leicht spitz zu. Würde sich ein Schneefuchs in einen Jungen verwandeln, dann, dachte Cham, würde er genau wie Krysti aussehen.

»Es überrascht mich, dich hier zu sehen«, sagte sie.

Das Kind zuckte die Achseln und schnitt eine Grimasse. »Ist ja nicht so, als hätte ich eine Wahl gehabt. Lord Valik hat mich hergebracht, um mich zu verhören, an dem Tag, an dem Ihr … An dem Tag, an dem Ihr krank wurdet.«

»Aber er hat dich inzwischen gehen lassen. Du bist nicht in Ketten, und ganz offensichtlich hat sich jemand um dich gekümmert.« Sie deutete auf seine sauberen Kleider und das ordentliche Haar.

»Als sie das mit dem Gift herausgefunden hatten, haben sie mich gehen lassen.«

»Und dennoch bist du immer noch hier. Ich bin sicher, du hättest davonlaufen können, wenn du gewollt hättest. Warum hast du es nicht getan?«

»Ihr habt gesagt, dass ich Euch ein Jahr lang meine Dienste schulde. Der König hat befohlen, dass ich bleibe, um meine Schuld abzuleisten.« Krysti ließ den Kopf hängen und starrte intensiv hinunter auf seine Hände. Er hatte die Finger so fest ineinander verschlungen, dass die Knöchel weiß hervortraten. »Ich hätte den Schleuderbogen nicht stehlen sollen. So haben meine Eltern mich nicht erzogen. Sie waren ehrliche Leute. Ich habe ihn nur genommen, weil ich Hunger hatte! Mit meinen Fallen habe ich nicht viel gefangen, also dachte ich, mit einem Schleuderbogen könnte ich mehr Glück haben.« Er hob den Blick und sah sie aufrichtig an. »Ehrlich.«

»Ich glaube dir. Aber da du nun, wie es scheint, in meinen Diensten stehst, muss ich dich warnen: In Zukunft werde ich Diebstahl nicht dulden. Ist das klar? Du bist ein Page der neuen Königin von Winterfels. Dein Verhalten fällt...